Vom Norden Zyperns aus durfte niemand direkt in den Süden reisen. Man musste über die Türkei und Griechenland in den griechisch-zypriotischen Teil Nikosias reisen und dabei möglichst den Reisepass austauschen, damit keine illegale Einreise in das sonnige Mittelmeerland nachweisbar war, die mit Gefängnisstrafen geahndet wurde. Noch immer ist getrennt, was in der Stadt zusammengehört.

Foto oben: Die Grenze 2006 (Bild: Olaf Bartels) Skizze: Ein geteiltes Land, eine UN-Pufferzone: Nikosia liegt an einer Grenze – Grenzen sind das Thema der diesjährigen Architekturbiennale in Venedig (Skizze: Marlowes)
100 Meter Luftlinie
Auf der Straße vor Yalçıns ehemaligem Restaurant blickt man gen Süden auf eine katholische Kirche. Erreichen kann man sie – Luftlinie 100 Meter – allerdings nur auf Umwegen. Bevor 2003 im Vorfeld des geplanten Beitritts Zyperns zur Europäischen Union Übergänge eingerichtet worden sind, konnten sich Ausländer entweder mit einem Tagesausweis des griechisch-zypriotischen Teils der (international weitgehend anerkannten) Republik Zypern im (lediglich von der Türkei anerkannten) Teil der türkischen Republik Nordzypern aufhalten. Der Ausblick auf die katholische Kirche am Rande der alten venezianischen Stadtmauer, die die Altstadt von Nikosia noch immer komplett umschließt, ließ den Wirt Yalçın Okut dennoch auf ein einträgliches Geschäft mit seinem Restaurant hoffen, das ihm der Bürgermeister des türkischen Teils von Nikosia in Obhut gegeben hatte, um Leben in das Viertel zu bringen.

Yalçıns Restaurant im Arab-Ahmet-Quartier im Norden Nikosias. Im Hintergrund die katholische Kirche. Direkt davor die Sperranlage der UN-Pufferzone (Bild: Olaf Bartels, 2006)
Teilung im Krieg
Seit der Teilung der Insel und ihrer Hauptstadt nach dem Zypernkrieg 1974 liegt dieses Quartier weitgehend leer. Vor dem Krieg war es mehrheitlich von armenischen, türkischen und griechischen Zyprioten bevölkert. Die Armenier und Griechen wurden vertrieben. Die türkischen Zyprioten blieben wie Yalçın, wenn sie nicht in die Türkei oder nach Großbritannien auswanderten (wie Yalçıns Sohn) und Siedler aus der Türkei nachzogen. Leerstehende Häuser verfielen, bis sich 2001 die States Agency of International Development (USAID), das United Nations Office for Project Services (UNOPS) im Rahmen des United Nations Development Programme (UNDP) beziehungsweise die EU-Organisation Partnership for the Future (PFF) an die Sanierung paritätisch ausgewählter Stadtteile im türkischen wie im griechischen Teil Nikosias und ganz Zyperns machten.
Während sich auf der griechischen Seite die sanierten, pittoresken Quartiere schnell mit neuen Bewohnern füllten, hatte die Wiederbelebung auf der türkischen Seite mit den weiter unklaren Besitzverhältnissen und Zugriffsmöglichkeiten auf Gebäude und Grundstücke zu kämpfen, so dass sich die „Wiederbelebung“ entweder auf die Sanierung von Fassaden oder auf öffentlich genutzte Gebäude beschränkte. Im Umfeld der alten armenischen Kirche entstand ein Theater, in dem der gemeinsamen Tradition des Landes gehuldigt wird und das ein Schlaglicht in diese Schattenzone im Zentrum der Hauptstadt Zyperns wirft.
Der Grenzwall bekommt Löcher
Mir war bei meinen Besuchen in Yalçıns Restaurant nicht klar geworden, wie wer eigentlich die Zeche bezahlte. Ich habe nie Geld den Besitzer wechseln sehen. Es gab hier jeden Abend eine Art Party, zu der Yalçin Getränke beisteuerte. Das Essen brachten die Gäste mit oder bestellten es in anderen Restaurants und ließen es liefern, manchmal kochte Yalçın selbst. Hier trafen sich Künstler, Schriftsteller, Schauspieler – die Boheme von Nordnikosia. Auch Yalçıns Nachfolger spürte den langen Schatten der Grenzbefestigung. Die Straße vor dem Restaurant ist noch heute durch Grenzzäune sowie der „Pufferzone“ dazwischen geteilt, in der UN-Truppen auf die Einhaltung des Friedens achten.

