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Ist dies schon Wahnsinn, so hat es doch Methode – ein Merksatz, der sich bei der sorgfältigen Lektüre dieses Buchs geradezu aufdrängt. Wieder eine Fachpublikation, bei der der Autor seine Leser, die etwas zur Gestaltung von Innenräumen lernen möchten, völlig aus den Augen verliert.


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Holger Kleine: Raumdramaturgie. Typologie und Inszenierung von Innenräumen. Birkhäuser, Basel 2017. 294 Seiten, 65,95 €. ISBN 978-3-0356-0432-0

Warum hat Holger Kleine dieses Buch verfasst? Weil es zu den „behandelten Passionen und Fragen“ noch keins gibt, „hat er es dann selber schreiben müssen“. Wenn man es zu Ende gelesen hat, weiß man, worum es bislang keines gab, möchte aber auch dem Verlag gratulieren, dass er sich gegen jede Marketingräson auf so einen Höllenritt eingelassen hat.

Kardinalfragen

Das Thema ist höchst wichtig, es berührt die ewige Kardinalfrage der Architektur: Wie inszeniert man gute Räume, und wie werden sie mit allen Sinnen wahrgenommen? Zunächst wollte der Autor eine Antwort durch die Analyse dreier Versammlungshäuser der frühen Neuzeit gewinnen, den Scuole Grandi in Venedig. Möglicherweise kam sein Vorhaben ein wenig zufällig durch die Gewährung eines Auslandsstipendiums auf den Weg.

1. Performances

Diese bauhistorische Einlassung auf die prächtige Renaissance-Architektur religiöser Laienbruderschaften, die den ersten Teil des Buches bildet, hätte vielleicht einem überschaubaren Kreis an Lesern gefallen. Der Autor nimmt sie mit als forschende Begleiter, die während der Besichtigung und später das Erlebte rekapitulieren können. Makellose Fotos und eine Fülle von Axometrien sollen den Daheimgebliebenen helfen. Aber trotz der akkuraten Sprengisometrien wären manchmal Schnitte und Grundrisse mit markierten Eingängen eine bessere Lesehilfe. Leider entspricht dieser Suchbildmodus dem Aufbau des gesamten Buchs, das mit strotzender Systematik jeden kleinen Abschnitt mit Begriffen inventarisiert, als ließe sich Raumdramaturgie im Multiple-choice-Verfahren ermitteln. Bei den Fachtermini bedient sich der Autor ungeniert fremder Disziplinen, also muss der Leser auch die Komplementarität aus der Quantenphysik in seinen Wortschatz aufnehmen.

1803_BU_Kleine_1Bald verflucht man diesen semantischen Exorzismus, mit dem der Autor Unsagbares als Unverständliches wiedergibt. Architektur als performative Handlung zu begreifen, ist ein löbliches Vorhaben, aber wer soll dieses schamanistische Geschwafel verstehen, „den Umschlag von der Integration der Fiktion in die Realität zur Integration der Realität in die Fiktion“? Man hat nach dem ersten Kapitel das Gefühl, dies ist kein Buch, um Architektur zu studieren, sondern die Lektüre verlangt ein eigenes Studium, um den Autor zu verstehen. Aber wozu?

1803_BU_Kruft2. Bildung

Teil zwei schließt an mit dem unvermeidlichen Angebot, Musik, Theater und Kino in den dramatischen Diskurs der Architektur aufzunehmen. Dabei setzt der Autor auf ein humanistisch-musisches Abitur und lässt uns Leser immer wieder unsere Unbildung spüren, wenn er zum Beispiel beiläufig auf den Finalsatz von Brahms’ 4. Sinfonie und die fallende Terz in Beethovens Hammerklaviersonate verweist. Phänomenal, wir haben es im Ohr! Läge es nicht viel näher, auf die Aggregatzustandsveränderungen in der Molekularküche und das Ventilspiel beim neuen Porsche Turbo zu verweisen? Sie merken es: Der Mann geht mir mit seiner Bildungshuberei unglaublich auf den Keks. Er lehrt auch noch – arme Studenten! Die sollen gespannt auf eine Antwort warten: „Die Frage, ob die Architektur nur eine zeitliche Komponente hat oder aber eine Zeitkunst im Sinne einer Kunst des Umgangs mit der Zeit ist, werden wir daran ermessen können, ob sie uns zeitbezüglich einen ähnlichen Reichtum wie die Musik gewähren wird.“ Anschließend begibt sich Kleine auf die Spurensuche im historischen Architekturdiskurs, allerdings sind die Fundstellen bei Hanno-Walter Kruft weit besser zu verstehen.

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3. Das dritte Kapitel

Ich wollte das Buch gerade retournieren. Aber dann, drittes Kapitel. Hier hat Kleine sich auf Anregung seines Lektors zu einem Ausflug in die Gegenwartsarchitektur anstiften lassen. Und der ist überwiegend sehr gut gelungen. Dass der Autor dabei unauffällig seine propagierten Arbeitsschritte Flächenfolgen – Raumbildungen – Raumfolgen – Raumgefüge vernachlässigt, hilft seinen Exkursionen ungemein. Er nimmt uns mit, lenkt verständnissuchend unsere Blicke, wie man es bei vielen Architekturkritiken vermisst. Endlich ist sein großer Wortschatz einmal hilfreich! Dieses Kapitel hätte den Umfang eines ganzen Buches verdient.

4. Merkwürdige Sprachbilder

Doch Holger Kleine gibt noch nicht auf. Es folgt in der vierten Abteilung eine Art Glossar, eine Buchstabiertafel archetypischer raumdramatischer Optionen. Wieder mit aberwitzigen Korrelationen, etwa wenn beim Maison de Verre die Mimik eines Lamellenfensters mit dem Gebrauch des danebenstehende Konzertflügels in Betracht gezogen wird. Quatsch?
Es heißt zwar, Intuition sei der Götze der Unwissenheit, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Kleines Klassifikationsfleiß das suchende Sich-Annähern an die Architektur erleichtert. Gut – man stößt bisweilen auf Merksätze, etwa über den fließenden Raum, die uns vor gedankenlos verwendeten Textbausteinen warnen könnten. Dennoch spüre ich mehr von der Atmosphäre eines Raums, wenn ich Thomas Mann, Martin Walser oder Juli Zeh lese. Auch ein Sommelier wird nicht mit einer chemischen Analyse die Qualität eines Großen Gewächses beweisen wollen, sondern in den Wein hineinschmecken und mit den je richtigen Worten sein Erlebnis kundtun.
Zugegeben, es ist es unverschämt, wenn man ein Buch nicht versteht, dem Autor die Schuld zu geben. Wir klappen es also zu und lesen auf dem Einband, es handele sich um „ein Grundlagenwerk für das architektonische Entwerfen“. Da bin ich mir jedoch ganz sicher: Das ist es nicht!