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Schokolade, Käse, Uhren – und Architektur

Talstation Churwalden, Architekten: Ritter Schumacher (Bild: Johannes Friedheim)

Talstation Churwalden, Architekten: Ritter Schumacher (Bild: Johannes Friedheim)


Stilkritik (41): Das Büro Ritter Schumacher aus Chur manifestiert mit einem Fest, warum gutes Bauen in der Schweiz auch den Alltag kennzeichnet. Es feierte mit einer Hinwendung zur Theorie und lud dazu den deutschen Philosophen Julian Nida-Rümelin, die Schweizer Zukunftsforscherin Karin Frick und den deutschen Architekturjournalisten Ulf Meyer als Moderator ein.


Schweizer Architektur klingt wie ein Synonym für hochwertige Ausführung, solides Handwerk und innovative architektonische Lösungen, die auch in breiteren Bevölkerungskreisen Anklang finden. Wäre Architektur „handlicher“, ließe sie sich auch an den Souvenierständen am Flughafen neben der Schweizer Schokolade, dem Schweizer Käse und den Schweizer Uhren anbieten. Die ETH Zürich gilt als eine der besten Ausbildungsstätten in Europa, und Architekten wie Herzog de Meuron, Diener und Diener, Bearth und Deplazes, Vater und Sohn Olgiatti und nicht zuletzt Peter Zumthor sind längst schon zu Schweizer Botschaftern hochwertiger Architektur in aller Welt geworden.
Nun kann man sich schon fragen, wer in der Schweiz eigentlich das Alltagsgeschäft macht und wo oder wie dort mit dem Bauen Geld verdient werden kann. Aus deutscher Sicht verwundert dies auch deshalb, weil in Deutschland Architekten gerne als Preistreiber des Bauens an den Pranger gestellt werden, die die Ästhetik des Bauens aus purer Geltungssucht und Selbstverliebtheit betreiben, oder deren Bauten mit ihrer besonderen Ästhetik als „Architektenhäuser“ teuer vermarktet werden.

Mehrfamilien-Wohnhaus in Chur von Ritter Schumacher (Bild:Architekten)

Mehrfamilien-Wohnhaus in Chur von Ritter Schumacher (Bild: Architekten)

50 Jahre alltagsverträgliches Bauen

In Chur betreibt das Büro Ritter Schumacher seit nun mehr 50 Jahren das Geschäft mit der Alltagsarchitektur. Michael Schumacher führt das von seinem Vater 1967 gegründete Büro mittlerweile gemeinsam mit seinem Partner Jon Ritter. Sie bauen in der ganzen Schweiz und in Liechtenstein Villen, Wohnhäuser, Geschäftsbauten, Schulen, Kindergärten, Medizinische Zentren, Bauten der Infrastruktur und anderes – alles, was im alltäglichen Leben gebraucht wird und den Charakter der gebauten Umgebung ausmacht. Mal müssen sie Bauherren von ihren Vorschlägen überzeugen. Mal bringen sie die Betreiber verschiedener, aber benachbarter Bauprojekte zusammen und suchen nach einer gemeinsamen, zufrieden stellenden Lösung. Mal sitzen sie Investoren gegenüber, die allein die Rendite ihrer Fonds im Kopf haben und an guten architektonischen Lösungen nur dann interessiert sind, wenn sie nachweislich Gewinn abwerfen.
Michael Schumacher und Jon Ritter können ein Lied von diesem Geschäft singen, das eigentlich gar nicht so anders klingt als jenes, das ihre deutschen Kollegen singen. Umso erstaunlicher war das Fest, dass die beiden Büroinhabern mit ihren etwa 40 Mitarbeitern und vielen Gästen anlässlich des 50 Jährigen Bestehens ihres Büros Ende September feierten. Hier bekam die Theorie das Wort. Es habe, berichteten Michael Schumacher und Jon Ritter, im Verlaufe der vergangenen fünf Jahrzehnte immer Höhen und Tiefen gegeben, so dass man keine Prognose für die Zukunft wagen wolle. Man fühle sich für alles gewappnet ,was kommen möge.
Aber offenbar wollte man dennoch über den gegangenen Weg reflektieren und vielleicht doch in die Zukunft schauen. Dazu waren der Philosoph und frühere deutsche Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin und die Schweizer Zukunftsforscherin Karin Frick als Referenten sowie der deutsche Architekturjournalist Ulf Meyer als Moderator eingeladen worden.

Diskussionfreudig: Schneider, Frick, Mayer, Ritter und Julian Nida-Rümelin

Diskussionfreudig: Michael Schumacher, Karin Frick, Ulf Meyer, Jon Ritter und Julian Nida-Rümelin

