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Die 68er – war’s das?


Abschiede und neue Öffentlichkeiten: Es rumort zum Fünfzigsten der 68er. Zwei „68er“ der Architekturszene hielten gerade ihre Abschiedsvorlesungen: im November 2017 Werner Durth in Darmstadt, Ende Januar 2018 Gerd de Bruyn in Stuttgart. Beide sind Leiter des igma der Universität Stuttgart gewesen, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Und sie hinterlassen ein Erbe, das es für veränderte Öffentlichkeiten und digital natives zu analysieren und in den Nachfolgen zu sichern gilt.


Werner Durth am 29. 11. 2017 in Darmstadt (Bild: Claus Voelker); rechts: Gerd de Bruyn mit Markus Allmann am 31. 1. 2018 in Stuttgart
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Zwei bedeutende Lehrstühle wurden vakant: Für das renommierte Institut für Geschichte und Theorie der Architektur war eine mikrige W2-Professur als Nachfolge ausgeschrieben. Das legendäre igma (Institut für Grundlagen moderner Architektur) wird ab dem 1. April 2018 von Stephan Trüby geleitet.

Darmstadt, die Erste

Es war wie an einem Filmset. Die Story: Abschiedsvorlesung von Werner Durth. Die Kulisse: ein riesiger Hörsaal, bis auf den letzten Platz besetzt. Der Sound: die sphärischen Klänge von Jim Morrison und den Doors, etwas Janis Joplin, dazu einige Takte von Jimi Hendrix. Das Skript: Figuren der deutschen Nachkriegsgeschichte: Karl Gruber, Max Guther, Theo Pabst, Ernst Neufert, Günter Behnisch. Zwischendurch Bilder von langhaarigen Studenten an Demonstrationen und Protestkundgebungen, bunte Plattencover, dann abermals der Sound von Jimi Hendrix. Die Bildmacht der 1960er-Jahre hätte nicht schöner veranschaulicht werden können. Und zum Schluss wehte tatsächlich ein Hauch von 1968 durch das Audimax der TU Darmstadt.

Werner Durth (im roten Kreis) demonstrierte damals gegen die Stadtzerstörung in Darmstadt. (Bild: privat)

„Rebellion und Reflexion. 1967ff“

– der geschickt gewählte Titel seines Vortrags ließ erahnen, dass es an diesem Abend nicht um ein anonymes Stück Wissenschaft, sondern auch um ein gelebtes Kapitel der eigenen Geschichte gehen sollte – einer Geschichte, die in Darmstadt begann und erfolgreich endete: Hier fing der junge Durth 1967 an, Architektur und Stadtplanung zu studieren, hier beendete er 2017 seine aktive akademische Laufbahn als emeritierter Professor für Architekturgeschichte, viele Bücher, Forschungsprojekte, Wettbewerbe, Professuren und Auszeichnungen später. Der Abend war dementsprechend als eine dreifache Hommage konzipiert: an die Epoche der 1960er-Jahre, den intellektuellen Standort Darmstadt und an Werner Durth selbst. Dass dieser in seinem Vortrag immer wieder die Erzählperspektive wechselte, seine Rolle als Historiker mitunter verließ und mal hier und mal dort als sein eigener Zeitzeuge auftrat, sich auf diese Weise also auch selbst historisierte, gehörte zum Konzept der Abschiedsvorlesung. Der Vortrag war wie ein monumentales Vexierspiel zwischen Selbst- und Geschichtsschreibung aufgebaut. Am Ende hatte Werner Durth das Publikum anhand einer sorgfältig arrangierten Erzählung durch „seine“ Jahre 1967-72 geführt. Und schloss mit den knappen Worten „Das war‘s…“. (1)

Werner Durth am 29. November 2017 in Darmstadt – mit einer Jimi Hendrix-Einlage (Bild: Claus Voelker)

Werner Durth am 29. November 2017 in Darmstadt – mit einer Jimi Hendrix-Einlage (Bild: Claus Voelker)

68er und Geschichte

Doch war’s das wirklich? Lange galt die Epoche der 68er für die Architekturentwicklung als historische Hauptreferenz. Damals ging es um die Neugestaltung von Öffentlichkeit und Gesellschaft und damit auch um die Neuerfindung der Architektur. Doch die einst so charmant wirkenden Rebellionsgesten, der politische Aktionismus und die medientechnische Expansion der Sinne und des Körpers, ja selbst die Sprache – sie wirken heute verstaubt und gemessen an der Komplexität unserer Gegenwart auch seltsam ungefährlich. Die Zeiten ändern sich nunmal. So sehr wir die Erzählungen dieser Epoche auch lieben: müssen wir uns nicht langsam eingestehen, dass sie in der Frage, wie wir uns aus Neoliberalismus und Big Data befreien könnten, nicht richtig weiterhelfen? Heute, fünfzig Jahre später versuchen einige Protagonisten von 1968 noch immer, sich kultmäßig zu stilisieren. Das wirkt nicht nur antiquiert, sondern beraubt sie sich selbst ihrer vertrauten Orientierungsfunktion für die Gegenwart. Keine politische Bewegung sei so auf ihre eigenen Mythen und Klischees hereingefallen, wie die 1968er, behauptet jedenfalls der Schriftsteller Friedrich Christian Delius (Jahrgang 43, also selber ein 68er).

