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Bald ist er rum, der Wahlkampf 2021, in dem eingedenk des volatilen, also wankelmütigen Wählerinnenverhaltens doch einiges auf dem Spiel steht. Manchem, der seine guten Beziehungen zu den Mächtigen (das sind Politikerinnen nun mal) in Gefahr sieht, wird es mulmig, und schon werden alte Feindbilder zwar beschworen, aber weichgezeichnet. Denn man weiß ja nie. Architektur- und stadtrelevante Themen seien angesprochen: Macht, Geld und Einfluss. Wohin kommt das Bauen?


Wahlomaten, Wahlprüfsteine, Faktenchecks, ein Triell nach dem andern und zu jedem dann viele Diskussionsrunden, Talkshows und Blitzumfragen – man mag nicht mehr hinhören und -sehen, denn es wiederholt sich zu viel, und es wird viel kommentiert. Gewiss ist es wichtig, in die Wahlprogramme zu schauen, Appelle zu verfassen, Notwendiges zur Sprache zu bringen.1) In dieser späten Phase des Wahlkampfes muss man jedoch schon an die Machtverteilung nach der Wahl denken und auf systemische Veränderungen in einer verunsicherten Demokratie schauen. Es ging zum Beispiel kürzlich in einer Gesprächsrunde des ANCB um ein eigenständiges Bauministerium, das in der endenden Legislaturperiode einfach mal dem Innenministerium (das auch die „Bau und Heimat“ hat) zugeschlagen worden war.2) Falk Jaeger sprach mit Gunther Adler (unter Horst Seehofer erst fürs Bauen zuständig, infolge der Causa Maaßen dann zum Chef der Autobahngesellschaft erkoren), Eva Hinkers (Geschäftsführerin von Arup Deutschland), Theresa Keilhacker (Präsidentin der Architektenkammer Berlin), Matthias Sauerbruch (Architekt) und Harald Welzer (Soziologe und Publizist).

Systemkritik? Pragmatismus?

Vorab beklagte Arno Lederer als agent provoquateur den deutschen Regulierungswahn, um auch mit grotesken Beispielen aus dem Sektor Baunormen die Absurdität des Ganzen zu illustrieren. Die Normen sind bauhistorisch dem industrieeuphorischen Bestreben von Neufert und seinesgleichen zu danken. Normen sind grundsätzlich sinnvoll, um mit kleinem Aufwand viel bewirken zu können. Doch gerade im Normenbereich haben privatwirtschaftliche Interessen anderes erreicht: Sie beeinflussen Normen mit Verve so, dass sie – die Bauindustrie – mit kleinem Aufwand viel verdient. Das System muss an dieser Stelle grundsätzlich geändert, das heißt revolutioniert werden. Lobby-Control sollte Entscheidungsbefugnisse bekommen.

In der ANCB-Debatte meldete sich unter anderem Reiner Nagel von der BSBK zu Wort, der ums Elend politischer Entscheidungsstrukturen weiß: „Erst findet sich die Koalition, dann werden die Ministerposten gebildet, und dann gibt es die Ressorts dazu. Das findet aber alles unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. (…) Wer wird Minister, und welches Ressort ist damit verbunden? (…) Damit ist ein Riesendilemma verbunden: (…) Eine Verwaltung kann sich mindestens eine halbe, wahrscheinlich eine ganze Legislaturperiode (…) damit beschäftigen: Wer sind wir? Und welche Dienstkräfte dürfen mit umziehen? (…) Ich spreche mich aber doch dafür aus, dass es ein eigenes Bauressort gibt. Wir hatten jetzt vier Jahre keinen Bauminister. (…) Und ein Staatssekretär hat kein Rederecht im Kabinett. (…) Und ich spreche mich dezidiert dafür aus, Terrain zu sichern.“ Damit ist man dann bei der traditionellen politischen Hackordnung. Wer entscheidend mit hacken will, muss auf den obersten Sprossen der Hühnerleiter sitzen.

