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2022 waren es 25 Jahre, seit „Zwischenstadt“ von Thomas Sieverts erschienen ist. Das Buch gilt als eine der einflussreichsten Schriften für Städtebau, Stadt- und Regionalplanung der letzten Dekaden, mindestens im deutschsprachigen Raum. Dass das Buch aktuell geblieben ist, erstaunt höchstens auf den ersten Blick. Im Gegenteil, über die Zwischenstadt kann gerade heute nicht genug diskutiert werden. Das zeigt sich etwa auch beim Thema Arbeit.

Mit dem Buch „Zwischenstadt“ hat Thomas Sieverts die Entwicklungen außerhalb der Stadtzentren und dichten Stadtquartiere, das Zusammenwirken von optimierten sektoralen Eigenlogiken diskursfähig gemacht.(1) Einfamilienhausgebiete, Verkehrsplanung, Industrie, Gewerbe und Logistik, Ver- und Entsorgung, Landwirtschaft und Handel – damit diese Sektoren sich nach den eigenen Regeln entwickeln können, brauchen sie ausreichend Platz und Abstand voneinander. Dadurch aber erzeugen sie: Verkehr. Das lässt sich heute nicht viel anders als vor 25 Jahren diagnostizieren.

Kein Wunder also, dass die BDA Zeitschrift „die architekt“ das Jubiläum zum Anlass nahm, die Zwischenstadt zum Thema einer Ausgabe zu machen,(2) die bauwelt Wohnungsbau am Stadtrand untersuchte.(3) Sieben Lehrstühle von fünf Hochschulen (München, Karlsruhe, Wien, Weimar, Luxemburg) machten die Zwischenstadt zum Thema der Lehre. Die Ergebnisse wurden im letzten November in einer Ausstellung gezeigt, dazu erschien eine Publikation, in der neben den Studienarbeiten Essays und Interviews in einer Bestandsaufnahme reflektieren, wie Nachdenken über die und das Planen in der Zwischenstadt in Zukunft eine Rolle spielen kann.(4)


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Die Bilder dieses Beitrags zeigen den Gewerbe-Alltag in der Zwischenstadt. Alle Bilder: Christian Holl

Anhaltend aktuell

Die Lektüre dieser Publikationen zeigt, dass das von Sieverts umrissene Feld nach wie vor aktuell ist. Denn er hatte keinen statischen Zustand beschrieben, sondern eine dynamische Entwicklung, der keine irgendwann einmal zu vollendende Planung zugrunde liegt. Die Zwischenstadt ist weder planerisches Konzept, noch präzise beschriebene Zusammensetzung und Anordnung von Funktionsbereichen in der Landschaft. Die Zwischenstadt ist aktuell geblieben, weil sie eine dominierende Realität beschrieb, die so eng mit Wirtschaftssystem, Lebensstilen und Kulturverständnis verknüpft ist, dass sie überhaupt nicht aufhören konnte, aktuell zu bleiben – sie hat im Gegenteil noch an Dynamik gewonnen. Und, so Andreas Garkisch, sie ist vor allem „wesentlich erfolgreicher als gedacht. Der Raum zwischen den Städten hat sich zu einer hoch funktionalistischen Kulturlandschaft entwickelt, die den Lebensstandard einer hedonistischen Konsumgesellschaft absichert.“ (5)

Um so erstaunlicher, dass das gestalterische Instrumentarium sich seit 1997 kaum weiterentwickelt zu haben scheint. Christian Inderbitzin beschreibt in der Münchener Publikation Untersuchungen für den Münchener Norden, die Studierende in sechs Projekten verdichteten. Und bilanziert: „Projekte dieser Art sind und bleiben akademische Spekulation und haben keine Entsprechung in der Praxis von Planung und Politik.“(6) Dabei war gerade das die wesentliche Stoßrichtung des Buchs von Sieverts: Zwischenstadt als einen Raum zu verstehen, der erst durch Gestaltung jene Qualität bekommt, die es erlaubt, den Herausforderungen zu begegnen, die er stellt. Das betrifft die ökologischen wie die strukturellen Fragen, die der Bodenversiegelung, der Zerstörung von Habitaten, genauso wie die der Architektur, der Typologie, des öffentlichen Raums, der notwendigen Nutzungstrennungen wie die möglicher Nutzungsüberlagerungen. Gestaltung und eine Diskussion über sie ließen erst verhandelbar werden, was an Fragen gestellt werden sollte, welche Konflikte moderiert werden müssten, damit sich die Zwischenstadt so entwickeln kann, dass Wirtschaften und die Bewahrung von Lebensgrundlagen vereinbar werden können.

