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Die Vielfalt einer breit gefassten Moderne in Europa weist im Blick gen Osten noch Wissenslücken auf. 100 Jahre Tschechoslowakische Hussitische Kirche bieten den Anlass, Aufmerksamkeit für architekturgeschichtliche Entdeckungen zu wecken.

oben: «Husův sbor» im südöstlichen Prager Stadtquartier Vršovice

Das «Husův sbor» im südöstlichen Prager Stadtquartier Vršovice ist ein auffälliges Gebäude: Ein gelblich gestrichener, klar gegliederter Stahlbetonbau mit kräftig gegliederter Fassade. Im Erdgeschoss eine Bankfiliale, darüber Wohnungen, und alles überragt von einem Turm mit einem würfelförmigen, nachts leuchtenden Aufsatz, der von einem Kelch und einem Kreuz bekrönt ist – dem deutlichsten Zeichen dafür, dass es sich hier nicht um ein beliebiges Wohn- und Geschäftshaus aus den Jahren 1929-30 handelt, sondern (auch) um einen Sakralbau: Der Saal für den Gottesdienst befindet sich auf der rückwärtigen Seite und steht im rechten Winkel zum Baukörper entlang der Straße. Das Gotteshaus gehört der Tschechoslowakischen Hussitischen Kirche, einer religiösen Minderheit in Tschechien (und der Slowakei), die ausserhalb ihres Hauptverbreitungsgebiets nur wenig bekannt ist. In diesem Jahr feiert die Glaubensgemeinschaft, die sich aus der Römisch-Katholischen abgespalten und (insbesondere im späteren 20. Jahrhundert) der Protestantischen Kirche angenähert hat – ihren 100. Geburtstag. Anlass für einen Rückblick, der gerade aus architekturhistorischer Perspektive lohnt.

Republik und Schisma

Die Tschechoslowakische Kirche, die das «hussitisch» erst seit 1971 im Namen trägt, wurzelt in nationalen Bestrebungen, die im Verlaufe des 19. Jahrhunderts in diversen Kronländern der Habsburgermonarchie an Einfluss gewannen, so auch in Böhmen und Mähren. Gegenüber der Dominanz der deutschsprachigen Machteliten stärkte sich die tschechische Kultur. Und auch in Kreisen der Römisch-Katholischen Kirche, die seit der Gegenreformation das Land dominierte, brach sich Reformwille Bahn, der jedoch seitens der Kurie im Vatikan ignoriert wurde. Nach dem Ende des Habsburgerreichs wurde die Tschechoslowakische Republik als multiethnischer Staat mit einem tschechischen Bevölkerungsanteil von mehr als 50 Prozent gegründet – günstige Voraussetzungen für ein kirchliches Schisma, hatten die Reformer doch schon lange auf Gottesdienste in der Volkssprache gedrängt. Dazu kamen weitere Postulate, so die Abkehr vom Zölibat und der Laienkelch, mithin das Abendmahl für die Gläubigen in zweierlei Gestalt. Der rote Kelch wurde zum Emblem der 1920 Tschechoslowakischen Kirche, und er verwies zugleich auf den Reformator Hus, der als tschechischer Volks- und Nationalheld galt. Gab sich die 1. Republik auch konfessionell neutral, so geriet der 510. Todestag von Hus im Jahr 1925 doch zu einem identitätsstiftenden und – zum Missfallen der Katholischen Kirche – staatstragenden Erinnerungsritual, an dem auch Staatspräsident Tomáš G. Masaryk teilnahm. Die Tschechoslowakische Kirche stand, wie schon der Name belegt, dezidiert positiv zum neuen demokratischen Staatswesen. Bis zur Weltwirtschaftskrise 1929 erhielt sie auch Unterstützung für ihre Bauprojekte, doch zur eigentlichen Staatskirche avancierte sie nicht, da die allzu offensichtliche Priorisierung bestimmter Volksgruppen oder Religionsgemeinschaften die ohnehin fragile Balance des multiethnischen Staats gefährdet hätte.

