• Über Marlowes
  • Kontakt

Stilkritik (109) | Vom feinen Speisen: Exzellente Architektur und Kochkunst, Alltagsbauten und bürgerliche Küche: Sie begegnen sich in den Räumen der Gastronomie. Zwischen Burger-Bude und Sterne-Restaurant spannt sich ein Gestaltungshorizont auf, der wie ein Spiegel der Gesellschaft leuchtet. In privaten Häuser und Wohnungen reicht er von der ramponierten Küchenzeile bis zum High-Tech-Kochlabor aus Edelstahl.


Die vom Hunger geprägten Nachkriegsjahre fanden mit der Währungsreform 1949 zunächst ihr Ende. Immer noch mager ging es allmählich aufwärts, und die ersten Tipps für Familienausflüge am Wochenende zu ländlichen Gasthöfen lauteten etwa so: »da gibt es klodeckelgroße Schnitzel!«. Es war also Menge gefragt. Jahre später kam der »Wienerwald« dazu, wo wir immer hungrigen Schüler uns mit ganzen Brathendln vollstopfen konnten – immer noch besser als Schulspeisung oder Mensa.
Glanzlichter waren seltenere Ausflüge in den Rheingau, der Vater fuhr uns stolzgeschwellt im ersten eigenen Mercedes 170V, und es wurde etwa im Eltviller »Schwan« schon etwas luxuriöser gespeist. Es gab sogar Wein, Vater trockenen Riesling, Mutter etwas Halbsüßes, vom Kellner servil als Damenwein empfohlen. Wir Halbwüchsigen durften probieren und mussten uns ein väterliches Kurzreferat über Weinbau als Kulturgut anhören. Insgesamt war das alles fad, und wir wären lieber mit Joe oder Mike zusammen losgezogen, um irgendwo am Stand Pommes mit Cola zu vertilgen.
Das änderte sich später, als uns – inzwischen im Beruf erfolgreich – durch schon erfahrenere Freunde mit Erzählungen über genussreiche Wochenenden in elsässischen Sternerestaurants der Mund wässrig gemacht wurde. Wir ließen uns ohne großen Widerstand zur Begleitung überreden.

Dezente Eleganz
Zunächst zur »Aubergine« in München. Dort eröffnete sich eine andere Welt. Schon die Innenarchitektur bot in ihrer dezenten Eleganz ohne Zigarettendunst und welke Dauergrünpflanzen auf den Fensterborden aber dafür edel gedeckten Tischen ein anderes Bild. Gäste wurden nicht von unwirschen Kellnerinnen zunächst ignoriert, sondern ein eleganter Maître im Smoking begrüßte zuvorkommend, aber mit kaum verhohlener  Arroganz im Hinblick auf unsere casuale Kleidung; immerhin trugen wir sportliche Jackets und Schlipse unter den Burberry-Staubmänteln, die uns höflich von einer Garderobière abgenommen wurden.
Zu Tisch geführt, wurde uns nun von einem Sommelier eine Flûte mit Champagner kredenzt, gefolgt von einer sprachgewandten Servicekraft, die uns die Folgen der Menuauswahl vorstellte – von Preisen war selbstverständlich nicht die Rede. Nach ihrem Abtritt von der Bühne erschien ein smarter junger Mann in schwarz-weiß gewestet und servierte uns je ein würfelgroßes Häppchen, dass er als »amuse gueule« feierlich flüsterte, gefolgt wieder vom Sommelier, der uns wort- und kenntnisreich den passenden Wein zu unseren Speisen empfahl.
Schließlich trat Ruhe ein, und wir fanden in unsere Gespräche zurück, bis die Vorspeisen kamen und uns ihr Wesen zugeflüstert wurde, ebenso wie die darauf folgenden entremets. Die anschließende Wartezeit wurde mit einem Kräutersorbet verkürzt. Danach kamen, von hotelsilbernen Helmen verdeckt, die Hauptgerichte mit eleganten Schwüngen für uns vier Gäste von ebenso vielen Servicekräften gleichzeitig serviert, von den Helmen entblößt und wiederum flüsternd vorgestellt.
Um es kurz zu machen: schließlich, nach wohl abgemessener Pause, wurde ein reich bestückter Käsewagen unter der Glashaube vorgefahren, zusammen mit Vorschlägen, in welcher Reihenfolge vom Camembert über Roquefort bis zum Hartkäse von der Ziege, alles andächtig zu verzehren sei. Wem der Sinn dazu stand, erhielt zum Abschluss noch eine längliche Schale mit löffelchenweise sparsam zugeteilten Crèmes bavaroise bis chocolat umgeben von einer Schleifspur Balsamico und einem Klacks rosa Himbeermark.
Mit Marc vom Gewürztraminer, abgefüllt von einem heran gerollten Wagen mit allerlei Flaschen von allerlei Bränden ging der Abend zu Ende. Als krönender Abschluss erschien in blütenweißer Kochjacke mit eingesticktem Namen am Revers der Küchenchef und ließ sich beklatschen – es war ein wenig wie bei der Landung im Flugzeug voller Touristen in Mallorca. Über die Rechnung sei geschwiegen.

