Reparieren. Umbauen. Abfall vermeiden. Die Leitvokabeln für den vor uns liegenden Baukultur-Jahrgang klingen anders als der notorische Optimismus, mit dem noch in den späten 2010er Jahren der jeweils nächste Bauboom beschworen wurde. Hat die Pandemie als Sand im Weltgetriebe unsere Sicht auf die Globalisierung verändert? Oder reichte schon die Container-Blockade vom Suezkanal? Ein Vorausblick in Sorge, eine ermunternde Buchempfehlung und ein Nachruf.
»Re-use« titelt die aktuelle Bauwelt (1.2022), der Baumeister beginnt seinen neuen Jahrgang mit der Devise »nachhaltig reparieren«, und zum wiederholten Male freut sich das dab, das Deutsche Architektenblatt, über »gelungene Umbauten«. Der Ton hat sich gewandelt, zumindest in den Verlautbarungen. Von nun an alle Kraft für die Sicherung der Ressourcen, nicht nur von der Bundesarchitektenkammer kommt ein fachpolitischer Ruck richtung mehr Materialsorgfalt: »Der Bausektor entscheidet maßgeblich über den Erfolg der Klimaschutzmaßnahmen.«1)
Rekorde
Hoffentlich ist das nötige Zeitfenster dafür nicht schon verpasst. Oder wie soll man jene Zustandsanalyse sonst verstehen, mit der die Fachjournalistin Jasmin Jouhar dann im Dezemberheft des Baumeister gleich dessen eigenes Heftthema »Holzbau« konterkarierte: Während hölzerne Architektur allenthalben gerade in Mode kommt, gehen dem deutschen Wald klimabedingt die gesunden Bäume aus.2) Selbst in der sibirischen Taiga könnte Nutzholz gar nicht schnell genug nachwachsen, um einen absehbaren globalen Baubedarf zu decken. Ein Umstand, der bislang allenfalls marktökonomisch, aber kaum ökologisch zur Sprache kommt. Wie bei den Seltenen Erden, die ja nicht ohne Grund »selten« heißen, weshalb man die sich abzeichnende Digi-Tech-Krise nicht einfach der Pandemie samt ihren zerrütteten Lieferketten anlasten sollte. Und dass nach Öl und Gas inzwischen sogar betontauglicher Sand zu robusten Verteilungskonflikten führt, stellt all die Jubelberichte von immer neuen Hochhausrekorden, ob in Dubai, Manhattan oder Berlin-Alexanderplatz, in ein mehr als fragwürdiges Licht.
Nicht einmal zwei existenzielle Krisenjahre einer globalen Pandemie haben relevante Teile der Weltgesellschaft zu erkennbarem Sinneswandel bewegen können. Eher im Gegenteil: »Mit allen verfügbaren Kräften wird die Konsumgesellschaft auf postpandemische Zeiten eingeschworen, in denen die Leute genau da mit der Vernichtung des Planeten weitermachen sollen, wo sie unterbrochen wurden.« Denn, so der Berliner Publizist Ulrich Seidler, »die Irreführung des Wachstumsversprechens ist systemrelevant für den Fortbestand des Kapitalismus.«3) Schärfer als je zuvor stehen Fragen nach Daseinsformen einer Postwachstumsgesellschaft im Raum. Wer sich solchen Fragen verweigert, wird Stabilität und Zusammenhalt westlicher Sozialordnungen längerfristig nicht mehr sichern können. »Ohne neue Institutionen, Identitätsideale und Mentalitäten jenseits der Wachstumslogik wird die Postwachstumsgesellschaft nur einen verschärften Wettbewerb um sich verknappende Ressourcen […] mit sich bringen.«4)
Neue Leitbilder
Charakteristisch für alle ernsthaft geführten Diskurse zur Zukunft ist mittlerweile, dass sie sich kaum noch um Freiheits- und Wohlstandsgewinne drehen. Wie bei der Klimadebatte um ein Zwei- oder Drei-Grad-Ziel ist bei den strategischen Zielen der Kipppunkt bereits erreicht – aus Schadensvermeidung wird Anpassung an Leidenszustände. An die Stelle von Nachhaltigkeit ist daher Resilienz als neue Zielvorgabe getreten, statt mit Entlastungen ist mit unentwegt neuen Zumutungen zu rechnen. Wenn uns aber eine Gesellschaft zunehmend eingeschränkter (materieller) Möglichkeiten bevorsteht – müsste nicht längst an neuen Leitbildern gearbeitet werden? Danach befragt, reagierte Barbara Steiner, die neue Direktorin der Stiftung Bauhaus Dessau, durchaus überraschend: »Es geht ja auch um alte Ideen. Weniger Verschwendung wurde jahrhundertlang praktiziert, es findet sich im Selbstverständnis vieler indigener Kulturen. Auch in der DDR haben Menschen aus der Erfahrung eines Mangels heraus einige sehr nachhaltige Konzepte entwickelt: Verbindlich geregelte Materialkreisläufe, Langlebigkeit der Produkte oder einfache Reparierbarkeit – alles Strategien zur Ressourcenschonung, die auch für uns unumgänglich werden, eher früher als später.«5)
Die Mangelgesellschaft als Lernmodell?