«Husův sbor», 1926 (Bild: Hubertus Adam)

«Husův sbor» in Budweis, 1926 (Bild: Wikimedia free)

Die Suche nach adäquatem Ausdruck

In der Frühphase fanden die Gottesdienste in übertragenen katholischen Kirchenbauten oder in Gotteshäusern anderer Glaubensgemeinschaften statt. Mit wachsender Mitgliederzahl und zunehmender Konsolidierung wurden Neubauten zum Thema. Doch wie diese aussehen sollten, darüber herrschte zunächst ebenso Unklarheit wie über die konkrete theologische Ausrichtung der neuen Glaubensgemeinschaft. Zwar gliederte sich die Tschechoslowakische Kirche in von Bischöfen geleitete Diözesen, doch besassen die Gemeinden durch eine presbyteriale Verwaltung ein hohes Mass an Autonomie. Versuche, durch die Bereitstellung von Musterentwürfen 1924 eine gewisse Einheitlichkeit der Bauten zu erzielen, waren daher nur bedingt erfolgreich. Einigkeit bestand vor allem darin, dass man sich vom longitudinalen Kirchenraum katholischer Prägung mit Chor absetzen wollte. Die ersten Bauten beweisen, wie formal und gestalterisch unterschiedlich die Lösungen ausfielen.
Das 1924 errichtete Budweiser «Husův sbor» – die Tschechoslowakische Kirche nannte ihre Gebetssäle stets schlichte «hussitisches Haus» – ist als dreischiffige frühchristlich anmutende Basilika konzipiert, während das Äussere Elemente des damals virulenten Rondokubismus zeigt, einer an volkstümlichen slawischen Motiven orientierten nationalen Spielart des Art Déco.

Prag-Dejvice, Verwaltung und Studentenwohnheim der tschischen hussitischen Kirche

Prag-Dejvice, Verwaltung und Hochschule der tschechischen hussitischen Kirche

In Prag-Dejvice (Jiří Stibral, 1927-28) verbirgt sich der Versammlungsraum hinter einem wie aus Zeit gefallenen eklektizistischen turmbekrönten Baukörper, in dem sich Hauptsitz und Hochschule der Kirche befinden. Neogotisch zeigen sich auch die Netzgewölbe im Saal selbst, welche auf Benedikt Rieds berühmten, zwischen Spätgotik und Renaissance oszillierenden Vladislav-Saal auf dem Hradschin anspielen; entscheidend für den retrospektiven Ausdruck war der Gründer und erste Patriarch der Tschechoslowakischen Kirche, Karel Farský.

Čáslav

Kirche in Čáslav, 1926

Wie ein neoklassizistisches Theater wirkt der Kirchenbau im mittelböhmischen Čáslav (Bohumír Kozák, 1926), während sich Hubert Aust bei dem Projekt im mährischen Olmütz (1924-26) an der kräftigen Formensprache seines Lehrers Jože Plečnik orientierte. Das Gebäude in Olmütz ist auch insofern interessant, da hier relativ früh ein typisches Bauprogramm aus Gebetsraum, Verwaltung und Wohnungen sowie Veranstaltungssaal Umsetzung fand. 1937 wurde der Veranstaltungsaal in ein Kolumbarium umgewandelt – ein Phänomen, das sich auch an anderen Orten beobachten lässt. Die Tschechoslowakische Kirche vertrat nicht nur die seit der Staatsgründung legalisierte Feuerbestattung – Krematiorien zählten in vielen Kommunen zu den architektonisch anspruchsvollen Prestigebauten der jungen Republik –, sie realisierte auch, dass die Vermietung von Kästen für die Aufstellung von Urnen kontiunierliche Einnahmen bedeutete.

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Olmütz

Diese waren um so nötiger, als der Bau der Gotteshäuser viel Gemeinden vor grosse Herausforderungen stellte. Denn viele Baukosten waren nicht durch staatliche Zuschüsse und den Baufonds der Kirche gedeckt; einen großen Teil mussten die Gemeinden selbst tragen. Neben Spenden waren Eigenleistung in Form von «Freiwilligenarbeit» der Mitglieder, alternativ auch deren finanzielle Kompensation übliche Mittel.

Kralove (Bild oben: Hubertus Adam)

Hradec Králové (Bild oben: Hubertus Adam)

