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Die Zeitschrift „der architekt“ widmete sich unter der Regie von Gerd de Bruyn dessen These „function follows form“, siehe > hier. Dazu steuerten Arno Lederer, Andreas Denk, Jörg H. Gleiter, Markus Allmann, Klaus Jan Philipp, Alban Janson und Karin Wilhelm Beiträge aus ihren jeweiligen Fachbereichen bei, und Ursula Baus griff den Zusammenhang von Form, Funktion und Ökonomie auf. Wir danken der Redaktion, dass dieser Beitrag auch hier erscheinen kann und empfehlen die Gesamtausgabe „der architekt 3|2015“.

Am Hauptbahnhof Berlin: Monotone Bürobauten prägen den Spreebogen. (Bild: Ursula Baus)

1325_architekt_TitelAuf allen Kuckuckseiern, die Gerd de Bruyn als „Heft-Kurator“ seinen Autoren ins Nestchen gelegt hat, stand also „function follows form“. Über der Dialektik, die hier anklingt, brüten Architekten, Historiker und Theoretiker, seit Vitruv venustas und utilitas gewünscht und drittens wohlfeil firmitas gefordert hatte. Als heimtückisch erweisen sich Funktion und Form in ihrer überaus komplexen Begriffsgeschichte jedoch erst, sobald sie, wie es Louis H. Sullivan 1) machte, in einen kausalen Zusammenhang gestellt werden. Wenn der Begriff „Funktion“ nur weit genug gefasst wird, können viele Kausalitäten überzeugen – mehr oder weniger. Aber auch, was für die Form behauptet worden ist, stimmt mindestens in Einzelfällen: form follows emotion, fiction, fantasy, form und fiasco … Sprach- und Sinneswandel haben dem Begriffspaar zugesetzt. Gegenwärtig darf das Verhältnis zwischen Form und Funktion – im Sinne des Praktischen, des technisch Zuverlässigen – als recht entspannt gelten. Wenn Architektur im gebrauchstauglichen Sinne „funktioniert“, steht nicht gleich der Verdacht im Raum, baukünstlerisch könne sie nichts taugen. Und wenn Stararchitekten mal wieder formal über die Stränge schlagen, bemühen sie sich meistens auch um eine gewisse Gebrauchstauglichkeit ihrer Elaborate. Erbitterte Kämpfe, wie sie vormals um den Begriff „Funktionalismus“ tobten, befürchten wir nicht mehr. Umgekehrt lastet auf der Architektur ein Sammelsurium von Funktionen, die differenziert werden müssen, sofern sie in akzeptable Bezüge zur Form gesetzt werden sollen. Wenn Gerd de Bruyn jetzt dafür plädiert, den Spieß umzudrehen, die Funktion also in den Dienst der Form zu stellen, um für die künstlerischen Eigenschaften von Architektur zu streiten, steckt der Teufel wieder im Kausaldetail.