An der TU Braunschweig zeigten aufmüpfige Ideen später als anderorts Wirkung. 1972 sah sich die Professorenschaft (u. a. Hansmartin Bruckmann, Konrad Hecht, Walter Henn ...) zu einer "Charta" genötigt, die sogar in der Zeitschrift werk veröffentlicht wurde. (Bild: Archiv Dechau)

An der TU Braunschweig zeigten aufmüpfige Ideen später als anderorts Wirkung. 1972 sah sich die Professorenschaft (u. a. Hansmartin Bruckmann, Konrad Hecht, Walter Henn …) zu einer „Charta“ genötigt, die sogar in der Zeitschrift werk veröffentlicht wurde. (Bild: Archiv Dechau)

In der Architektur ging alles später los, wenn überhaupt. Die derzeit Reaktionär-Konservativen in der Architektur sind also „verspätete“ 68er; in Braunschweig, Darmstadt, Aachen ging die Sache erst Jahre später los. Ein hartes Urteil, das jedoch offenbart, wie wichtig es ist, selbst vertraute Erzählschablonen stets von Neuem zu hinterfragen: Was ist aus all den einstigen Idealen der Linken geworden – dem kritischen Denken, dem politischen Bewusstsein, den rebellischen Absichten und der Provokation? Was gilt davon inzwischen als antiquiert oder obsolet? Welche Ideale haben sich erhalten, wenngleich auch in anderen politischen Kontexten und unter veränderten Vorzeichen? Was könnte demnach überhaupt als ein intellektuelles Erbe dieser Jahre bezeichnet werden?

1968 als Studentenzeitschrift in Stuttgart gegründet: Archplus

1968 als Studentenzeitschrift in Stuttgart gegründet: Archplus

Historisierungen

Die 1968er-Bewegungen haben es geschafft, so stark medial ritualisierte Selbstbeschreibungen hervorzubringen, dass diese wie ein romantisierendes Antiserum wirken. Die Geschichte von 1968 ist daher immer auch eine Geschichte der Idealisierung von Geschichte selbst. Einigen wir uns daher zunächst darauf, dass sich in den 1960er-Jahre vor allem eines entwickelte: eine gewaltige Kritikwelle an den bestehenden Verhältnissen der deutschen Nachkriegsgesellschaft in jeder nur erdenklichen Beziehung. Nichts schien mehr heilig: Religion, Recht, Tradition, Tugend, Wissenschaftlichkeit, beinahe alles galt plötzlich als verhandelbar und damit als veränderbar. In diesem Moment des Aufbrechens wird der rebellische Moment verortet. Doch anstatt hier gleich von einem Epochenumbruch auszugehen, schlägt beispielsweise der Soziologe Armin Nassehi (*1960) vor, lieber von einem Biographiegenerator zu sprechen, also von einem Anlass, der hilft, die eigene Geschichte besser zu verstehen und immer wieder neu zu schreiben.
Streng genommen ist bereits die stellvertretend für ein ganzes Jahrzehnt verwendete Zahl 1968 – oder auch 1967 – schwierig, wird doch dadurch der Eindruck vermittelt, als hätte man es hier mit einer geschlossenen, homogenen Bewegung zu tun. Im Gegenteil. Es gab weder einen offiziellen Gründungsakt, noch ein einzelnes, in sich kohärentes Theoriegerüst, an dem man sich orientierte.

Werner Durth, 29. November 2017 (Bild: Claus Voelker)

Werner Durth, 29. November 2017 (Bild: Claus Voelker)

Neu erschienen: Werner Durths "Biographie in Bildern" mit Skizzen aus fünf Jahrzehnten

Neu erschienen: Werner Durths „Biographie in Bildern“ mit Skizzen aus fünf Jahrzehnten

Die Dynamik dieser Zeit entstand vielmehr aus verstreuten intellektuellen Suchbewegungen, von denen einige mal größere, mal kleinere Radikalisierungsschübe auslösten. Die hohe Geschwindigkeit, mit der diverse Formen von Theorie aufgegriffen, durchgearbeitet, politisch abgeglichen und wieder verworfen wurden, prägte das Denken dieser Zeit womöglich mehr, als es eine einzelne Theorie jemals hätte bewirken können. Vermeintliche Theorien verwandelten sich vielmehr zu politischen Durchlauferhitzern, davon zeugt die aktuelle Rezeptionsforschung sowohl der einschlägigen Schriften zum Marxismus, zur Frankfurter Schule oder auch zur Geschichte des kleinen subversiven Merve-Verlags aus West-Berlin.