Pars pro toto
Wer diesen Ablauf der französisch inspirierten Küche einmal erlebt hat, hat sie eigentlich alle erlebt. Mit Ausnahme der Bistros in Paris, bei denen es lockerer und auch preiswerter zugeht – der Feinschmecker-Papst Wolfram Siebeck hatte seinerzeit über diese Küchen ein ausgezeichnetes Buch geschrieben, und ich konnte während meiner Arbeit in Paris fast alle nach und nach ausprobieren. Paul Bocuse war in jener Zeit der Küchenhalbgott und erfand die nouvelle cuisine, die in ihrer vorgeblichen Leichtigkeit die schweren Kreationen der Escoffierküche ablösen sollte, bei der als Neuigkeit aber nur immer weniger auf die immer größer werdenden Teller dekoriert wurde.
Der Besuch bei Bocuse war enttäuschend, der Meister selbst war als maître volant in New York, sein Restaurant in Lyon war ein neubarocker Tempel mit schweren Schabracken und viel Goldenem, so dass einem Architekten eigentlich schon gleich der Appetit verging. Das Menü war mäßig, auf der Rechnung wurde eine Flasche nicht ganz preisgünstiger Wein zweifach abgerechnet, und es bedurfte meines ganzen Französisch, um bei der herbeigeeilten Madame als nicht ganz tumber deutscher Tourist eine Rechnungsrevision zu erwirken. Die Flasche blieb zwar auf der Rechnung, aber »comme cadeau« – als demütigende kalte Dusche!
Eine gute Weile schrieb ich nun Gastro-Kritiken über die besuchten und besternten Ziele, bis mir das feine Speisen zu erhöhten Preisen gewaltig auf den Geschmacksnerv und in die Brieftasche ging, bei manchen Mitmenschen schon fast Monatsgehälter. Ich suchte nach Alternativen und fand sie in der Italienischen Küche, die ja durch Maria de‘ Medici als zweite Frau von Henri IV um 1600 mit ihrem Koch nach Paris gebracht wurde. Allerdings muss man in Italien nicht unbedingt die im Michelin gerühmten und überteuerten Edelrestaurants mit Sternen aufsuchen, in denen die Kellner oft feiner als die Gäste sind.
Ich rate dagegen zu »Osterie italiane« von slow food, ein Führer, den es im Verlag Hallwag auch auf Deutsch gibt. Wer sich die Mühe gibt, die ländlichen Trattorien aufzusuchen, meist abseits gelegen und nicht immer einfach zu erreichen, selten elegant, aber gut beleuchtet mit Neonröhren an der Decke, damit man sieht was man isst, der wird damit belohnt, was bei was la mamma mit hochrotem Kopf in der dampfenden Küche produziert, il papa hinter dem Tresen für Wein, Grappa und Caffé heraussucht und wie una bella figla die köstlichen, aber doch einfach erscheinenden Dinge einer italienischen Küche aufträgt, von der man nur träumen kann. Buon appetito!