Stilkritik (104) | Allseits einsehbare Balkone sind als privater Wohnraum an sich ja schon nicht ideal. Balkone aber, statt sie übereinander anzubringen, gegeneinander versetzt auf der Fassade zu verteilen, nimmt ihnen auch noch den letzten Rest Privatheit. Gerne werden sie dann – leicht herstell- und vermarktbar – als Zuschauerpodium für das gesellschaftliche Leben, gar als Bühne angepriesen. Man darf das zynisch nennen. Sicher haben wir alle nichts zu verbergen. Vielleicht müssen wir aber auch nicht alles teilen.
Es gibt Menschen, die zwar einen Balkon haben, um ein wenig Abendsonne zu genießen oder ein gutes Buch in frischer Brise zu lesen, die aber trotzdem lieber in den Park gehen. Denn ihr Freisitz ist so gut einsehbar – und vor allem von den falschen Leuten –, dass wirkliche Entspannung noch eher in der Anonymität des öffentlichen Raums zu erwarten ist als unter Beobachtung und unter dem Eindruck diverser Tätigkeiten in der Nachbarschaft. Das muss gar nicht an der Nachbarschaft selbst liegen, sondern wurzelt mitunter im alten Missverständnis, der Wohnungsbalkon sei grundsätzlich ein öffentlicher Ort, zur Teilhabe, Kontaktaufnahme und Selbstinszenierung gedacht und gemacht. Doch: Der Balkon ist grundsätzlich und vor allem einmal ein Stück Privatraum – nur eben im Freien.
»Komm,« spricht Palmström, »Kamerad, –
Wie unschön also, diesen für ein wenig Entspannung kaum nutzen zu können, weil die Baulichkeiten nichts anderes als einen öffentlichen Auftritt zulassen. Verschärft etwa durch ein Verbot, die durchlässigen, von den Planern so elegant und filigran imaginierten Brüstungen mit Sichtschutzmaterial zu verhängen. Noch schlimmer, wenn dieselben Planer in vermeintlich bester Absicht die Balkone versetzt zueinander vor die Fassade gehängt haben, wahlweise im schönsten Schachbrettrhythmus oder womöglich ganz frei verteilt, sodass man sich völlig unverstellt von oben in die Kaffeetasse schauen lassen kann.
Was zunächst wie ein modischer Gag des anbrechenden neuen Jahrtausends erschien, lässt sich offenbar nicht mehr aus der Welt schaffen. Das Phänomen „auf der Fassade tanzender“ Balkone geistert mit ungebrochener Energie durch die Wohngebiete und verlangt nach einem Menschentypus, der nicht nur im virtuellen, sondern auch im physischen Raum nichts dabei findet, permanent ungeschützt öffentlich zu sein. Gehören Sie dazu?

Wohnungsbau in Nürnberg (Bild: Blauwerk )
Dass es wirtschaftlicher ist, Wohnfläche im Außenraum mit tragenden Wärmedämmelementen herzustellen als mit Stützen, gar Wänden, am Ende auch noch massiven Brüstungen – geschenkt. Dass man den Bewohnern aber vorgaukelt, die völlige Auflösung ihrer Privatheit sei ein erstrebenswertes Gut – Frechheit!
Der Schluss liegt nahe, der Gestalter verschleiere mit der Aufgeregtheit lustig unaufgeräumter Balkonplatzierung sein Unvermögen, aus bravem Übereinanderstapeln von Funktionen ein schlüssiges Fassadenbild zu generieren. Ganz so simpel ist die Sache aber nicht. Aktuelles Beispiel: Selbst Blauwerk Architekten – bislang der gestalterischen Dürftigkeit unverdächtig – erlagen bei ihrem jüngsten Wohnungsbau in Nürnberg der Versuchung, ein wenig verspielten Schwung in die Kiste zu bringen.