Funktion und Funktionalisierung

Bleiben wir bei der Masse des Gebauten. Wenn im Kontext des Funktionalismus gefordert wurde, die Bauaufgabe möge die Form eines Gebäudes zumindest mitbestimmen, dann spielt im Konkreten die Form den Ball zurück an die Funktionalität der Architektur: Denn sie, die Form, bringt niemals nur zum Ausdruck, was sich funktional im Gebäude abspielt. Architektur gibt beispielsweise zugleich Auskunft darüber, was sich eine Bauherrschaft leisten will und kann und avanciert in komplexen Zusammenhängen zum Bedeutungsträger“ 2) – sonst gäbe es nicht jenen Strang der Architekturentwicklung, der in seiner Prachtentfaltung und ornamentalen Delikatesse Sullivan provoziert hatte: „form follows function“ war 1896 nicht zuletzt eine Attacke auf die architektonische Prachtentfaltung dort, wo sich ökonomischer Erfolg konzentrierte.3) Zur Funktion der Architektur addiert sich eine Funktionalisierung: Architektur dient auch Aufgaben, die mit ihrer eigentlichen Bauaufgabe gar nichts zu tun haben. Man kann auch von einer Instrumentalisierung von Architektur sprechen. In der bauhistorischen Kanonisierung lesen wir zum Beispiel von „Funktionalismus“ und „Bauwirtschaftsfunktionalismus“. Funktionalismus als bauhistorische Epoche, als Stil oder Haltung bezeichnet ein Verhältnis von Funktion und Form im Sinne der Bauaufgabenlösung. Bauwirtschaftsfunktionalismus bezeichnet das Verhältnis von Form und Bauaufgabe zu ökonomischen Interessen, die quasi als „externe Funktionen“ auf dem Bauen lasten. Im Begriff „Bauwirtschaftsfunktionalismus“ sind Ross und Reiter immerhin benannt: Die Interessen der Bauwirtschaft wachsen mit der Industrialisierung des Bauens stetig – Lobbyisten der Bauwirtschaft verfolgen dabei die Strategie, über den Gesetzgeber potenzielle Auftraggeber zu nötigen. Wer glaubt denn, dass EnEV, KfW, Abschreibungs- und Förderstrategien primär von Baukünstlern oder Weltverbesserern geprägt sind? Woran verdienen Fenster-, Heizungs- und Dämmindustrie, wenn keine ökonomischen Anreize für Erneuerung welcher Art auch immer gegeben sind? Ob wir sie brauchen oder nicht? Dass beispielsweise „Graue Energie“ in den Verordnungen bis heute keine Rolle spielt: Honi soit qui mal y pense?
Die herkömmliche Funktionalität von Architektur wird von zunehmender ökonomischer Funktionalisierung überlagert. Seit 2008 verstärkt sich weltweit als Folge der Finanzkrisen der Missbrauch von Architektur nicht als Bedeutungsträger, sondern als Finanzanlagebereich in einem höchst unzuträglichen Maße: Architektur wird als anonymisierter Investions- und Renditesektor in Mengen genutzt, die künstlerischen Anspruch mehr und mehr unterbinden. Die ökonomische Ausbeutung von Architektur kann so weit führen, dass Bauten, die in ihrer Kernfunktion als „Behausung“ niemand braucht, als Investitionsruine übrigbleiben und sich in verschiedenen Investitions- und Abschreibungsmodellen dennoch rentiert haben. Nicht nur einzelne Bauten, sondern ganze Städte, die unter der Ideologie der autogerechten Stadt gerade in den Zentren schon genug leiden, sind Opfer solchen Missbrauchs.

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Stuttgarts „neue Büroklasse“ (Bild: Ursula Baus)

Entstehungsprozesse

Differenzierung und konkrete Zusammenhänge tun als Argumentationsbasis Not, denn die sozioökonomischen Ver-hältnisse an einzelnen Orten variieren nicht nur von Kontinent zu Kontinent, Land zu Land, Bundesland zu Bundesland, sondern schon in unmittelbarer Nachbarschaft. Für Gutachten, die Prognosen zur wirtschaftlichen Entwicklung von einzelnen Standorten liefern, zahlen Investmentbanker, Fondmanager, Investoren und Bauträger tausende von Euros. Sonst investieren sie nicht. Bernhard Taubenberger, Sprecher der Bayerischen Hausbau, erläuterte dazu, sie „richte sich mit ihren Projekten grundsätzlich nicht ‚nach gesellschaftspolitischen Utopien‘, sondern nur ‚nach betriebs-wirtschaftlichen Kennzahlen“.4) Anzuerkennen bleibt gewiss, dass manche Politiker und Beamte vieles mit Förderprogrammen und Gesetzesinitiativen im gesamtgesellschaftlichen, gemeinwohlorientierten Interesse korrigieren. Viele hören hin, wenn Wut- und Mutbürger protestieren. Doch was wir in der realen Entwicklung unserer Städte erkennen, deutet auf einen Systemfehler hin, der nicht in Angriff genommen wird.

