Einer der ganz Großen: Im Alter von 86 starb Jörg Schlaich am 4. September 2021 in Berlin. Maßgeblich prägte er die Ingenieurbaukunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Mit der Ausrichtung seines Büros zu einer globalen technischen und sozialen Verantwortung und seiner Lehre an der Universität reicht sein Einfluss weit über seine eigene Tätigkeit hinaus.
Man kann viele Bauten aufzählen, die Jörg Schlaich und seinen Mitstreitern zu verdanken sind. Auch manches Ungebaute, das es verdient hätte gebaut zu werden. Aber das Allererste, das mir zu ihm einfällt, und das ich an ihm immer außerordentlich geschätzt und bewundert habe, ist etwas ganz anderes: Sei es im persönlichen Gespräch oder im Vortrag vor großem Publikum – er konnte die komplexesten, die schwierigsten technischen Sachverhalte in klaren Worten, gern auch mit einfachen, schnell an die Tafel gemalten Skizzen erklären, verständlich machen, die Zuhörerschaft überzeugen.
Und noch etwas zeichnete ihn aus: Er hat kein Brimborium um seine Person gemacht, er hat nie Starallüren entwickelt. Das mag man mit seiner Herkunft erklären – er stammt aus einer Pastorenfamilie und ist im schwäbischen Remstal aufgewachsen -, aber das scheint mir zu kurz gegriffen. Jörg Schlaich wird es nicht verborgen geblieben sein, dass er einer der weltweit bedeutendsten Ingenieure des 20. Jahrhunderts war. Und trotzdem blieb er sein Leben lang »auf dem Teppich«, blieb nahbar, geduldig, kooperativ.
Bescheidenheit und Zurückhaltung sind bewundernswerte Tugenden, haben aber in Zeiten, in denen Alles und Jedes sofort herausposaunt und getwittert wird, einen schweren Stand. Die Olympiadächer in München kennt wohl jeder. Fragt man nach den damit verknüpften Namen, werden Günter Behnisch und Frei Otto genannt – und selten Jörg Schlaich, der das Projekt im Ingenieurbüro von Fritz Leonhardt betreut hat – und damit erst möglich machte. Dass andere mehr Wirbel um ihren Beitrag machten und er dabei zu kurz kam, focht ihn nicht an, genauso wenig wie Rudolf Bergermann, den er bei Leonhardt kennengelernt hatte und mit dem er dann ein eigenes Büro gründete.
Ich kenne nur ein Projekt, bei dem er nachdrücklich auf seine Autorenschaft pochte, bei dem er nicht verhehlen konnte, sehr stolz darauf zu sein: »Sollte mal jemand fragen, was auf meinem Grabstein stehen soll: Er baute die Hooghly-Bridge in Indien.« Wenn man dann nachsetzte, konnte man viel darüber erfahren, was ihn antrieb, was ihn bewegt hat. Die Hooghly-Bridge ist bemerkenswert, aber kein »Hingucker« wie zum Beispiel die Golden Gate Bridge oder die Brooklyn-Bridge. Sie ist auch kein herausragendes Beispiel für ingenieurtechnische Innovation im Sinne des Hightech. Es ging Jörg Schlaich um ganz etwas anderes: Er hat die 457 Meter weit spannende Brücke so entworfen, dass sie von heimischen Bauarbeitern errichtet werden konnte, mit Techniken, die sie beherrschten. Und mit – nicht schweißbaren – Stahlqualitäten, die dort zu haben waren. Wenn er davon erzählte, mit welch altmodischen und doch zuverlässigen Methoden die Knotenpunkte genietet wurden, konnte er sich richtig in Begeisterung reden. Ja, ich wünsche mir, dass man dem inständig vorgetragenen Wunsch von ihm, dem „Mann, der die Hooghly-Bridge baute«, Rechnung tragen wird.
Die Bildstrecke zeigt folgende Brücken: am Max Eyth-See in Stuttgart, in Bochum die Erzbahnschwinge, in Kelheim über die Donau, in Stuttgart der Rosensteinsteg, in Duisburg die Katzbuckelbrücke.
Natürlich baute er nicht nur die Hooghly-Bridge. Pars pro toto werden hier einige gezeigt: Die in S-Form um zwei Pylone herumgeführte »Erzbahnschwinge« in Bochum, die Fußgängerbrücke in Duisburg, die zur Durchfahrt von Schiffen einen »Katzbuckel« machen kann, die Glacisbrücke in Minden und die über den Neckar schwingende Max-Eyth-See-Brücke.
Brücken, Stadien und Türme waren aber nicht alles. Neue Wege der Energiegewinnung zu erforschen, lag ihm mindestens genauso am Herzen. Am aufregendsten und auch erfolgversprechendsten waren seine Entwürfe für Aufwindkraftwerke, die er dort bauen wollte, wo die Sonne so zuverlässig wie erbarmungslos auf den Wüstensand brennt – in Nordafrika. Mehr als ein erstes Modellprojekt in Spanien ist leider nie realisiert worden. Er hat sich zeitlebens dafür verkämpft und ist doch immer wieder nur auf taube Ohren gestoßen – vor allem bei Politikern hier in Deutschland. Es hätte ein Entwicklungshilfeprojekt werden können, von dem beide profitiert hätten, die Einheimischen ebenso wie die Geldgeber. Leider fehlte der politische Wille, ein so wichtiges Projekt zu unterstützen und voranzutreiben. In der db wurde bereits 1988 über das Modellprojekt in Spanien berichtet. Das ist jetzt 33 Jahre her. Vielleicht wird man sich im Zeichen der gegenwärtigen Klimaschutz-Debatten daran machen, seine Pläne wenigstens posthum zu realisieren.