2302_SL_ch_LogistikNach „25 Jahren Zögerlichkeit“ (Stefanie Bremer) ist es mehr denn je offensichtlich, dass es einen planenden und gestaltenden Zugriff auf den Raum der Zwischenstadt so gut wie nicht gibt, aber geben sollte. Eine weitere wichtige Erkenntnisse der letzten 25 Jahre ist aber auch die, dass es „die“ Zwischenstadt nicht gibt. Es gibt sie als suburbane, ländliche und saisonale, wie Stefanie Bremer beschreibt, sie differenziert sich aber auch hinsichtlich der wirtschaftlichen Dynamik, des kulturellen Selbstverständnisses oder der touristischen Attraktivität.(7)

Es lohnt sich deswegen, stärker und genauer zu differenzieren, Zwischenstädte aus verschiedenen Perspektiven zu beschreiben, um sensibel zu werden für das, was spezifisch für eine Region und was übertragbar auf andere ist. Sensibel zu werden aber auch für das, was sich durch die Betrachtung auf den vertrauten Planungsmaßstab der Wahrnehmung entzieht. Stefanie Bremer: „Es entspricht nicht dem Lehrbuchwissen, bei Mobilitätskonzepten auf den Individualverkehr beziehungsweise auf den motorisierten Individualverkehr zu setzen – hier sträuben sich selbst Verkehrsplaner. Doch wer wertfrei zur Kenntnis nimmt, dass der PkW-Verkehr in der Zwischenstadt eine tragende Rolle spielt, kann darüber nachdenken, wie er verbessert werden kann.“(8)

Arbeit in den Blick nehmen

Ein anderes Feld, das gerade jetzt, nach zwei Jahren Pandemie eine genauere Betrachtung verdiente, ist das der Arbeit. Sie nimmt in den aktuellen Diskussionen keine Hauptrolle ein. Merkwürdigerweise. Das Gewerbegebiet als städtebaulicher Typ taucht in den Diskussionen – anders als das Thema Wohnen – selten auf. Das war nicht immer so. Sogar noch vor der Veröffentlichung der „Zwischenstadt“ waren im Band „Region“ der von Martin Wentz herausgegebenen Reihe „Die Zukunft des Städtischen“ neben Beiträgen zur Regionalstadt-Idee, zu regionalen Organisationsformen und Verkehrsvernetzung Beiträge wie „Globalisierte Ökonomie und regionale Identität“, „Der Gewerbepark“ oder „Industrie- und Gewerbepolitik“ zu finden.(9) Doch derzeit hat die Frage, wie man Gewerbegebiete verdichten, sie mit anderen Funktionen (etwa der Freizeitnutzung) anreichern könnte, darin öffentliche Nutzungen integrieren könnte, in ihnen öffentlichen Raum schaffen und aufwerten könnte, wenig Bedeutung. Ein Projekt wie das im Rahmen der IBA27 in Stuttgart, bei dem Landwirtschaft und Industrie miteinander kombiniert, eines, bei dem Arbeiten und Wohnen neu miteinander verknüpft werden könnten oder wie bei der IBA Heidelberg, wo der Landwirtschaftsraum als Park verstanden wird, sind löbliche Ausnahmen. Aber eben Ausnahmen – und noch nicht umgesetzt.(10)

Die Transformation der Arbeit steht im Mittelpunkt beim Landeskongress Archikon2023 am 19. April 2023
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Dass das Thema der Arbeit als Feld stadtplanerischer Aktivität gerade hin zur Einbindung in einen Kontext mit anderen Nutzungen nur eine untergeordnete Rolle spielt, ist nicht neu. Schon vor über fünf Jahren schrieb Dieter Läpple in der Bauwelt: „Trotz aller verbalen Bekenntnisse zu einem Mehr an funktionaler Nutzungsmischung führt die aktuelle Problemkonstellation in den meisten Städten zu einer einseitigen Orientierung auf eine quantitativ ausgerichtete Wohnungspolitik.“(11) Daran hat sich wenig geändert; in den Zwischenstädten ist dies noch wesentlich ausgeprägter.