Geldwirtschaftsfunktionalismus

Es funktioniert überall gleich: Bürgermeister und Baubürgermeister tummeln sich, wenn es darum geht, Investoren für ihre wachstumsorientierten Städte zu interessieren, auf der Mipim in Cannes oder der Expo Real in München. Hier netzwerken Politik und Immobilienwirtschaft, hier können Städte auch ihre eigenen Liegenschaften großmaßstäblich vermarkten – deren Verwaltung beispielsweise in Stuttgart nicht bei der Stadtplanung, sondern beim Finanzbeigeordneten liegt. Ein Netzwerk exklusiver Art bietet auch Quo Vadis in Berlin, man schätzt dort die Nähe zur Politik und erfährt nebenbei, wie Investoren auf Orte aufmerksam werden. Bauinvestitionssummen liegen heute kaum unter 300 bis 500 Millionen Euro, weil die Immobilienkreditbanken unter diesen Summen nicht einmal einen Unterabteilungsleiter bemühen. Das wiederum erklärt, warum Entwicklungsprojekte nicht auf ein paar Parzellen eines traditionell strukturierten Stadtgrundrisses geplant werden, sondern in Quartiers- und Stadtteilkategorien. Im Vorfeld stehen Abrisse an, Denkmalschutz ist aufzuheben, Bebauungspläne müssen geändert und Baugenehmigungen vorbereitet werden, damit Investoren nicht von Planungsrisiken abgeschreckt werden. Derart entstehen jene „Großklopse“5), die sich in Stuttgart auffällig konzentrieren – in anderen Städten wie Düsseldorf, Köln, Berlin oder Hamburg aber ganz genauso zu finden sind. Mit Müh‘ und Not versuchen örtliche Behörden immer noch, wenigstens etwas Wohnungsbau und Kitas und Kigas zu fordern, weil sie einige dem Gemeinwohl verpflichtete Mitarbeiter haben und ansonsten den Zorn ihrer Mitmenschen fürchten müssen. Es ist nun zu einfach, Politik einfach in die Pflicht zu nehmen, den Wirtschafts- und Finanzweltinteressen mehr entgegenzusetzen. Denn Wirtschaft und Politik sind in einem systembedingten Ganzen verwoben, wie es der Schriftsteller Joseph Vogl jüngst seinem Essay „Der Souveränitätseffekt“ aus historischer Perspektive darlegte.6) Die von realen Produktions- und damit auch Bauprozessen abgekoppelte, mit Schulden operierende Finanzwirtschaft zeitigt dann so etwas Abstruses wie eine Immobilienblase in den USA. Paff, peng, bumm – von einem auf den andern Tag ist Architektur nichts mehr wert. Die Finanzwirtschaft: To big to fail.

Und die Form?

Die Form als Aspekt künstlerischer Freiheit im Bauen flackert auch in Zeiten des Geldwirtschaftsfunktionalismus als Architekturdiskursthema auf, wo sie – wie eh und je – Gebautes als Bedeutungsträger prägt: neudeutsch im „Premium Segment“. Private leisten sich mal ein extravagantes Domizil, Städte schmücken sich mit einem spektakulären Kulturbau oder fördern ein fulminantes Stadion, Investoren wie weiland Jürgen Schneider oder jetzt Stefan Höglmaier oder Franz Fürst profilieren sich mit zahlungskräftigen Kunden als Retter der vermeintlichen architektonischen Kultur und Avantgarde. Das Premium Segment – ein Reservat? Eher nicht, denn Kunst soll doch frei sein. Aber waren Kunst und Bauen je frei?Kapitalismus- und Systemkritik gibt es schon lang. Langweilig mag sie geworden sein, aber leider nicht a priori falsch. Frei nach Adorno: In entfremdeten Verhältnissen wird etwas erbarmungslos Praktisches zu einem Belastenden.7) Vielleicht sind die berufsständisch clever organisierten Architekten nicht die richtigen Verbündeten, um die Architektur als Baukunst zu beleben. Denn an nahezu allem, was an erbarmungslos Praktischem Tag für Tag auf rund 100 Hektar in Deutschland an Siedlungs- und Verkehrsflächen zugebaut wird, sind Architekten beteiligt – deren Nachwuchs an der HCU neuerdings „Real Estate and Leadership“ erlernt.Ansetzen müsste man wohl – jetzt mehr und anders als früher – an Hebeln in Politik, Wirtschaft und vor allem Bildung. Wenn heute Studierende der Wirtschaftswissenschaften aufmucken und ihr thesenreiches, aber theorieschwaches Grundlagenwissen infrage stellen, darf uns das hoffen lassen. Auch Politiker und mehr und mehr Architekten begreifen, dass nicht nur junge Menschen andere Perspektiven als die des Geldwirtschaftsfunktionalismus brauchen.


1) Das Louis Sullivan in vielen Interpretationen zugeschriebene Diktum ist seinem Aufsatz „The tall office building artitically considered“ von 1896 entnommen. Zum Vordenker der Form-Funktion-Relation Henri Lebrouste siehe Jörg Gleiter in „der architekt“

2) Maßgeblich untersucht von Martin Warnke und Günter Bandmann, in theoretischen, komplexen, semiotischen Kontext gesetzt von Christian Norberg-Schulz, Logik der Baukunst, dt. 1965

3) Karlheinz Barck, Martin Fontius u. a.: Ästhetische Grundbegriffe, Band 2, Stuttgart/ Weimar 2001, Seite 591

4) Till Briegleb: Requiem für ein anderes Leben. In: Süddeutsche Zeitung, 21. 1. 2015, Seite HF2

5) Amber Sayah, Ludwigsburger Architekturquartett, 2015

6) Joseph Vogl: Der Souveränitätseffekt. Zürich 2015

7) Theodor W. Adorno: Funktionalismus heute, 1966. In: Ohne Leitbild. Parva Aesthetica, Frankfurt 1967, Seite 104 f.