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„Ich möchte, dass du mir ein Zelt brächtest…“ – es gibt nicht viele Menschen, die mit wenigen Worten viel bewirken können. Einer von ihnen war Berthold Burkhardt, der am 3. Juni 2025 im Alter von 83 Jahren nach langer schwerer Krankheit verstorben ist.

Alle Abbildungen: Berthold Burkhardt in Lehrveranstaltungen der TU Braunschweig, 2008-2011 
(Fotos: Sebastian Hoyer, Braunschweig)

Berthold Burkhardt gehörte in jungen Jahrenzum engeren Kreis um Frei Otto, dem die Uni Stuttgart just in diesen Tagen zum 100sten ein großes Symposium widmete. Wie sein Lehrmeister verstand Burkhardt die Architektur als einen Prozess, Try und Error einkalkuliert, aber immer mit Erkenntnisgewinn für zukünftige Projekte. Dabei blieb er immer sehr bescheiden, und seine zurückhaltende Art hat Türen geöffnet für neue Sichtweisen. Burkhardt hat sich zeitlebens für den Leichtbau eingesetzt, eine Architektur, die er als langjähriger Mitarbeiter von Frei Otto, stets als ein Habitat verstanden hat, das nach den Gesetzen der Natur aus einer materialgerechten, leichten Konstruktion und Hülle geformt ist.

Nach einer Maler- und Maurerlehre begann Berthold Burkhardt an der Technischen Hochschule Stuttgart das Studium der Architektur, das ihn schnell mit aktuellen Fragestellungen zum Bauen in den Kontinuitäten und Brüchen der Nachkriegszeit in Berührung brachte, auch mit führenden Vertretern einen „Neuen Stuttgarter Schule“ wie Curt Siegel, Horst Linde und Rolf Gutbrod: Sie standen nach 1945 für den Aufbruch in einen neue Zeit, so wie auch Frei Otto, der ihn 1966-1968 an ersten größeren Bauprojekten beteiligte: an Zeltbauten in Konstanz, aber auch am Expo-Pavillon 1967 in Montreal, beide in Kooperation mit dem Traditionsunternehmen für den Zeltbau Stromeyer +Co. Burkhardt zog es dann 1969 auch in das neu gegründete Institut für den Leichtbau (IL) Frei Ottos nach Stuttgart. Es erwies sich schnell als ein Experimentierfeld moderner Architektur und Talentschmiede junger Architekten und Ingenieure. Dabei handelte es aber weniger um ein Hochschulinstitut im herkömmlichen Sinne als vielmehr eine neuartige Versuchsanordnung aus Messmodellen, darunter Pneumoelle aus Gips, Hängenetze aus feinen Ketten und Minimalflächen aus Seifenhäuten, um neue Wege für die Architektur nach einem gemeinsamen Credo zu finden: Natürlich Bauen – Natürliche Konstruktionen. Die für eine Ausstellung im Kunsthaus Zürich hergestellte Rekonstruktion eines Hängemodells der Kirche Colonia Güell von Antonio Gaudi auf einer Fläche von 24 qm sprengte 1982 zeitweilig gar die Raumkapazitäten des IL, das mit seinen Forschungen internationale Stahlkraft entwickelte: Kenzo Tange, Buckminster-Fuller, Konrad Wachsmann u.a. fanden sich dort nicht nur zu Festen und Feiern ein. Hermann Finsterlin riet sogar, die mittlere Zeltstange des IL – ein Versuchsbaus für die Pavillonbau in Montreal – durch einen „Himmelshaken“ zu ersetzen, um der Schwerelosigkeit näher zu kommen.

Am IL, das man skeptisch-liebevoll auch „Spinnerzentrum“ nannte, wurde Berthold Burkhardt Vorstandsmitglied des DFG-Sonderforschungsbereichs SFB 64 „Weitgespannte Flächentragwerke“. Zudem übernahm er auch die Leitung des SFB 230 „Natürliche Konstruktionen, Leichtbau in der Architektur“. Viele Jahre forschte Burkhardt am IL in der Arbeitsgruppe „Biologie und Bauen“, die sich in Abgrenzung von der Bionik nicht der Übertragung der Systeme oder Formen der Natur in die Technik oder Architektur verschrieben hatte, sondern der Beschreibung und dem „Erkennen physikalischer Entstehungsprozesse in der lebenden und nicht lebenden Natur und sowie in der Technik.“