Veränderungen in der geteilten Altstadt Nikosias: Beide Bilder zeigen den Blick von Norden auf den Übergang an der Ledra-Straße, der 2008 geöffnet wurde. (Bilder: Olaf Bartels)
Eine tote Pufferzone
Vereinigt ist Zypern trotz der im ganzen Land entlang der trennenden „Green line“ eingerichteten Übergänge nicht. Einer dieser Übergänge besteht seit April 2003 im Osten der Altstadt in der Nähe des alten Flughafens, der jetzt in der Pufferzone liegt und von den UN-Truppen als Hauptquartier benutzt wird. Hier scheint die Zeit konserviert zu sein. Ein weiterer Übergang wurde im Westen der Hauptstadt eingerichtet, und ein dritter verband 2008 das Zentrum der Altstadt auf beiden Seiten der Pufferzone an der Ledra-Straße.
Faktisch verläuft mitten durch die zypriotische Hauptstadt eine EU-Außengrenze, im vergangenen Jahr sind Verhandlungen über eine Vereinigung wieder gescheitert. Zwar waren sich die beiden Volksgruppen weitgehend einig geworden, ihnen blieb aber die Unterstützung der jeweilige Garantiemächte der Türkei und Griechenlands verwehrt. Die Führer der beiden Volksgruppen ziehen schon lange am selben Strang. Beiden Verhandlungsführern wird eine pragmatische Handhabung der grenzüberschreitenden Angelegenheiten wie die Verwaltung der Strom, Frisch- und Abwassernetze nachgesagt. Maßgebend haben beide auch den Nikosia-Masterplan vorangetrieben, der schon 1979 unter Vermittlung der UNO zustande kam.
Teilen oder gemeinsam?
Seitdem trifft sich regelmäßig eine Kommission beider Seiten und der UNO, die über zwei Entwicklungsszenarien Nikosias berät. Eines bezieht sich auf eine anhaltende Teilung der Stadt, ein anderes auf deren Vereinigung. Durch diesen Stadtentwicklungsplan ist man also eigentlich vielfältig vorbereitet, doch die partielle Öffnung der Grenzübergänge hat doch eine neue von Licht und Schatten geprägte Situation hervor gerufen – vor allem im Norden der Grenzzone.
Die einseitige Anerkennung der Türkischen Republik Nordzypern durch die Türkei und der lange andauernden internationale Wirtschaftsboykott haben in diesem Landesteil ganz eigene Wirtschaftsstrukturen geschaffen. Unter anderem floriert hier der Handel mit Raubkopien von Musik, Filmen und Markenkleidung. Eine internationale Strafverfolgung würde die Anerkennung des Staates voraussetzen, und dadurch ist sie im Norden der Insel kaum zu befürchten.

Das Kurzwarengeschäft Yağcioğlu existiert in Nikosia schon seit 1955. Heute muss es sich, direkt an den Sperranalgen der UN-Pufferzone gelegen, zwischen den Angeboten halb- und illegalen Kopien von Markentextilien behaupten. (Bild: Olaf Bartels)
Städtisches Leben in einer boykottierten Wirtschaft
Auf dem Weg aus dem Arab Ahmet Quartier entlang der Grenzbefestigung in Richtung Westen in das alte Zentrum um die Selimiye-Moschee und den gedeckten Basar trifft man auf die Zeugnisse der boykottierten Wirtschaft. Es reihen sich ein Autoschrottplatz und eine Autoreparatur- oder Schlosserwerkstatt an die andere. Hier haben Handwerker in den Erdgeschossen der alten Häuser mit ihren Werkstätten Zuflucht gefunden. Weiter westlich folgen Tischler und Polsterer. Zwischen der alten Ledra-Straße und der Selimiye-Moschee beziehungsweise dem Basar haben sich Juweliere und Textilgeschäfte zwischen Traditionsbetrieben eingerichtet.

