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Arata Isozaki (1931–2022)



Am 28. Dezember 2022 ist der große Architekt Arata Isozaki gestorben. Einer, der seinesgleichen sucht. Das Epitheton groß gebührt jenen Großen, die fähig sind, die Gegensätze und das Widerstrebende in sich aufzunehmen, die Fliehkräfte umzukehren und produktiv zu machen. Das war Isozaki.

Isozakis Werk ist sinnlich überwältigend und intellektuell fordernd wie wenig anderes und irritiert gerade deswegen. Es zeichnet sich dadurch aus, dass es weder einem Stil noch einem Modell künstlerischer Evolution folgte. Man kann weder von einem Jugendwerk noch von einem Alterswerk sprechen. Sein Werk lässt sich nicht in Phasen einteilen und ist dennoch alles andere als eklektisch oder erratisch. Frühe oder späte Werke wie die Präfekturbibliothek in Oita (1966), das Museum of Contemporary Art in Los Angeles (1986), die Nara Convention Hall (1998) oder das Qatar National Convention Center (2011) sind ohne formale Ähnlichkeiten und dennoch von einem Geist beseelt, der die Architektur Isozakis unverwechselbar macht.


Spannungsvolle Distanz


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Convention Center in Kitakyushu. (Bild: CC BY-SA 4.0; Javier Vives Rego)

Wenn man diesen Geist benennen wollte, und wenn es überhaupt etwas Japanisches gibt, das Isozaki auszeichnet, so ist es das Ma, die japanische Raum-Zeit Konzeption. Das ist die besondere Ferne-Nähe-Beziehung, der Raum des Zwischenraums, die „Lücke oder Öffnung zwischen zwei Dingen“, oder die Pause oder das Moment, in dem die Phänomene sich entfalten können. Oder Ma ist „Ort, an dem die Götter (Kami) zur Erde kommen“. Man glaubt in Isozakis Werken Formen zu sehen, was aber wirkt, das ist das Ma.

Ma bestimmte auch die Beziehung Isozaki zu seiner Umwelt. Isozaki hielt gleiche Distanz zum Establishment des Corporate Japan wie auch zur eigenen Profession, er war nie Professor an der Tokyo University oder anderswo. Er hätte es jederzeit werden können. Dazu gehört auch, dass ihn nicht Kritik, wie andere seiner Generation, sondern die spannungsvolle Distanz sein Verhältnis zur Moderne, zum Metabolismus, zur Postmoderne, zum Dekonstruktivismus und zur Geschichte der Architektur prägte. Dass er erst im Alter von 88 den Pritzkerpreis erhielt, dass die Jury sich lange gewunden hat, muss für ihn so bedeutungsvoll gewesen sein wie die Verleihung des Preises selbst.

Electric Labyrinth war Isozakis Beitrag für die Triennale di Milano von 1968. Dieses macht ihn schon in jungen Jahren außerhalb Japans bekannt. Das Electric Labyrith war nicht elektrisch, es bestand aus doppelt geschwungenen, s-förmigen Wänden, die mit fiktiven Bildern eines in der Zukunft ein zweites Mal zerstörten Hiroshima und mit japanischen Darstellungen von Geistern und Dämonen bedruckt waren. Sie konnten um die eigene Achse gedreht werden. Räume öffneten und schlossen sich, blieben aber gegeneinander durchlässig.

Hier setzte Isozaki seinem Verständnis des Raum-Zeit-Phänomens ein experimentelles Monument, dem er nach vielen Aufsätzen zu Stadt, Nation und Stil, zu Panoptikum und Archipel, zum Raum der Dunkelheit, zu Rumor City, zum Ende der Utopie und den unsichtbaren Städten gut vierzig Jahre später mit Japan-ness in Architecture ein Manifest in Buchform nachreichte.

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Modell der Gesamtanlage »Cluster in the Air«. (Bild: © DAM und Arata Isozaki / Foto: Uwe Dettmar)

1962 entwarf Isozaki Cluster in the Air, die Vision eines „Wohnbezirks in der Luft“, der abgehoben von der chaotischen städtischen Struktur über Tokyo schweben sollte. Von großen Pylonen getragen, verzweigte sich eine baumartige Struktur, an der kapselartige Wohnelemente eingehängt waren. Formal knüpfte er in verfremdender Anspielung an die auskragenden Holzstrukturen (sashi-hijiki) der großen Tempel wie dem Todai-ji Tempel (um 1199) in Nara an. Damit setzte sich Isozaki von der radikalen Ablösung der Geschichte, dem rein technizistischen Glauben an eine Zukunft durch die Metabolisten ab und zeigte deren ideologische Verhärtung, die wenige Jahre später auch zum Scheitern des Metabolismus führen würde. Wenn man den Begriff Metabolismus ernst nahm, so konnte die Idee der metabolistischen Transformation nicht nur eine Richtung in die Zukunft, sondern musste ebenso, in der ganzen Offenheit des Woher und des Wohin, eine historische Dimension haben.

