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Ein Architekt, der wieder aufsteht

Sommerzeit, Ferienzeit, Lesezeit: Dass Architekten zum Romanpersonal gehören, kommt vergleichsweise selten vor. In einem neuen Buch der 1940 in Berlin geborenen und inzwischen vielfach ausgezeichneten Autorin Ulrike Edschmid fällt ein Architekt beim Zimmerstreichen von der Leiter.


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Ulrike Edschmid: Ein Mann, der fällt. Roman. Suhrkamp Verlag Berlin 2017. ISBN 978-3-518-42581-7, 20 Euro > Suhrkamp Verlag

Man kann gut nachempfinden, was hier passiert ist, weil man es schon genauso gemacht hat: Oben auf einer wackeligen Leiter stehend mit beiden Händen in dreimeterachtzig Höhe den Deckenstuck ausbessern. Und ohne herunterzuklettern mit der schwankenden, zwischen den Schenkeln eingeklemmten Stellage weiterhüpfen. Da wird man leichtsinnig. Der Architekt in der Erzählung hat weniger Glück. Als er in der Berliner Altbauwohnung, die er zusammen mit seiner Frau renoviert, den Mörtel in einer abgerundeten Ecke besonders sorgfältig glättet, kippt die alte Holzleiter um und er fällt, verletzt sich schwer. Als ihn seine herbeigerufene Frau im Krankenhaus besucht, erfährt sie den Befund: Querschnittlähmung.

Urbanes Biotop

Soweit ist der Leser nach wenigen Seiten, hier beginnt die Geschichte, von der man sofort gefesselt ist und nicht zu Unrecht vermutet, dass die Autorin nicht minutiös Fakten gesammelt hat (wie man es von Juli Zeh kennt), sondern autobiographisch eine Leidensgeschichte rekonstruiert. Was fasziniert, ist das lakonische Protokoll, das über den Vorfall berichtet. Der Gestürzte bleibt ein namenloser Er, der nie zu Wort kommt, überhaupt wird auf Dialoge und wörtliche Reden verzichtet. Der Beobachtungsmodus macht den Leser zum Begleiter einer Therapie, deren Erfolg sich am Aufrechthalten und mühsamen Kampf um koordinierte Schritte bemisst. Was für ein Schicksal: Ihm, dem Architekten „fehlt das Gefühl für den Raum“! Die Autorin hilft ihm nicht, sie schützt seinen Kampf, mit dem er das Leben – langsam – neu erforscht und zeichnet jede Phase akribisch auf, bis sie sagen kann: „Ein Mann, der geht.“ Wenigstens etwas.

So schafft er es bis in sein Kreuzberger Architekturbüro, es fällt das Stichwort „Konzept der behutsamen Stadterneuerung“, es geht um eine Ausstellung, später wird er sogar zu internationalen Vortragsreisen aufbrechen. „Wohnen heißt Bleiben“: Mit diesem Merksatz Heideggers müssen wir uns zufrieden geben, sonst erfahren wir nichts über das Tagesgeschäft des Architekten. Um so mehr über das Charlottenburger Haus, wo sich das Unglück ereignete und das nun zum Mittelpunkt einer Berlin-Geschichte wird. Sie reicht über fünfzehn, zwanzig Jahre und ist eine Melange aus politischen Ereignissen, gesellschaftlichen Folgen, menschlichen Verhaltensweisen, kriminellen Vorgängen, zufälligen Episoden. Dette is Balin: Mauerfall, Wohnungsspekulation, Ruhestörung, Marathon, Wasserschaden, Schwarzmarkt, Flüchtlinge, Falschparker, ein Transsexueller, ein Nazi, ein Serbe, ein Toter. In diesem urbanen Biotop bewegt sich der Architekt als Wohnungsmieter mühsam über die Treppen der gemeinsamen Beobachtungsstation.

Innenleben eines Architekten?

Das ist die Crux des Romans. Es gibt ein Rückgrat aus Fakten, dem immer wieder durchscheinenden Leben der Autorin als Journalistin und Textilkünstlerin, gar ein Querverweis auf ihren früheren Lebensgefährten aus dem linksradikalen Milieu, der bei einem Schusswechsel mit der Polizei ums Leben gekommenen ist. Als eigentlichen „Schrittmacher“ gibt es natürlich den Architekten, der wieder Fuß zu fassen sucht. Darum rankt sich ein literarisches Quodlibet, von dem man nicht weiß, ob es sich um eine Chronologie der wahren Ereignisse handelt oder um eine fiktionale Konstruktion. Lektorierendes Durchharken hätte gut getan. Der Klappentext nennt es eine Liebesgeschichte. Kann gut sein. In der Liebe gibt es eben Zufälliges und Verwirrendes, darin sich die Zuneigung zurechtfinden muss: Ziemlich beste Freunde.