Lobbyismus

Ganzseitige Anzeigen in deutschen Tageszeitungen 2021

Alle Macht der Lobbyisten

Der Einfluss derjenigen, die Eigeninteressen vertreten, ist seit Jahrzehnten gestiegen. Wie schädlich sich das Treiben von Lobbyisten auf gesamtgesellschaftlich zu behandelnde Themen auswirkt, haben wir schon oft beklagt (siehe Seitenspalte). Wirtschaftswachstumsideologien dominieren dabei leider immer noch die allermeisten Szenarien. Mühsam erkämpfte Begrenzungen der Bodenversiegelung werden beispielsweise ruckzuck aufgegeben, wenn ein Investor ein paar banale Wohnhäuser bauen will. Und Lobbyisten greifen alles auf, um neue Gewinnfelder durch neue Baugesetze absichern zu können. Unter anderem deswegen haben wir es in Deutschland mit einem Schlachtfeld von wirtschaftsbestimmter Überregulierung zu tun, die ich in einem anderen Beitrag genauer aufgreifen möchte.

Um konkret zu werden: Der Autoverkehr lässt weltweit Städte kollabieren und belastet den blauen Planeten immens. In Deutschland ist die Autoindustrie dermaßen mächtig, dass sie die Politik wie einen Bären am Nasenring durch die Arenen führen kann. Die Kanzlerin hat über 16 Jahre Autogipfel um Autogipfel organisiert. In Corona-Zeiten erhielt die Autoindustrie (deren Renditen 2020 zwischen 5,5 und 7,3 % lagen und im 1. Halbjahr 2021 auf 8,8 bis 14 % stiegen)3) 5 Milliarden Euro (und von Angela Merkel beim Autogipfel 2021 noch eine weitere Milliarde bis 2025). Im Vergleich die Kommunen: Der Bund trug – gemeinsam mit den Ländern – 2020 „einmalig und in pauschaler Form zur Kompensation der krisenbedingten Gewerbesteuermindereinnahmen der Kommunen in Höhe von 6,134 Mrd. Euro (gesamter Kompensationsbetrag unter Einbezug des Länderanteils: 10,968 Mrd. Euro) bei.“4) Kommunen sind Leidtragende: Mussten sie zunächst ihr Tafelsilber (Grund und Boden und Bauten) verscherbeln, reduzieren sie seit einiger Zeit sogar ihre eigentlichen Aufgaben. In Rheinland-Pfalz zahlen die Bürgerinnen dann beispielsweise Sonderbeiträge, wenn die Straßen vor ihrem Zuhause repariert werden. Weil diese Einzelbeiträge die Bürgerinnen verärgern, werden aufmerksamkeitsstrategisch seit kurzem statt Einmalzahlungen „regelmäßige Abgaben“ erhoben.5) Macht- und damit Steuerstrategiewechsel werden nach Jahrzehnten des Transfers öffentlicher Gelder in private Kassen nicht ohne systemische Korrekturen zu haben sein.

An ihren hochbezahlten Lobbyisten vorbei führt derweil Elon Musk mit Tesla die deutsche Autoindustrie am Nasenring durch die Branche, indem er in Berlin, neben dem BER, seine Elektroauto-Fabrik baut und Daimler und BMW eine lange Nase machen kann. Und dass die Chinesen im Fahrzeugbau den Weltmarkt erobern werden, weil die deutsche Autoindustrie das verpennt hat, sei nur nebenbei bemerkt.

Lindner_Bier

Wahlkampfprobleme 2021 (Bild: Wolfgang Bachmann)

Zugeschaltet: Harald Welzer, Soziologe, Sozialpsychologe und Publizist (Bild: ANCB)

Zugeschaltet: Harald Welzer, Soziologe, Sozialpsychologe und Publizist (Bild: ANCB)

Dichter, Denker, Intellektuelle?

Zurück zur ANCB-Debatte, die ausgehen musste wie das Hornberger Schießen. Vorgeschlagen wurde: statt Bauministerium ein Nachhaltigkeitsministerium; das Bauen im BMI lassen, weil dort die Verhandlungen im Kabinett am allerbesten gelingen; Ministerien übergreifend Umwelt und Digitalisierung organisieren, obwohl Ministerien nicht miteinander kommunizieren (siehe Hackordnung); im Ausland das Bauen propagieren, anlog zur Autoindustrie – und so weiter. Das Eigeninteresse der Baubranche sprang ein Mal mehr ins Auge. Die Architektenschaft weiß, wie’s geht, aber keiner weiß ihr kompetentes Engagement zu nutzen – so lautete auch ein immer wieder aufscheinendes Selbstmitleid.