Wer sich mit dem – zugegeben provozierenden – Gedanken vertraut machen will, dem könnte ganz sicher ein Buch helfen, das die Lebens- und Werkerfahrungen eines auch unter West-Kollegen geschätzten, aber hauptsächlich in der DDR erfolgreichen Designers in vielen Facetten ausbreitet: Karl Clauss Dietel (Jg. 1934), ein von Bauhaus-Schülern ausgebildeter Formgestalter, Grafiker und Architekt, prägte mit elegant ausgewogenem Formgefühl viele Produkte der ostdeutschen Industrie wie Fahrräder, Schreibmaschinen, Computer-Hardware oder das krass technoide Heli-Radio mit seinen knalligen Kugelboxen. Legendär wurden seine visionären (daher nie gänzlich realisierten) PKW-Karossen und schließlich die Krönung seiner Design-Ambitionen – die Moped-Serie für die thüringischen Simson-Werke, an denen er sein gestalterisches Credo bis in letzte Konsequenz durchsetzen konnte – das »Offene Prinzip«. Bei dem bleiben alle Elemente innerhalb eines tragenden Grundgerüsts frei sichtbar und also dem Nutzer zugänglich, der je nach Bedarf und Fingerfertigkeit Teile reparieren, auswechseln oder das ganze Gerät funktionell nachrüsten kann. So war das Schicksal der Objekte in die Hände der »Prosumenten« gelegt, als praktische Alternative gegen die Wegwerf-Ideologie.
Karl Clauss Dietel war nicht nur ein immens kreativer Gestalter, sondern zugleich ein wortmächtiger Theoretiker, der sich den lästigen Zumutungen seines gesellschaftlichen Alltags nie schmollend entzog. Selbst noch dem allgegenwärtigen Mangel der DDR-Wirtschaft konnte er produktive Impulse abgewinnen. Seine sorgsam ausgearbeiteten Streitschriften für eine »Patina des Gebrauchs«6) als ästhetisches Mittel gegen frühzeitigen Produktverschleiß oder sein vehementes Anti-Styling-Manifest von den »großen fünf L« (langlebig, leicht, lütt, lebensfreundlich, leise) als Grundeigenschaften eines humanen Designs7) zeigten als Proklamationen praktischer Vernunft bereits vor fünfzig Jahren ganz einleuchtende Wege auf, die uns heute – mit inzwischen erforderlichem Moralaufwand – als bitteres Verzichtsprogramm offeriert werden.
Less is more and more
Dietels Plädoyers für den sorgsamen Umgang mit den materiellen Ressourcen dieser Welt – nicht als bußfertige Askese, sondern als bereicherndes Kulturverhalten – gehören ohne Zweifel zu den wegweisenden Gestaltungsmaximen der Moderne, ganz im Geiste von Ulrich Conrads‘ legendärer Sammlung »Programme und Manifeste des 20. Jahrhunderts«. Man muss nach ihnen ein wenig suchen in der umfangreichen Monografie, die aber dank ihrer sonstigen Materialfülle obendrein den Gesellschaftskontext beleuchtet, dem sich solch visionäres Denken verdankt. Welch glücklicher Umstand, dass dieser Stoff für die Nachwelt gerade noch gesichert wurde.8) Am 2. Januar 2022 ist Karl Clauss Dietel in Chemnitz verstorben. Seinen Nachlass, viele Tausend Design-Prototypen, Entwürfe, Modelle, Ideenskizzen, Fotos und Archivalien, hatte er noch zwei Jahre zuvor den Kunstsammlungen seiner selbstgewählten Heimatstadt übergeben.
1) „Der Gebäudebestand ist unsere wichtigste Ressource.“ Pressemitteilung der Bundesarchitektenkammer BAK vom 28.10.2021
2) Vgl. Jasmin Jouhar: „Ersatzdroge aus dem Wald“. In: Baumeister (München) 12/2021
3) Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung am 4. Feåbruar 2021
4) Frank Adloff: „Prekariat vs. Klima?“, In Berliner Debatte INITIAL, Nr. 3/2019.
5) „Das Bauhaus ist kein neutraler Ort“ Gespräch mit Barbara Steiner in: Bauwelt 25/2021
6) Clauss Dietel: „von den veredelnden spuren des nutzens oder patina des gebrauchs“, in: form+zweck (Berlin-Ost) 1973, Heft 1
7) Clauss Dietel: „funktionalismus entstand und lebt nur mit kunst“. In form+zweck (Berlin-Ost) 1982, Heft 6
8) Walter Scheiffele, Steffen Schuhmann (Hrsg.): „karl clauss dietel. die offene form“, erschienen bei Spector Books (Leipzig) 2021