Philosophie der Stadt und die Zukunft das Bauens

Julian Nida-Rümelin spannte einen weiten Bogen zur Philosophie der Stadt, ihre Ethik und die Ethik des Bauens von Platon oder Aristoteles in der Griechischen Antike zu den heutigen Themen des Bauens und seiner Kultur. Er rief dabei in Erinnerung, wie sehr die Stadt und der Warenaustausch, also der Markt und damit auch die Agora als Ort der Bürgerversammlung sowie die räumliche Enge mit einander verwoben waren und noch heute Gegenstand philosophischer Reflexionen sind. Nida-Rümelin konstatierte, dass die Architektur, die Stadt, aber auch die Wohnungen selbst stets die Lebensformen repräsentierten, aus denen sie entstanden seien. Schon deshalb sei ein ästhetischer Rückgriff in die Geschichte nicht möglich. Der Wunsch, die Realität historisch gewachsener Städte wie Lucca, Siena oder Padua könnte heute nicht wieder neu entstehen. Mit Platon stellte er fest: Die Essenz der guten Stadt als Ganzes repräsentiere die Psyche des Einzelnen. Demnach sei es eben nicht der Immobilienmarkt allein, der unsere Städte gut strukturieren könne. Die Bürgerschaft selbst habe einen Gestaltungsanspruch, der beachtet werden müsse. Private, halböffentliche und öffentliche Räume sollten identifizierbar und abgrenzbar sein. Sie seien der Nukleus der liberalen demokratischen Stadt. Am Ende seines Vortrags appellierte Julian Nida-Rümelin an die Architekten, sich den Bedürfnissen der Nutzer ihrer Bauten zu öffnen, ihnen zuzuhören und auf sie einzugehen. Es müssten Bauten entstehen, die ihrem Sinn entsprechen könnten und auf den Kontext bezogen seien. Im Zweifelsfall sollten ethische den ästhetischen Werten vorgezogen werden.
Auch Karin Frick reflektierte in Ihrem Vortrag kurz unsere durch Technik geprägte Gegenwart. Insbesondere Smartphones und Internet veränderten unsere Gesellschaft derart, dass sich die Fragen nach einer örtlichen und das heißt für sie auch kulturellen Bindung neu stellten. Gesellschaftliche Bindungen entstünden nicht länger nur in Vereinen und Klubs, Gemeinschaft ergebe sich vermehrt auch durch das Internet. Globale Menschen seien dadurch fast überall zuhause. Die virtuelle Realität sei ein wesentlicher Teil unserer Realität, aber schließlich setzten wir uns noch immer auf reale Stühle und nähmen die Stadt nicht allein über GPS-Daten wahr.

Leichte Überforderung

Ein wenig waren das Publikum und die einladenden Architekten dann doch von den Referaten geplättet. Sie lobten die philosophischen Wahrheiten, die sie vernommen hatten, und sie lobten die Zukunftsforschung für die Herausarbeitung gegenwärtiger Trends, auf denen Prognosen aufgebaut werden könnten. Aber, wie hatte Ulf Meyer eingangs bemerkt: Eine leichte Überforderung spornt an! Die anschließende Diskussion warf dann auch Fragen nach der Identifikation mit einem Raum oder einem Ort und seiner bauliche Realität auf – Fragen der Materialität, der Haptik oder auch der Ornamentik, die die Wahrnehmung der realen gegenüber der virtuellen Welt schärfen müssten.
Damit war die Runde wieder bei den Grundfragen der Architektur angelangt, die sich gut in den anschließenden Einzelgesprächen bei  – wie sollte es in der Schweiz anders sein – hohen bukolischen und kulinarischen Genüssen vertiefen ließen.

Busterminal in Churwalden von Ritter Schumacher (Bild: Architekten)

Busterminal in Churwalden von Ritter Schumacher (Bild: Architekten)

Gut Gebautes

Ein wenig nachdenklich machte dieser Abend durchaus, vielleicht als Nachwirkung der „leichten Überforderung“? Ein Rundgang zu den zahlreichen in Chur und Umgebung von Ritter Schumacher realisierten Bauten macht deutlich, dass es mit einer reinen Ethik des Bauens nicht getan ist. Sie braucht eine ästhetische Entsprechung. Die Ästhetik als Erfahrung unserer Umwelt mit all unseren Sinnen bleibt eine essenzielle Wahrnehmung der Realität. Eine in diesem Sinne anspruchsvolle Architektur zu schaffen, ist die vornehmliche Aufgabe von Architekten. Neue Schnittstellen zwischen Virtualität und Realität fallen auf: Zum Beispiel durch die Briefkastenanlage im Eingang des Wohngebäudes im Stadtteil Friedau, direkt an den Gleisanlagen am Bahnhof in Chur. Dort befinden sich nicht nur die Klingeln und Briefschlitze, sondern auch ein Fach für die Milchlieferung sowie eine Reihe von Paketfächern für die Lieferung von Internetbestellungen.
Andere Beispiele sind ihre Bauten in Churwalden: Ein Busterminal, der einen Supermarkt und ein Wartehäuschen für das Postauto sowie diverse Ticket- und Bankautomaten in einem signifikanten Gebäude aufnimmt und den Ort mit der Talstation der Seilbahn und einem Versorgungsgebäude für den nahegelegenen Campingplatz (ebenfalls von Ritter Schumacher) verbindet.
Es bleiben schließlich die Grundfragen: Was ist Architektur, was kann sie und was soll sie leisten? Gute bauliche Antworten auf diese Fragen meistern auch die Herausforderungen der Ethik und der elektronischen Technologie. Ritter Schumacher haben das in ihren Bauten bewiesen. Schade nur, das darüber außerhalb der Schweiz und Liechtenstein nur wenig bekannt ist. Ein Reise zu ihren Bauten lohnt sich.