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Ein Hauch von Nutzungsmischung

Dabei kommen neue Herausforderungen zu den bestehenden hinzu. Sowohl die Energieproduktion, als auch die zukünftig noch viel bedeutendere Frage des Wassermanagements, aber auch die rasant steigende Anzahl von Datenspeichergebäuden – in Frankfurt betrifft jede zweite Gewerbegebietsanfrage diesen Typ – stellen neue Aufgaben. Es geht dabei darum, gerade im Kontext von Raumnutzungen in der Zwischenstadt nach Überlagerungen und Synergien zu suchen – und dabei nicht nur an das Wohnen zu denken. Das ist schon deswegen schwierig, weil man es in der Zwischenstadt mit Größenordnungen und Bauvolumina zu tun hat, die mit den für das Wohnen geeigneten Maßstäben schwer zu vereinbaren sind. Dafür aber könnten andere Themen untersucht werden: Wie können Wasserkreisläufe so kombiniert werden werden, dass sie zu einem sparsameren Verbrauch anregen? Wie kann die Abwärme beispielsweise aus Datenspeichergebäuden für andere Gebäude des Gewerbes, für die Landwirtschaft (etwa zum Beheizen von Gewächshäusern) genutzt werden? Wie lassen sich Restflächen für die Energiegewinnung nutzen? Nicht zuletzt durch das Leitbild der Kreislaufwirtschaft werden hier integrierte Konzepte gefragt sein, um die Gewinne von Materialwiedernutzungen nicht durch lange Transportwege zunichte zu machen. Dass all dies schwer mit konventionellen Idyllevorstellungen einer von kleinteiliger Landwirtschaft geprägten, kaum besiedelten Landschaft unvereinbar ist, ist ein aus dem Zwischenstadtdiskurs inzwischen allzubekannter Gemeinplatz – ohne dass er freilich im Alltag wirklich angekommen wäre: „Die Zwischenstadt, das ist immer nur die Zwischenstadt der anderen“, so Andreas Garkisch.(12)

Arbeit als sozialer Faktor

Ein anderer wichtiger Aspekt ist der der Arbeit als sozio-ökonomische Komponente. So wie die durch die Pandemiefolgen noch verstärkte Konzentration der politischen und öffentlichen Aufmerksamkeit auf die Innenstädte dafür sorgt, dass die Entwicklungen in den Zwischenstädten weiter weitgehend unbemerkt fortschreiten, so wird mit der im Bereich der Arbeit dominanten Diskussion um das Home-Office der Blick verengt, so dass die Arbeit aus dem Blick gerät, die gerade nicht von zuhause aus erledigt werden kann. Es werden im Gegenteil die Jobs in den Vordergrund gerückt, die gut bezahlt sind und einer höheren Qualifikation bedürfen. Das ist aber fatal. Läpple führt aus, dass „der Arbeitsmarkt nach wie vor die zentrale Arena [ist], in der die Entscheidungen über die Lebenschancen der Menschen fallen.“(13)

2302_SL_ch_Gewerbe3Die Konsequenz daraus ist eine soziale Segregation, die sich nicht länger nur im eigentlichen Stadtgebiet vollzieht, sondern darüber hinaus auch im regionalen Raum. Diese Segregation wird sich möglicherweise noch verstärken, wenn sich das Home-Office als Regelfall durchsetzen sollte. Denn je besser sich die Trennung von Wohnort und Arbeitsplatz organisieren lässt, desto attraktiver wird es, den Wohnort weitgehend unabhängig von der Lage des Arbeitsplatzes zu wählen.

Landstriche und ihre Orte werden sich in Gewinner und Verlierer differenzieren: Die Gewinner können darauf hoffen, dass aus dem Home-Office ein Arbeiten am Shared Desk in einem kleinen Ladenlokal in der Ortsmitte wird, das man fußläufig vom Wohnort aus erreichen kann. Das ist nicht nur deswegen eine Option, weil damit produktiv auf den Leerstand in Ortsmitten reagiert werden könnte, sondern auch, weil damit einer der großen Konflikte des Home-Office wieder befriedet werden könnte. Schließlich hat das Home-Office die Wohnung, die ohnehin ein Ort der Aushandlung von verschiedenen Interessen und Bedürfnissen der Haushaltsmitglieder ist (unterschiedliche Tätigkeiten, Erziehung, Erholung, Versorgung), noch weiter belastet. Mit dezentralem Arbeiten nahe der Wohnung würde Arbeiten und Wohnen soweit auseinanderrücken, dass in der Wohnung wieder Abstand von der Arbeit genommen werden kann. Die Verlierer hingegen – Ortschaften mit unattraktiven Mitten, in weniger ansprechender landschaftlicher Lage, in der Nähe von Autobahnen oder Industrie, durchquert von Bundesstraßen – hätten dann erst recht wenig Grund zur Hoffnung, von einer neuen Attraktivität peripherer Lagen zu profitieren.