Den Vogel schießt aber sicherlich Sou Fujimoto ab, wenn er zu seinem in Montpellier zusammen mit Nicolas Laisné Associés und Manal Rachdi Oxo Architects verwirklichten Wohnhochhaus »Arbre Blanc« verlauten lässt: »Man hört Stimmen von allen Seiten, springt von einem Ast zum anderen, die Bewohner führen ihre Gespräche über mehrere Äste hinweg. Das sind sehr bereichernde Momente, die durch das Wohnen in räumlicher Dichte ermöglicht werden.«
alles Feinste bleibt – privat!«
Ermöglicht, ja. Aber gewünscht? Wie angenehm wohnt es sich denn, wenn die Nachbarn von links unten zu denen rechts oben über den eigenen Balkon hinwegschreien? Bei der Überlegung, wer solcherlei Unsinn denn eigentlich mal in die Welt gesetzt hat, kommt man nicht an Bjarke Ingels und Julien De Smedt vorbei, die sich und ihre Arbeit spätestens 2005 mit den „VM Houses“ in Ørestad (Kopenhagen) in aller Munde zu bringen wussten. Das expressive Bild dreieckiger, spitzwinklig weit auskragender, lässig von der vollverglasten Fassade abgehängter Balkone (minimale Verschattung bei maximaler Auskragung!) ließ sich prächtig im öffentlichen Bewusstsein verankern, zumal die Werbekampagne neben beeindruckenden Fotos gleich eine Wolke wohlfeil formulierter Sozialromantik mitlieferte. Damals schon wurde von einer vertikalen Hinterhof-Gemeinschaft geträumt, man bejubelte die direkten Verbindungen zu den Nachbarn zehn Meter weit hinauf und auch hinab. Wie schön: alle Bewohner in der Beschau des Nachbarhochhauses traut vereint, unter fröhlichem Geschnatter aus 100 Wohneinheiten. Es bleibt aber die Frage, wie oft man in die Gemütsverfassung kommt, dort auf dem Präsentierteller Platz und am Geschnatter teilnehmen zu wollen.
Die in gebauten Wohnraum überführte Antithese steht direkt nebenan: Mit „The Mountain“ landete BIG drei Jahre später einen genialen Coup, mit uneinsehbaren, pflanzbekübelten, recht glücklich abstandsbegrünten Terrassen. Zwar mit nur etwa einem Drittel der Wohnungen auf dem etwa gleich großen Grundstück wie nebenan. Aber eben als echte Alternative zum unseligen Einfamilienhaus. Jeder für sich. Weitgehend ungestört.
Unbenommen: Diejenigen, die sich beim Hinaustreten auf den eigenen Wohnzimmerfortsatz freuen, den Nachbarn auf dem seinen zu entdecken, und die Gelegenheit prompt zum Schwatz nutzen – es gibt sie. Die Vorteile eines solch gedeihlichen Miteinanders liegen in Kopenhagen so sehr auf der Hand wie in Montpellier oder Nürnberg. Aber Zuneigung und räumliche Konstellation kommen selten so glücklich zusammen. Es genügt, sich vor Augen zu halten, zu welchen unserer zahlreichen Nachbarn wir den Kontakt suchen und welchen wir schon im Treppenhaus nicht gerne begegnen, und wie wenig wir deren Meinung, Tonfall oder Grillade als Bereicherung empfinden.
Architektur kann Freundschaft nicht erzwingen. Und es ist schlicht respektlos, Nutzern vorzuschreiben, an welcher Stelle ihres privaten Wohnraums das Private zurückzutreten und ein gewisses Maß an Öffentlichkeit stattzufinden habe.

In den 1960er Jahren beliebt und bis heute begehrt: terrassierte Häuser, die mit üppigen Pflanztrögen auf Balkonen und Terrassen Privatheit garantierten konnten. (Bild: Ursula Baus)
Nur wenige, die einen Balkon betreten, suchen ernsthaft die Öffentlichkeit – mitunter tragen sie die Bürde königlicher Familienzugehörigkeit oder haben politisch Brisantes zu verkünden.
Die meisten wollen auf ihrem Balkon aber einfach nur gemütlich eine rauchen oder unter Vogelgezwitscher ein Stück Erdbeerkuchen genießen. Der Balkon ist Teil des Privatbereichs und somit genauso Rückzugsraum, mitunter sogar regelrechter Schutzraum wie der Rest der unverletzlichen Wohnung. Wer diese schlichte Wahrheit in seinen Entwürfen nicht zu respektieren versteht, erntet dafür im besten Fall Bastmatten und Pace-Fahnen, ansonsten gerne Bierkisten und Unrat als Zeichen der Verachtung unbrauchbaren Wohnraums.