Burkhardt ging es nicht nur um aktuelle Entwürfe für die Zeit, sondern auch um ihre historische Evidenz: So befasste er sich von Beginn an auch mit der Geschichte der Zeltbaus, flankiert von Ausstellungen und Vorträgen, stets im Bemühen das Hier und Jetzt der Architektur mit der Vergangenheit zu verknüpfen. In Anbetracht der Tatsache, dass die Geschichte des Zeltbaus in der Kunstgeschichte und Architekturlehre bis heute unterbelichtet ist, hat Burkhardt für Forschung und Lehre Großes geleistet. Es entstand durch das Forschen und Sammeln ein umfangreiches Archiv zur Geschichte des Zeltbaus in Mitteleuropa. Burkhardts Sachverstand war gefragt: von verschiedenen Museen bei der Restaurierung von Zeltkonstruktionen, ihren Zuschnitten und einer museumsgerechten Montage, darunter die Paramentenwerkstatt der Von-Veltheim-Stiftung bei der Restaurierung der sog. Türkenzelte aus dem 17. Jahrhundert, Beutestücke aus der Schlacht um Wien von 1663, die heute im Historischen Museum in Berlin aufbewahrt werden.

Mit der Begeisterung für die Formenvielfalt des Zeltbaus konnte sich Berthold Burkhardt neue Grundlagen für das Bauen mit Netzen, Membranen und Gittern erarbeiten. Sein ganzes Bemühen auf diesem Feld diente einer Neubewertung von Prozessen temporärer Inanspruchnahme von Orten durch eine angemessene Technik. Es ist der Traum von einem einfachen, aber kultivierten Leben in und mit der Natur, ein Traum aus „Tausendund eine Nacht“:

„Ich möchte, dass du mir ein Zelt brächtest,
das so leicht ist, dass ein einziger Mann
es in seiner hohlen Hand tragen kann und
doch auch groß genug ist, dass es meinen
Hof, mein ganzes Heer und Lager aufnehmen
kann.“ (BB 2000: Geschichte des Zeltbaus)

In diesen Worten schwingt auch der Wunsch nach Leichtigkeit, Anpassungsfähigkeit und Flexibilität im Bauen mit, wenn nicht gar die Forderung nach Resilienz im Bauwesen, was Berthold Burkhardt angetrieben hat: Die Übertragung von Jahrtausende alten, leichten Konstruktionsformen in zeitgenössische Bauaufgaben.

1984 folgte Berthold Burkhardt dem Ruf an die Technische Universität Braunschweig, um das Institut für Tragwerksplanung zu leiten. Es war sein Verdienst, doch einige Generationen von Tragwerksplaner-, Architekt- und BauingenieurInnen mit seinem Wissen um die Geschichte und Gegenwart leichter Bauweisen zu begeistern. Dabei entwickelte Burkhardt auch schnell ein außerordentliches Interesse für die Wissenschaftsgeschichte der Hochschule selbst. Es dauerte nicht lange, bis er sich dem Phänomen der „Braunschweiger Schule” annahm und Interviews mit seinen VorgängerInnen an der heutigen Großfakultät führte, um dem Mythos der „Braunschweiger Schule” auf den Grund zu gehen. Dabei kam es zu vielen Begegnungen, unter anderem mit Dieter Oesterlen und Friedrich Wilhelm Kraemer, den führenden Vertretern der „Braunschweiger Schule“ nach 1945. Er bemühte sich stets um Identitätsstiftung, wenn es um Braunschweig als prägende Ausbildungsstätte für architektonisches Entwerfen ging. Durch sein Gespür für die Aktualität und Endlichkeit künstlerischen Schaffens hat er Bleibendes hinterlassen. Dies betrifft sein Wirken innerhalb und außerhalb der Hochschule.

Berhold Burkhardt (zweiter von links) mit Irene Meissner und Werner Durth 2024 bei der Eröffnung des sanierten Kanzlerbungalows in Bonn. Berthold Burkhardt hatte bei der von der Wüstenrot Stiftung geleiteten Sanierung maßgeblich mitgewirkt. (Bild: Ursula Baus)

Berhold Burkhardt (zweiter von links) mit Irene Meissner und Werner Durth 2014 im sanierten Kanzlerbungalow in Bonn. Berthold Burkhardt hatte bei der von der Wüstenrot Stiftung geleiteten Sanierung maßgeblich mitgewirkt. (Bild: Ursula Baus)