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Gerd de Bryuns Begeisterung für das Motorradfahren gab die Bildvorlage für das Ankündigungsplakat seiner Abschiedsvorlesung her. (Bild: privat)

Stuttgart, die Zweite …

Gegen alles? Es lassen sich zumindest in Deutschland drei Grundimpulse benennen, die damals das systemkritische Denken bestimmten. Erstens der antifaschistische Impuls, mit dem sich leider nur wenige gegen das Schweigen zur nationalsozialistischen Vergangenheit richteten, insbesondere gegen die klammheimliche Übernahme von so genannten Altnazis in den aktuellen politischen Betrieb. Zweitens der antikapitalistische Impuls, mit dem einige sich gegen soziale Ungerechtigkeit und die zunehmende Ausbeutung des Menschen durch einflussreiche Wirtschaftssysteme richtete. Und schließlich drittens den antiimperialistischen Impuls, mit dem wenige im Sinne einer internationalen Solidaritätsgemeinschaft gegen die Unterwerfung bestimmter strukturschwacher Länder kämpften.

1806_68er_igma_facebookJeder Grundimpuls war für sich genommen schon ein ambitioniertes Vorhaben, für das geeignete Strukturen gebraucht werden. Mit der Bildungsexpansion seit den frühen 1960er-Jahren schlüpften unweigerlich die Hochschulen in eine neue Rolle, und ihre Institute verwandelten sich zu Drehscheiben des Diskurses und der Protestorganisation. Rudi Dutschke träumte gar davon, das ganze Land in eine Universität zu verwandeln. Denn das eigentliche Ziel war die Herstellung einer politisch bewussten Öffentlichkeit, von der man sich ein Korrektiv der demokratischen Kontrolle gegenüber dem so genannten politischen System versprach. Jürgen Habermas legte mit seiner Habilitationsschrift „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ dafür das intellektuelle Fundament, das Oskar Negt und Alexander Kluge mit „Öffentlichkeit und Erfahrung“ aufgriffen und weiterentwickelten. Denn ein Verlust der öffentlichen Gestaltungskraft, so Habermas, würde den innersten Kern des Politischen selbst treffen – beruhe doch das politische Handeln auf der „weltbildenden Fähigkeit des Menschen“ und seinem Wunsch, „in einem positiven Sinne frei“ zu sein, das heißt nach mehr zu verlangen als nur nach den sogenannten bürgerlichen und privaten Grundfreiheiten.

 

Kamingespräche auf den Fluren des KI in Stuttgart (Bild: igma)

In sucht Gerd de Bruyn viele Wege, um Studenten für mehr als das Entwerfen zu interessieren – hier als Moderator der „Kamingespräche“ auf den Fluren des KI in Stuttgart (Bild: igma) (2)

Andere Öffentlichkeiten

Als unverzichtbare Grundlage eines jeden demokratischen Systems gilt die Öffentlichkeit, die sowohl als politisches Kollektiv als auch politisches Korrektiv fungiert. Öffentlichkeit gilt als ein sozial und kulturell konstruierter, symbolischer Raum der Kommunikation und damit als eine der wertvollsten Grundlagen für Aufklärung und Demokratie. Öffentlichkeit ist jedoch kein universelles Prinzip, sondern ein zivilgesellschaftliches Ideal, dessen Wert für die Gesellschaft immer wieder neu ausgehandelt, bestimmt und hinterfragt werden muss.

Neu erschienen: Dokumentation des gemeinsamen Lehrprojektes von Gerd de Bruyn und Markus Allmann

Neu erschienen: Dokumentation des gemeinsamen Lehrprojektes von Gerd de Bruyn und Markus Allmann