BDA-Geschäftsführer Thomas Welter möchte "ein Ministerium für Wirtschaft, nachhaltiges Planen und Bauen und Energie". (Bild: ANCB)

BDA-Geschäftsführer Thomas Welter möchte „ein Ministerium für Wirtschaft, nachhaltiges Planen und Bauen und Energie“ und läuft sich bislang „die Hacken wund“. (Bild: ANCB)

Thomas Welter (BDA Geschäftsführer) erklärte, warum das so ist, und aus pragmatischen Gründen brauche man „ein Ministerium für Wirtschaft, nachhaltiges Planen und Bauen und Energie. Warum? Das Vergaberecht liegt im Wirtschaftsministerium, die KfW-Förderung liegt im Wirtschaftsministerium, die Außenwirtschaftsförderung liegt im Wirtschaftsministerium – so viele Bereiche, die das Bauen betrifft, sind ja schon im Wirtschaftsministerium. Und als Verbandsfuzzi lauf ich mir immer die Hacken wund, weil jeder sich zuständig und nicht zuständig fühlt. Ich muss ganz explizit sagen: Die zwei Abteilungen, die im Innenministerium das Planen und Bauen begleiten, (…) leisten hervorragende Arbeit, nur: Sie sind für fast nichts mehr zuständig. Und das ist ja unserer großes Problem. Das heißt, wir brauchen wirklich ein starkes Bauministerium, nicht als singuläres, sondern gebunden mit den Themen.“

„Moderne Gesellschaften lösen keine Probleme, sie schaffen Institutionen.“

Michael Mönninger, nicht vom praktizierenden Architekturfach, meinte bei der ANCB-Debatte aber, es sei ein „Irrglaube, dass man mit einem Ministerium eine Sache in Gang kriegt.“ Er plädierte vielmehr für kommunale Ansätze, ähnlich, wie sie die Bauingenieurin Lamia Messari-Becker in der Süddeutschen Zeitung kürzlich vorschlug. Und Harald Welzer (zugeschaltet), der vom Bauen wenig versteht, aber von den systemischen Haken und Ösen egal welcher Branchen um so mehr, sprach gleich von einer „Kulturrevolution“ und wer sie denn tragen solle – vor dem Hintergrund, dass „niemals auch nur in Spurenelementen das Primat der Ökonomie infrage gestellt“ werde?
Im Ganzen ließe sich zusammenfassen: Die Sachlagen und Notwendigkeiten erfordern völlig neue politische Zuständigkeiten – de facto reden aber Mitarbeiterinnen eines Ressorts prinzipiell nicht mit denen anderer Ressorts, und die Kollegen aus einem Ministerium nur wenn’s sein muss mit denen eines anderen. Die administrative Struktur, so Harald Welzer, sei für alte Ziele geeignet gewesen, in die Problemlage der Gegenwart passe sie nicht. Nach Luhmannscher Systemtheorie gesagt: Für Bürokratieabbau werde Bürokratie nicht abgebaut, sondern Herr Stoiber nach Brüssel geschickt. „Moderne Gesellschaften lösen keine Probleme, sie schaffen Institutionen.“

So ist leider zu befürchten, dass ein Wechsel im politischen Machtgefüge aufgrund der kurzen Wahlperioden keine Verhältnisse leviathanischer Art ändert. Könnte eine andere Wichtung der Einflüsse auf die Mächtigen Wirkungskraft entwickeln? Aus der Wirtschaft ist eine gesamtgesellschaftliche Änderung von Prioritäten auf keinen Fall zu erwarten. Aus der parteipolitisch verkrusteten Politik per se auch nicht. Und wurde im Kanzlerinnenamt je zu einem Intellektuellengipfel eingeladen? Es wird bunter in der Republik, und das wird ihr nicht schaden. Das Bauen als baukulturell dominiertes Metier findet im Gefüge aus Lobbyisten, Parteien und einer erstarrten Administration aber bis auf weiteres leider keinen Platz mehr.

Das Bauen könnte viemehr als zivilgesellschaftliches Projekt begriffen werden, das allerdings nur mit einer adäquat gestärkten, von Bürokratie befreiten Verwaltung gelingen kann, die sich primär um eine perfekte, nachhaltig ökologisch verantwortbare Infrastruktur kümmern müsste.


1) Pars pro toto sei eine Initiative genannt, welche zur systemrelevanten „Bodenfrage“ konkrete Vorschläge macht: Informationen dazu bei https://dasl.de/2018/11/26/ausschuss-bodenpolitik/