Radikale Moderne

Konzeptionell von Anbeginn integriert in das Bauprojekt war ein Kolumbarium in das Husův sbor von Hradec Králové, dem früheren Königgrätz. Die am Oberlauf der Elbe gelegene ostböhmische Metropole ist ein völlig zu Unrecht nur wenig bekanntes Musterbeispiel für gelungenen Städtebau des frühen 20. Jahrhunderts. Das Verdienst, die einstige Festungsstadt in eine moderne Metropole verwandelt zu haben, gebührt zuallererst dem von 1895 bis 1929 amtierenden Bürgermeister František Ulrich, der zunächst mit dem bei Otto Wagner ausgebildeten Jan Kotěra zusammenarbeitete. Kotěra gilt als Begründer der modernen tschechischen Architektur; eines seiner Hauptwerke ist das imposante, im Reformstil der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg gehaltene Ostböhmische Museum (1912), das nach längerer denkmalgerechter Restaurierung im vergangenen Jahr wiedereröffnet werden konnte. Wichtiger noch als Kotěra wurde für Hradec Králové dessen Schüler Josef Gočár: 1925 bis 1928 erarbeitete er einen Masterplan für die Stadtentwicklung und realisierte einen grossen Teil der Bauvorhaben im Bereich des früheren Festungsglacis.
Dazu zählt, auf Initiative von Ulrich, der «seinen» Architekten empfohlen hatte, auch der Bau für die Tschechoslowakischen Kirchengemeinde. Wie ein Schiff liegt die Gebäudegruppe nahe dem innenstadtabgewandten Elbeufer auf einem langgestreckten dreieckigen Grundstück vor Anker: Der Gemeindesaal bildet den Bug, der wie ein Mast im Hof freistehende Turm wird seitlich von den Kolonnaden des Kolumbariums gerahmt, welche zum Heck vermitteln, das aus den winklig zueinanderstehenden Volumina des Pfarramts und des Diözesangebäudes besteht. Ohne Zweifel, die axialsymmetrische Anlage war ein grosser Wurf: Weil Gočár mit seinem Purismus historische Referenzen für die Bauten der Tschechoslowakischen Kirche überwand. Weil er mit Sichtbeton, Putzoberflächen und Backstein ein sinnfälliges Materialkonzept umsetzte. Und weil er ein plastisches Ensemble schuf, das zwischen organischem Bauen und Funktionalismus oszilliert. Man mag sich an die zeitgenössische niederländische Architektur erinnert fühlen, mit der Gočár vertraut war. Ein Exemplar (heute im Bestand der ETH-Bibliothek Zürich) der 1930 erschienenen Publikation über sein Wirken in Hradec Králové widmete er nicht ohne Grund handschriftlich Willem Marinus Dudok.

Vinohrady

Prag-Vinohrady (Foto: Hubertus Adam)

Vielleicht wichtigstes Bauprojekt der Kirche war das 1935 fertiggestellte Husův sbor in Prag-Vinohrady. Das kubisch geprägte Ensemble aus Betsaal, Wohn- und Verwaltungsflügel sowie einem freistehenden, als offene Stahlbetonkonstruktion errichteten Turm liegt exponiert am Hang und gilt als eines der Hauptwerke des tschechischen Funktionalismus. Pavel Janáks Karriere als Architekt verlief parallel zu der Gočárs: Beide standen zunächst im Bann von Kotěra, beide waren wichtige Exponenten des um 1911 aufflackernden tschechischen Kubismus, beide widmeten sich nach dem Ersten Weltkrieg dem Versuch, mit dem Rondokubismus einen Nationalstil zu generieren, und beide wandten sich in den späten Zwanzigerjahren einem radikalen Funkionalismus zu. Bevor er das Projekt in Vinohrady realisieren konnte, hatte Janák schon mit vorgespanntem Beton am «Leuchtturm» von Vršovice experimentiert. Der Gemeindesaal im Sockel von Vinohrady wurde übrigens 1938 durch Jiří Jakub in ein Kolumbarium umgewandelt.

Mit dem Funktionalismus war eine Formensprache gefunden, die aufgrund des Purismus und des Verzichts auf historische Referenzen ideal zum Selbstverständnis der Tschechoslowakischen Kirche passte. Nicht alle Neubauten erzielten die Qualität und Modernität der Projekte von Prag-Vinohrady oder Hradec Králové, aber wer wachen Auges durch Tschechien fährt, wird immer wieder auf exzeptionelle Beispiele stossen. Hierzu zählen die Bauten in Brünn (1929) von Jan Víšek, der im Wettbewerb Bohuslav Fuchs auf den zweiten Rang verwiesen hatte, aber auch in Semily (Vladimír Krýš, 1938) oder Tábor (Jaroslav Kabeš und Václav Vejrych, 1939). Besonders avantgardistisch operierte man in der Diözese Hradec Králové, wovon auch die Kirchenbauten in Nové Město nad Metuj (Jindřich Freiwald, 1934) oder Dobruška (Kubeček/Steklík, 1936) zeugen.
Am Ende der 1. Republik hatte die Tschechoslowakische Kirche ungefähr 130 Neubauten errichtet und zählte 800.000 Mitglieder. Heute sind es noch gut 30.000.


Literatur:
Die Literaturlage zur Architektur der Tschechoslowakischen Hussitischen Kirche ist spärlich. In theologiegeschichtlichen Untersuchungen werden die Bauten kaum behandelt. Hilfreich ist die architekturhistorische Diplomarbeit von Milan Kudyn an der Universität Olmütz 2008: https://theses.cz/id/4lttes/ (in tschechischer Sprache).