Zudem könnte sich auch die Hoffnung auf positive Effekte hinsichtlich des Verkehrsaufkommens in einem doppelten Rebound-Effekt pulverisieren. Während die einen – Arbeiter:innen im Niedriglohnsektor – möglicherweise noch längere Wege in Kauf nehmen müssen, um an ihren Arbeitsplatz zu kommen, ist es für die anderen – Gutverdienende, dezentral Arbeitende – attraktiv, sich einen angenehmen Wohnort zu finanzieren und nur, wenn die Präsenz am Arbeitsort einmal erfordert wird, dafür längere Fahrtstrecken in Kauf zu nehmen. Dies würde nur fortsetzen, was ohnehin zu beobachten ist: „Je höher das Erwerbseinkommen desto weiter und länger wird im Durchschnitt gependelt und desto öfter wird als Hauptverkehrsmittel das eigene Auto gewählt.“ (14) Von der sozialen Ebene aus den Faktor Arbeit zu betrachten, wäre auch eine Form des integrierten Denkens, das der Zwischenstadt und den Dimensionen, in denen man sich in ihr bewegt, angemessen wäre. Es zeigt: Man ist dabei sehr schnell bei den Fragen, die über das Arbeiten hinausgehen, von hier aus aber anders bewertet werden: Wohnungs- und Bodenmarkt, Mobilität, Nahversorgung. Erst recht ein Grund, diese Perspektive zu forcieren.


(1) Thomas Sieverts: Zwischenstadt: zwischen Ort und Welt, Raum und Zeit, Stadt und Land. Braunschweig, Wiesbaden, 1997.
(2) Inzwischen Stadt? Die Zwischenstadt wiederbesucht. Die Architekt, 5/2022, Berlin
(3) Rand. Erweiterungen der Peripherie, von Großsiedlung bis Gartenstadt. Bauwelt 24/2022, Berlin
(4) Zwischenstand der Zwischenstadt. Essay, Beiträge & studentische Arbeiten aus Architektur und Stadtplanung. Herausgeberschaft: Sustainable Urbanism, Lehrstuhl für nachhaltige Entwicklung von Stadt und Land, Mark Michaeli, Sebastian Klawiter, Julia Micklewrigth. München 2022, online hier >>>
(5) Andreas Garkisch: Inzwischen 25 Jahre. In Zwischenstand der Zwischenstadt, S. 4-9, hier S.7
(6) Christian Inderbitzin: Ideal und Wirklichkeit.  In: Zwischenstand der Zwischenstadt, S. 36–39, hier S. 39
(7) Stefanie Bremer: Der Verkehr und die Zwischenstadt. In: Die Architekt 5/2022, S. 30–37, hier S. 35
(8) ebd., S. 36
(9) Vgl. Martin Wentz (Hg.): Region. Die Zukunft des Städtischen. Frankfurter Beiträge, Band 6, Frankfurt/New York, 1994
(10) Projekte der IBA Stadtregion Stuttgart 2027, „Agriculture meets Manufactoring“ und „Produktives Stadtquartier Winnenden“, online hier >>> und hier >>>
Projekt „Landwirtschaftspark“ der IBA Heidelberg, online hier >>>
(11) Dieter Läpple: Produktion zurück in die Stadt. Ein Plädoyer. In: Stadtbauwelt 211, Bauwelt 35/2016, Berlin, S. 22-29, hier S. 23
(12) Garkisch, a.a. O., S. 8
(13) Läpple, a.a. O., S. 25
(14) Ulrike Winkelmann: „‚Manche pendeln weit‘ – Berufspendler im Bundesländervergleich“. In: Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg 4/2010, S. 42, online hier >>>