Die von Hoffnung getragene Zeile „So viel Anfang war nie“ wird gelegentlich Hölderlin zugeschrieben, doch stellte der SPIEGEL im Januar 1992 klar, dass Walt Whitman in seinen „Grashalmen“ („Song of Myself“, 3) geschrieben hatte: „There was never any more inception than there is now.“ 1) Wie auch immer: Drei neue Bücher erinnern an die Nachkriegsmoderne, in der großartige Experimente die deutsche Architektur zu einer international relevanten Blüte führten.
Georg Vrachliotis klärt im Vorwort den Rang des Pavillons in der internationalen Architekturgeschichte, der die Bundesrepublik nicht nur vom Stigma des herrschaftsbedingten Monumentalismus befreite, sondern per se das Zusammenwirken von Form und Technik einzigartig in den Dienst eines umweltverträglichen Bauens stellte. Joachim Kleinmanns erläutert anschließend umfassend den wissenschaftlichen und sozioökonomischen Kontext, in dem der Pavillon konzipiert wurde, als auch die persönlichen Urheberschaften von Rolf Gutbrod (1910-1999) und Frei Otto (1925-2015). Dabei wird auch deutlich, welche Aufmerksamkeit die Bundesregierung mit ihrer Bundesbaudirektion seinerzeit diesem Architekturereignis schenkte – davon ging, nebenbei gesagt, bis heute fast alles verloren, weil das inzwischen verantwortliche Bundeswirtschaftsministerium den Eventcharakter über den architektonischen Anspruch stellte.
Für den unkonventionell entworfenen Pavillon in Montreal stellte sich in den 1960er Jahren von Anfang Skepsis zur Baubarkeit ein. Doch Kleinmanns stellt nochmals klar, welche couragierte Rolle der damalige Bundesbaudirektor Carl Mertz spielte. Unterstützung hatte der Entwurf auch in der Presse gefunden, namentlich bei Peter M. Bode.
Im Anschluss werden die jeweiligen Anteile von Rolf Gutbrod und Frei Otto und vielen anderen geklärt, der Bauprozess nachgezeichnet, Konstruktionsprinzipien und Details vorgestellt und die Wirkungsgeschichte ausgebreitet. Eindrucksvoll ist die Fülle des Archivmaterials, das den Band zu einer Fundgrube macht, man kommt aus dem Schauen nicht mehr raus. Vielleicht hätte der Verlag eine bessere Abbildungsqualität in Angriff nehmen können – manches Schwarzbild versumpft doch, obwohl das Original sicher mehr hergegeben hätte. Dennoch: Was hier gezeigt wird, lässt schlagartig die Dürftigkeit neuer deutscher Repräsentationsbaukunst in Erscheinung treten. Nicht nur, dass beispielsweise Gutbrods Deutsche Botschaft in Wien eben abgerissen wurde und durch einen 0815-Bau ersetzt wird. Wie schon angedeutet, spielen die jüngeren Expo-Pavillons keine besondere Rolle in der Architekturentwicklung mehr – und das ist symptomatisch.
Man möchte sich nicht vorstellen, wie es um herausragende Bauten der deutschen Nachkriegsmoderne ohne das Engagement der Wüstenrot Stiftung bestellt sei. Der Kanzlerbungalow von Sep Ruf in Bonn, Schalenbauten von Ulrich Müther auf Rügen, Ludwig Leos Umlauftank 2 in Berlin, Hans Scharouns Haus Schminke in Löbau sowie seine Geschwister-Scholl-Schule in Lünen und vieles mehr: Beraten und begleitet von kompetenten Bauhistorikern und -praktikern werden Bauten erhalten und, wo unbedingt nötig, ertüchtigt, damit kommende Generationen noch sehen und erleben können, was seinerzeit geleistet wurde.
Und nun die wohl jedem Berlinbesucher bekannte Kapelle der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche am Breitscheidtplatz. Das großartige Ensemble der Kirche, die Egon Eiermann um die Turmruine herum gebaut hat, behauptet sich in einer Umgebung aus zum Teil banaler Kommerz- und exaltierter Stararchitektur mit einer gestalterischen Kraft, die ihresgleichen sucht. Das gilt auch für die kleine Kapelle, die 2016-17 von der Wüstenrot Stiftung denkmalgerecht instandgesetzt worden ist. Im Buch ist nun dokumentiert, was die notwendige, teils mühselige, aber auch Respekt vor den Urhebern einflößende und dann auch beglückende Arbeit am Denkmal ausmacht.
Beiträge zur kirchen- und bauhistorischen Bedeutung sowie der Nutzungsgeschichte leiten ins Buch ein. Die denkmalgerechte Instandsetzung der Holzoberflächen innen, der einzigartigen Betonwaben außen, die Wiederherstellung des Gartenumgangs werden im Grundsatz und in der bautechnischen Umsetzung dargestellt, wobei die Fülle der Abbildungen eine sehr aussagekräftige Ergänzung zum Text bietet.
Einmal mehr zeigt sich, dass rechtzeitige, kenntnisreiche Pflege nottut. Denn wenn Bauten wie die Gedächtniskirche und ihre Kapelle, die mit technischer Innovation errichtet worden sind, falsch in Schuss gehalten werden, verursacht die in einer fachgerechten Sanierung erheblichen Mehraufwand. Hier im Ensemble der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche wurde und wird eine Bausubstanz wiederbelebt, die mit hohem architekturgeschichtlichen Wert einerseits, mit atmosphärisch einzigartigem Erlebsniswert andererseits künftige Generationen begeistern wird.
Endlich ist auch ein weiterer Schatz des Nachkriegsmoderne in einer umfassenden Publikation gehoben: Der in Simmern (Hunsrück) geborene Architekt Bernhard Hermkes (1903-1995) hatte unter anderem in München und Berlin sowie bei Paul Bonatz in Stuttgart studiert und beim „neuen Frankfurt“ unter Ernst May in Frankfurt gewirkt. Aber vor allem in Hamburg und Berlin fand Hermkes seine Wirkungsstätten. Die Grindelhochhäuser, der Audimax der Universität Hamburg, die dortige Großmarkthalle aber auch die Architekturfakultät der TU Berlin und viele weitere Bauten hoher Architekturqualität sind längst anerkannte Zeugnisse der Baugeschichte. Hermkes war zudem Professor für Baukonstruktion und Industriebau an der TU Berlin – an der Akademie der Künste in Berlin landete auch sein Archiv.
Zudem erschien in Berlin eine Ausstellungsbroschur zum Werk von Hermkes, hrsg. von Jörg Gleiter und Hermann Schlimme. ISBN 978-3-00-060030-2