Manche Regale sind noch immer mit Waren aus zypriotischer Vorkriegsproduktion gefüllt. (Bild: Olaf Bartels)
In dem Dreieck zwischen dem Übergang an der Ledra-Straße, der Selimiye-Moschee und dem für den Norden zentralen Atatürk-Platz ist mit unterschiedlich finanzierten Restaurierungen ein interessanter touristischer Hotspot entstanden, der Besucher aus dem griechisch dominierten Süden anzieht. Davon profitieren Händler mit Textilangeboten zweifelhafter Herkunft als auch Traditionsgeschäfte. Ein Kurzwarenhändler lagert hier noch immer Knöpfe und Seidengarne aus zypriotischer Vorkriegsproduktion. Die griechischen Aufschriften der Kartons, aus denen er die Garne verkauft, muten hier im türkisch dominierten Norden heute exotisch an.
Jedes Jahr eine Rose für die Queen
Von dem kleinen Vorplatz direkt am Grenzübergang Ledra-Straße befindet sich direkt gegenüber dem Serail-Hotel am Atatürk-Platz, das lange Jahre von seiner Dachterrasse die einzige Möglichkeit bot, über die innere Grenze der Stadt zu schauen, das Rüstem Kitabevi. Kemal Rüstem hat mit seiner Verlagsbuchhandlung vor dem den kriegerischen Auseinandersetzung, die zwischen türkischen und griechischen Zyprioten schon direkt nach der Unabhängikeit des Landes von der Britischen Kolonialherrschaft 1962 begannen, einst den ganzen mittleren Osten bedient. Sein Wohnhaus nahe der Hafenstadt Kyrenia war ein beliebter Treffpunkt für Literaten des Landes und der ganzen Levante. Kemal profitierte von der Britischen Kolonialmacht, die es sonst gerne darauf anlegte, türkische und griechische Zyprioten gegeneinander auszuspielen, um ihre Macht zu festigen. Kemal aber verehrte „seine“ Königin und schickte ihr zu jedem Geburtstag eine Rose.

Ali Rüstem hat die bekannte Verlagsbuchhandlung seines Vaters Kemal durch ein Restaurant im Obergeschoss und ein Café im Erdgeschoss ergänzt. (Bild: Olaf Bartels)
Neues Leben in alten Räumen
Sein Sohn Ali konnte ein so großes Erbe nicht antreten. Einen guten Umsatz wird das Buchgeschäft aber erst wieder nach seiner Umgestaltung erfahren haben. Ali hat kräftig aufgeräumt, den Hauptumsatz macht er nun mit seinem Restaurant im Obergeschoss, das traditionelle zypriotische Kost anbietet und bei Geschäftsleuten und Touristen gleichermaßen beliebt ist. Die Tische stehen direkt an den Wandregalen, in denen sich beim Mittagessen der eine oder andere Bücher-Schatz entdecken läßt. Einen Teil seines Ladens hat er an die australische Kaffeehauskette Gloria Jean‘s vermietet. So kann Ali auch von der wenn auch späten Grenzöffnung profitieren.
Mit den zunehmenden Verhandlungsaktivitäten wird der Wirtschaftsboykott brüchig und international agierende Unternehmen werden auch im Norden Zyperns aktiver. Während Alis Buchgeschäft nach der Öffnung der Grenze im Licht steht, liegt das Arab Ahmet Quartier noch immer in Schatten der Green-Line. In Nikosia wächst das, was einst zusammen gehörte, nur schwer zusammen. In der Pufferzone, die nach wie vor nur Mitglieder der UN-Schutztruppe betreten dürfen, bleibt alles beim Alten. Anders als in Berlin ist in Nikosia keine penibel geräumte, kontrollierte Zone eingerichtet worden, in der jeder Schritt verfolgt wird und zum Tod führt, wenn sein Urheber erkannt wird. Das Dickicht der städtischen Sperrzone war dennoch kaum überwindbar. Aber wenn auch diese Grenze menschliche Opfer forderte, sterben die Dinge hier noch einen natürlichen Tod. Das gilt auch für die Stadtstruktur in der Pufferzone. Noch gibt es sie. Von Norden wie von Süden bewachen türkische und griechische Soldaten diesen Stillstand.