Bezeichnend ist, dass Isozakis Karriere in gesuchter Distanz zum Zentrum, zu Tokyo, ihren Ausgang hat. Auf der Insel Kyushu, weit im Westen Japans, entstanden seine ersten Werke: das Fukuoka City Bank Building (1971), das Kunstmuseum (1974) und die Zentralbibliothek (1974) der Stadt Kitakyushu. Gerade einmal dreißig Jahre alt gelang ihm besonders mit dem Bankgebäude ein frühes Meisterwerk, das von der Geschichte der Architektur heute zu unrecht nicht mehr beachtet wird. Es gelang ihm in diesem Gebäude, in sinnlicher Exaltierung durch das Material, die Amalgamierung der unterschiedlichsten zeitgenössischen Ideen zu einem eigenständigen Werk.


Isozakis Befreiung von den Konventionen


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Präfekturbibliothek in Oitu. (Bild: Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0, MK Products)

Dass Isozaki seinen Weg erst finden musste, das zeigen das Medizinische Zentrum (1960) und die Präfekturbibliothek (1966) in Oita, seiner Geburtsstadt. Als betonbrutalistische Gebäude sind sie eine direkte Antwort auf das Trauma der Zerstörung der japanischen Städte durch die verheerenden Brände, die die intensiven Bombardierungen am Ende des 2. Weltkriegs ausgelöst hatten. Der japanische Betonbrutalismus war die Antwort darauf, was für Isozaki nicht lange befriedigend sein konnte. Besonders das Medizinische Zentrum ähnelte mehr einem Hochbunker und gebauten Trauma, weshalb es auch zurecht heute nicht mehr steht.

Der Horror vor der Zerstörung war das eine, der Horror vor der Leere das andere. „Als Junge von vierzehn Jahren sah ich mit eigenen Augen die Städte Japans bis auf den Erdboden niederbrennen. Als ich wie ein gejagtes Tier durch die einstürzenden Straßen rannte, entkam ich zwar den Brandbomben, aber nicht der auf die Bomben folgenden, totalen Zerstörung aller mir bekannten Dinge. […] Die Wirkung war traumatisch. Der Augenblick, als die Zeit stillstand, war wie eingebrannt in meine Netzhaut, und immer wenn ich vor einem leeren, weißen Blatt Zeichenpapier sitze, kehren die verbrannten Ruinen zurück.“ Die tabula rasa, die der Krieg hinterließ, physisch, intellektuell, moralisch, dass man an nichts für den Wiederaufbau anknüpfen konnte, war das Trauma, das Isozaki am nachdrücklichsten beeinflusst hat, verstärkt durch den Zweifel, dass die japanische Kultur, geprägt durch Shintoismus und Buddhismus, selbst kein Konzept für „Ruine“ hat. Wie tief das geht, zeigt sich darin, dass Isozaki in einem der vielen Begegnungen mit mir vom Akropolisneid der japanischen Architekten sprach.

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Allianz Tower in Mailand (Bild: Pexels/Roy)

Die Erkenntnis aber, dass „auch die Zukunft von Ruinen bestimmt würde“, wurde Isozaki zum zweiten prägenden Erweckungserlebnis: Es überleben die Bilder, nicht die gebaute Architektur. Fortan verfolgte Isozaki eine Architektur der Bilder. Bilder, das sind bei Isozaki immer räumlich, in denen Material und Konstruktion Medium des poetischen Ausdrucks sind. Viele seiner Gebäude wurden zu Wahrzeichen, wie das Museum of Contemporary Art in Los Angeles, der Mito Art Tower bis zum Allianz Tower (2015) in Mailand. Gerade mit ihm gelang Isozaki ein außerordentliches Hochhaus, das sich wie ein Bambusrohr im Wind wiegt. Ungewöhnlich sind die vier abgespreizten Stützen, auf die das Gebäude abgestützt zu sein scheint, wie ein junger Baum. Es zeigt sich darin Isozakis Souveränität über die Mittel der Architektur. Allein die Geste des Stützens verleiht dem Gebäude, wie in keinem anderen, seine unerhörte Leichtigkeit, fast schon Verletzlichkeit. Bilder.

Je länger man sich müht, desto mehr entziehen sich die Person wie auch die Architektur Isozakis den Worten. Das eindrücklichste Bild dieser außergewöhnlichen Persönlichkeit bleibt für mich Isozaki, in Saga auf der Insel Kyushu, sitzend in stoischer Ruhe auf Tatamimatten zwischen Studenten, Handwerkern und Schülern. Und, in Umschreibung eines Wortes Kants, mit nichts als dem gestirnten Himmel über ihm und dem moralischen Gesetz in ihm. Isozaki, Samurai und uomo universale, in dem alles magisch zusammenfloss, chinesischer Daoismus und griechischer Stoizismus, amerikanische Popart und italienische Renaissance.