Noch weit bevor die Symbiose aus Denkmalpflege und Konstruktion durch den SSP 2255 „Kulturerbe Konstruktion“ in den Fokus der Wissenschaft rückte, betrieb Berthold Burkhardt eine konstruktive Denkmalpflege. Für die Wüstenrot Stiftung fungierte er als Gutachter und Berater bei der Erhaltung historisch wertvoller Bauten, darunter auch der Einsteinturm von Erich Mendelsohn, dem er entwurfsimmanente, intrinsische Bauschäden attestierte, nicht ohne den hohen Wert diese Experimentalbaus für die Architekturgeschichte der Moderne voll und ganz anzuerkennen. Diese Erkenntnis teilte er mit dem Kunsthistoriker Norbert Huse (1941-2013), mit dem er eine enge Freundschaft verband durch viele gemeinsame Begutachtungen und Sanierungsprojekte an Bauten der Moderne und Nachkriegsmoderne, darunter das Haus Schminke von Hans Scharoun, das Arbeitsamt von Walter Gropius in Dessau oder das Bauhausgebäude selbst als leuchtende Ikone der Klassischen Moderne. Beim Kanzlerbungalow in Bonn von Sep Ruf bewies er nach der denkmalpflegerischen Bewertung der Raumbereiche ein besonders Fingerspitzengefühl und konstatierte zugleich Grundsätzliches für die denkmalpflegerische Praxis: 

„Gerade in [der] simultanen Präsentation unterschiedlicher Zeitschichten wird deutlich, was grundsätzlich für alle denkmalpflegerischen Maßnahmen gilt: Zeit lässt sich nicht anhalten oder gar zurückdrehen. Jede Baumaßnahme, sei es ein Neubau, eine Rekonstruktion oder auch eine denkmalpflegerische Instandsetzung, schafft einen Zustand, der in dieser Form nie zuvor existiert hat. Das Nebeneinander authentischer Zeitspuren ermöglicht die Wahrnehmung des Gebäudes als historisches Dokument in seiner komplexen Vielschichtigkeit dabei sehr viel deutlicher als die Beschränkung auf eine einzige Zeitschicht. Nach dem Abschluss der von der Wüstenrot Stiftung durchgeführten Sanierungsarbeiten ist der Kanzlerbungalow sowohl in seiner ursprünglichen architektonischen Qualität als auch in seiner Bedeutung als historischer Ort für die bundesdeutsche Nachkriegsgeschichte erlebbar.“ (BB 2000: Denkmalpflege der Moderne)

Neben der Begeisterung für das jüngere Bauerbe ging es Burkhardt immer um die Entwicklung evidenzbasierter Praktiken der Bauwerkserhaltung, um die Rettung von bedrohtem Kulturgut der Moderne auf dem Feld von Architektur und Bauingenieurswesen. Überzeugungsarbeit hierfür leistete er im gemeinsam mit Martin Schumacher gegründeten Braunschweiger Planungsbüro Burkhardt + Schumacher Architekten und in zahlreichen renommierten Vereinen, darunter der Deutsche Werkbund, docomomo, Europa Nostra, ICOMOS, die Alvar Aalto Gesellschaft, die Gesellschaft für Bautechnikgeschichte und die Freunde der Weißenhofsiedlung Stuttgart. Mit besonderem Engagement widmete er sich dem Monitoring von Welterbestätten und leitete von 2012-2018 sogar die Monitoringgruppe bei ICOMOS-Deutschland. Das hinderte ihn aber nicht daran, ein Symposium und Festakt zum 85.ten Geburtstag von Frei Otto zu begleiten, dessen Schriften von 1951-1983 er schon im Jahr seiner Berufung an die TU Braunschweig veröffentlicht hatte.

Für die Jüngeren blieb Burkhardt auch nach seiner Emeritierung 2011 stets ein Ansprechpartner und Mentor, fördere ihre Ideen und trat offen als ein Fürsprecher für den jungen Bestand auf, sei es bei internationalen Tagungen wie „Nachkriegsmoderne kontrovers“ (2012) , „Bauen für die Massenkultur“ (2015) und zuletzt im „DFG-Netzwerk Bauforschung Jüngere Baubestände“ (2018-23), oder sei es im Bemühen um die Erhaltung der denkmalwürdigen Nachkriegsmoderne im Bestand der TU Braunschweig, wo er frühzeitig eine offene Kommunikation um das arg vernachlässigte Bauerbe einforderte (#Baunetzwoche Braunschweiger Schule 251: https://is.gd/5Dj9eZ), nicht selten mit dem Hinweis, dass Architektur immer auch einen Abwägungsprozess zwischen Alt und Neu einfordert. Schließlich gehe es nicht zuletzt bei der Konstruktion um einen kulturellen Wert, der sich nicht für jeden sogleich erschließt, der Erklärungen bedarf, die aber dann um so leichter für Entscheidungen im Bestand der Moderne nachvollziehbar sind. Sein Vermächtnis gilt es in Erinnerung zu behalten, sein Erbe fortzuschrieben.

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