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Am sechsten Mai 2015 ist Jürgen Joedicke – der bedeutende Theoretiker und Historiker der modernen Architektur – fast neunzigjährig gestorben. Einer seiner letzten öffentlichen Auftritte fand im Februar 1999 statt, aus Anlass des dreißigjährigen Bestehens des Instituts für Grundlagen moderner Architektur (Igma), zu dessen Gründungsdirektor er 1967 berufen wurde.

Zu diesem Zeitpunkt war der 1925 in Erfurt geborene Joedicke bereits seit sechzehn Jahren an der Architekturfakultät der Stuttgarter Universität tätig, die sich damals noch Technische Hochschule nannte. Zunächst hatte er als Assistent bei Curt Siegel Tragwerkslehre unterrichtet und später, nach seiner Habilitation, die Fächer Architekturtheorie und Entwicklungslinien der modernen Architektur.

"Theorie in der Architektur ist nur dann sinnvoll, wenn sie am praktischen Beispiel überprüft wird." Jürgen Joedicke

„Theorie in der Architektur ist nur dann sinnvoll, wenn sie am praktischen Beispiel überprüft wird.“ Jürgen Joedicke

Joedicke war 1950, gleich nach seinem Architekturstudium in Weimar, in den Westen gewechselt und in Stuttgart gestrandet, wo er sich in der von ihm selbst vorgelebten Einheit von Theorie und Praxis für eine undogmatische Architekturlehre einsetzte. Im Rückblick will es scheinen, als sei er der letzte Hochschullehrer gewesen, der in Personalunion bauender Architekt und hoch qualifizierter Wissenschaftler war. Wohl überwogen bei ihm, der seit 1957 als freier Architekt arbeitete und das Klinikum Süd in Nürnberg (1986–1994) entwarf, die wissenschaftlichen Interessen, aber vielleicht ja nur deshalb, weil auf theoretischem Gebiet so viel zu tun war! Ganz besonders im Gründungsjahr des Igma, als die Studenten auf die Barrikaden gingen und nicht bloß die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften, sondern auch die Architektur in die Pflicht einer kritischen Selbstbesinnung genommen sehen wollten.

1508_Joedicke_GrundlagenWährend viele seiner Kollegen die Flucht ergriffen, hielt der kriegsverletzte Joedicke in seiner Hochschule die Stellung, widmete sich der strengen Analyse des Gebauten, außerdem der Frage, wie es auf den Menschen wirkt, und vertrat mit Vorliebe Positionen, die sich dem Mainstream widersetzen. Dies, dann aber auch sein Bestreben, die Theoretisierung der Architektur zu internationalisieren, und seine Toleranz, die dazu führte, dass es für ihn keine Rolle spielte, zu welcher “Richtung“ ein Student tendiert, sondern ob und wie er seine gewählte Position zu begründen weiß – das alles zusammen sicherte ihm die Sympathie kommender Generationen. Sie lernten es in einer Zeit des ewigen Streitens und
Denunzierens zu schätzen, dass Joedicke dafür einstand, sich „ein Gefühl der Hochachtung auch dort zu bewahren, wo man anderer Meinung ist“.
Unter der Anzahl seiner Schriften ragen die Geschichte der Modernen Architektur heraus, die ab 1958 in mehreren Auflagen erschien, gefolgt von Moderne Architektur | Strömungen und Tendenzen (1969) und der Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts – von 1950 bis zur Gegenwart (1990), worin der Autor Stilrichtungen verarbeitete, die unter dem Etikett der Postmoderne verhandelt wurden. In der von ihm herausgegebenen Publikationsreihe Dokumente der modernen Architektur, in der Autoren wie Reyner Banham und Georges Candilis publizierten, schrieb Joedicke mehrere Bände selber, darunter einen über seinen Lieblingsarchitekten Hugo Häring. Das ist einer der Gründe, weshalb ich mich meinem Vorgänger, dem ich leider nie begegnet bin, so verbunden fühle. Am Ende ist es ja immer die Haltung, die einen Menschen im Gedächtnis fortleben lässt und weniger das geduldige Papier, auf dem er sich zu verewigen sucht. Jürgen Joedicke, dessen Werke in mehrere Weltsprachen übersetzt wurden, war noch etwas Wichtigeres vergönnt: dass er über einen Zeitraum von 26 Jahren, in denen er die Stuttgarter Architekturlehre maßgeblich mitprägte, seine humanistischen Werte an Jüngere weitergeben konnte. Darum wird er niemals vergessen werden.
Dieser Beitrag erschien zuerst in: der architekt 3.2015