Stilkritik (88) | Bekleiden und Verkleiden, beides ist zur Zeit nötig, um uns vor einer Virus-Übertragung zu schützen. Aber wir sollten dabei Gottfried Sempers gedenken und auf eine manierliche Ausführung achten.
Dieses komische Virus liefert täglich neue Beobachtungen und lenkt uns auf abwegige Gedanken. Allein diese bunten Mund-Nasen-Wimpel, mit denen wir uns auf der Straße unfreiwillig bemerkbar machen. Erstaunlich, dass die markenbewusste Modebranche sich so zurückhält und das Nähen dem Geschick der Heimarbeiter überlässt. Man hätte erwartet, dass Prada, Lacoste und Boss mit unverwechselbarem Design deutliche Zeichen setzen. Schon weil die Krawatte als Distinktionsattribut in Ungnade gefallen ist. Stattdessen fragt man sich bisweilen, ob die Auswahl dieser öffentlich gezeigten Flicken mit Bedacht vorgenommen wird, ob etwa bei Damen Rosagerüschtes oder Schwarzglänzendes Rückschlüsse auf ihre verborgenen Textilien erlaubt. Diese Eingebung ist schon deshalb naheliegend, weil man sich immer ein wenig albern vorkommt, wenn man zwischen zwei Einkäufen seine Maske abnimmt und sie vorsichtig an den Bändeln spazieren führt – als würde man seiner Liebsten den im Bett vergessenen Stringtanga hinterhertragen.
Bekleidungstheorie eben. Von hier ist es nur ein kurzer Schritt zur Architektur. Hülle und Verhüllung, Raumbildung mit Wand, Oberfläche und Ornament ringen seit Gottfried Semper um die Vorherrschaft. Wenn wir also betrachten, wie eilig man in den Läden und Praxen kunstlose Scheibenbarrieren auf den Tresen errichtet, um eine virale Ansteckung zu verhindern, könnte man annehmen, mit dem hilflosen Gebastel wollten uns Verschwörungsanhänger die fehlende Plausibilität wissenschaftlicher Erkenntnisse vor Augen führen. Tatsächlich zeigen Schreiner, Schlosser und Hausmeister gerade ungeschönt Kostproben ihres Talents, sie schrauben aus Latten und Blechprofilen Stellagen, an deren angehängten Folien und Acrylscheiben sich der Corona-Virus höchstens totlachen wird.
Dabei gab es vor Jahrzehnten bereits wirkungsvolle und vor allem ansehnliche Lösungen. Auf jedem Postamt, im Bahnhof, in Bankfilialen und Polizeiwachen standen solide Trennscheiben zwischen den Diensthabenden und dem Publikum, selbst der Pförtner und die Kinokasse wurden von einer gläsernen Vitrine geschützt. „Hier sprechen“, stand unter einem ovalen Fensterchen, dessen perforierte Scheibe mit einem durchsichtigen Plastikschild aufgedoppelt war. Da wäre der Corona-Virus ganz schön angeschmiert gewesen. Schalter hießen diese hermetischen Zellen, das klang bereits wie eine Anordnung. Inzwischen wurden sie durch publikums- und virenfreundliche Service-Desks ersetzt. Vermutlich ist das ein Ergebnis der falsch verstandenen antiautoritären Bewegung. Gelebte Demokratie und so.
Nein, da bin ich ganz altmodisch. Lieber akzeptiere ich einen Verkäufer hinter Panzerglas als dass ich mit einem Damenslip vor dem Gesicht herumlaufe.