Da Öffentlichkeit kein schon vorhandenes Ding bezeichnet, sondern vielmehr eine politische Forderung danach ist, dass Belange von gesellschaftlichem Interesse öffentlich werden, schlug Theodor W. Adorno in einem Gespräch mit Adolf Gehlen vor, Öffentlichkeit als einen sogenannten Funktionsbegriff zu verstehen, sie also „zu definieren, ohne sie zu definieren“. Das mag wieder nach einer intellektuellen Spielerei aus der Sprachschatulle von 1968 klingen. Doch wird hier deutlich, wo die grundsätzliche Schwierigkeit des Begriffs bis heute liegt, dass nämlich derjenige, der die Definitionshoheit für sich beansprucht, auch den Begriff von Öffentlichkeit propagieren und verbreiten kann, der nur ihm nutzt – und umkehrt. Öffentlichkeit besitzt also heute mit den social medias, facebook, twitter & Co eine performative Macht, die demjenigen nutzt, der sie politisch generiert und technisch steuert. (2) Entscheidend ist daher nicht nur zu untersuchen, wer Öffentlichkeit schafft – sondern auch, wie Öffentlichkeit medientechnisch geschaffen und entlang von welchen Narrativen sie inszeniert und ausgebaut wird.

Im Umkehrschluss zur philosophischen Sentenz, dass Architektur „gefrorene“ oder „erstarrte“ Musik sei, nahm sich Gerd de Bruyn vor, Architektur aufzutauen und spielte Händel, Beethovens „Les Adieux“, Mozarts Fantasie KV 475, den 3. Satz von Schumanns op. 17, Alexander Skrjabin, Gershwin und Garner. (Video: Wilfried Dechau)
Digitalisiertes Sein

Heute eröffnen die digitalen Sphären neue Freiräume der Meinungsäußerungen und des Diskurses, von denen die Generation der 1968er nur hätte träumen können. Längst geht es um die Diskussion von Gesellschaftsformen und soziale Existenzweisen, die ohne den Computer nicht mehr zu erzählen sein werden. Es ist, als seien all die kybernetischen Schaltbilder, Regelkreise und Kommunikationsdiagramme der 1960er-Jahre zum Leben erweckt worden; als sei technisch all das in Erfüllung gegangen, was man sich gewünscht hatte und von dem man sich so sicher war, dass es die operative Grundlage für eine vermeintlich demokratisch organisierte Netzwerkgesellschaft sein werde.
Gleichzeitig werden wir heute mit einem immer größeren Ausmaß an globaler Kommerzialisierung und Kontrolle konfrontiert. Inmitten dieser von Erosionsprozessen gekennzeichneten Situation lässt sich eine Tendenz zur einem kleingeistigen, anti-intellektuellen Politikstil beobachten, in dem die diskursive und schöpferische Gestaltungsmacht der politischen Praxis dabei ist, entweder durch einen verwaltungstechnischen Modus der nüchternen Problemreduzierung ersetzt oder durch blanken Populismus zerfressen zu werden.

Räume für Kritik

Doch wo können hier wieder neue Räume für gesellschaftliche Kritik entstehen, für politisches Denken und intellektuellen Scharfsinn? Wir sind wieder auf der Suche nach neuen Modellen des Zusammenlebens und der Gemeinschaft – diesmal jedoch in einer sich ständig synchronisierenden und aktualisierenden Datengesellschaft. Welche Rolle hierbei Geschichtlichkeit spielen wird und welche Formen von Theorie wir dafür brauchen, ist noch nicht geklärt. Fest steht: Diese Suche nach neuen Modellen der Gemeinschaft bietet einen vielversprechenden Ausgangspunkt, um an die gesellschaftlichen Ideale der 1960er-Jahre anzuknüpfen. Dieses Vorhaben kann jedoch nur gelingen, wenn wir akzeptieren, dass die sich selbstmythologisierte 1968er-Bewegung nicht mehr das Exklusivrecht für Kritik und Moral beanspruchen kann und somit auch auf die Deutungshoheit über ihre eigene Geschichte verzichtet.


(1) Werner Durths Text zum Thema „Rebellion und Reflexion. 1967-1972“ erschien in der Frankfurter Rundschau, 1. 12. 2017: http://www.fr.de/politik/zeitgeschichte/die68er/terrorismus-rebellion-und-reflexion-a-1398495,0#artpager-1398495-1

(2) „Kaminfeuer-Gespräche“ mit Gerd de Bruyn, Markus Allmann, Arno Lederer, Klaus Jan Philipp
Vor und Nachbilder: https://www.youtube.com/watch?v=cK95rk36jsQ
Neid: https://www.youtube.com/watch?v=E9EIeq2obL0
Nachhaltige Architektur: https://www.youtube.com/watch?v=CptsJ4lknyw
Die Hure Architektur: https://www.youtube.com/watch?v=RWLg-rAkBPM
Wie lernt man Architektur: https://www.youtube.com/watch?v=modW7xjVIE4
Phänomen 21: https://www.youtube.com/watch?v=rMle9Lihopo
Architektur macht Gefühl: https://www.youtube.com/watch?v=k1Vb0r6nspA