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Stilkritik (108) | Architektur und Krieg – Aufbau und Zerstörung. Wir erinnern uns der gedankenlosen Redensart, die Verkehrsplanung habe nach dem Wirtschaftswunder unsere Städte mehr zerstört als die Bomben der Alliierten. Im Frieden ist gut reden. Krieg ist für die »Spätgeborenen« ein Narrativ, das sie als etwas Unwirkliches fürchten wie Kinder Gespenster. Gerade findet er statt, drei Flugstunden von uns entfernt.

Die kleinen Zinnsoldaten – es waren putzige Spielfiguren. (Bild: Wikipedia commons)

Im Türsturz über dem Eingang ist eine Jahreszahl eingemeißelt: 1869. Unser Haus hat also zwei Weltkriege überstanden. Das sollte reichen. Es gibt aber auch Häuser, an denen lesen wir die Jahreszahlen 1939 oder 1940. Da war die Wehrmacht noch auf dem Vormarsch, aber es fielen bereits Bomben auf deutsche Städte. Was ein Bauherr damals wohl empfunden hat? Das neue Haus gerade fertig, wie lange es wohl stehen wird?

NVA-Spielfigur (Bild: Wikimedia-Commons)

NVA-Spielfigur (Bild: Wikimedia-Commons)

Architektur und Krieg haben leider seit je miteinander zu tun. Weil es eine Funktion von Gebäuden ist, Schutz zu bieten. Schon »Der Neufert« lehrte, wie man Bunker in eine Wohnanlage integriert. Als 1946-56 Bernhard Hermkes die Grindelhochhäuser in Hamburg plante, hat man die zwölf Blöcke immmerhin so weit auseinander gestellt, dass bei einer Bombardierung ihre Trümmer nicht die Nachbarhäuser treffen würden. Damals sah man über vielen Kellerfenstern noch einen weißen Pfeil und die Buchstaben LSR für Luftschutzraum. Auch in unserer Stadt gab es Hochbunker. Für Kinder war der liebste Spielplatz im Winter eine Ruine. Hier konnte man mit dem Schlitten von einem Schuttberg durch eine leere Fensterhöhle und die geborstene Decke bis in den Keller fahren. Was die Bewohner hier knapp zehn Jahre zuvor erleben mussten, stellten wir uns nicht vor. Die Eltern hatten schon endlos vom Krieg, von Flucht und Gefangenschaft erzählt. Dieses Narrativ sollte noch viele Fortsetzungen bekommen. Mal war der Anlass ganz nahe, manchmal Hintergrund für eine luxuriöse Beklommenheit. Das Kino half der friedlichen Phantasie auf die Sprünge. Ich habe öfters darüber geschrieben. Mein alter Verleger fragte jedes Mal, was das mit Architektur zu tun habe. 70 Jahre Angst vor Krieg.

Eine Antwort, warum die Menschen im 20 Jahrhundert psychisch zu zwei Weltkriegen bereit  waren, hat Odo Marquard (in Anlehnung an Manès Sperber) damit gegeben, dass diese Kriege »auf schreckliche Weise gewünscht« waren, akzeptiert als eine Entlastung vom Alltag. Wie unvorstellbar muss wohl die Unzufriedenheit gewesen sein, um sich in einen Krieg zu flüchten? Und Marquard schließt folgerichtig an, der Wiederaufbau in der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit sei der Versuch gewesen, »gegen die Faszination durch kriegerische und totalitaristische Moratorien des Alltags, Frieden mit dem Alltag zu schließen«. Damit war das Wirtschaftswunder – auch die Architektur – eine vernünftige Maßnahme, um die Bürger zu befrieden. 70 gute Jahre.

Durch den Krieg in der Ukraine können wir uns den Grusel gut ausmahlen: Nachts heulen Sirenen, man schlüpft in seine bereit liegenden Klamotten und hastet mit dem Notfallkoffer in den Keller. Falls das Haus getroffen wird und die Trümmer alles begraben, erscheint die alte Angst, nach einem Infarkt in der Klinik von High-tech-Medizin sediert, versorgt und getröstet zu verdämmern, geradezu beneidenswert. Vom Dritten Weltkrieg steht jetzt täglich was in der Zeitung, beiläufig, als ginge es um dem Eurovision Song Contest. Selbst die Verneinung, die ja eine Wahrscheinlichkeit voraussetzt, erzeugt noch eine Gänsehaut. Da hat das Feuilleton Konjunktur. Wir ahnungsschwangeren Schreiber retten uns in Ironie, Polemik und Zynismus. Flüchten könnte ich jedenfalls nicht. Ich hab‘ schon Probleme, meinen Urlaubskoffer zu packen. Wie viel Linsenreiniger muss mit, wie viel Cholesterinsenker brauche ich? Schlimm, was es bei Facebook zu lesen gibt. Vergreiste ehemalige Kriegsdienstverweigerer rufen nach der Panzerfaust. Früher demonstrierten sie gegen die Amis und die eigene Regierung. In einer Demokratie hegt man gewisse Erwartungen. Aber was bedeutet »Stop Putin«? Zugegeben: Sympathisch war mir der Mann noch nie. Schon diese Frisur, diese dünnen Strähnen, darunter kann doch kein Hirn vernünftig arbeiten.
Ein Pfarrer, unverdächtig als »Putin-Versteher«, hat es bei einem Friedensgebet so gesagt: Der Westen hat das Geschenk der Wende überheblich konsumiert, sich als Sieger des Wettrüstens gefeiert. Selbst Obama deklassierte Russland als »Regionalmacht«. Ich denke schon, unabhängig, an welche Formulierungen sich die NATO erinnert, wir haben wie Klassenbeste den Widerstand der Sitzenbleiber herausgefordert. Und mit 100 Milliarden Aufrüstung bestätigen wir ihn.

Früh übt sich. Einkaufszone in Tunesien, 2015 (Bild: Wikimedia Commons)

Früh übt sich. Einkaufszone in Tunesien, 2015 (Bild: Wikimedia Commons)

Ob jetzt wie zur Kuba-Krise wieder eine »Aktion Eichhörnchen« zur Vorratshaltung ruft? Und Heftchen »an alle Haushaltungen« Tipps geben, wie man die Tischtennisplatte im Hobby-Keller gegen Feldbetten tauscht? Architektur und Krieg… – siehe oben.

Im April spielte Arina Kinzikeeva in der Haardter Scheune des Mandelring Quartetts. Sie ist 14 Jahre alt, vor drei Wochen war sie aus der Ukraine geflüchtet (https://www.youtube.com/watch?v=_EWbWDvIHno). Bei Liszts Gnomenreigen verschwand sie in der Musik, tanzte sich wiegend über die Tasten und versprühte die Staccati bis in den schrillen Diskant mit einem Hauch von Humor. Ganz zauberhaft. Von wegen Krieg!
Heute ist Sonntag. Der Frühling drängt herein. Wir wandern meilenweit, am Himmel bleibt es ruhig, die Militärflieger zum nahen Ramstein pausieren. In einer Waldwirtschaft gibt es Kaffee und Kuchen. Der Espresso kommt dünn und fast kalt, aber angesichts der Weltlage finden wir es kleinlich, den Fehler zu monieren. Nach fünf Minuten bringt die Bedienung unaufgefordert zwei neue Tassen, heiß und stark. Es war ein Versehen, lächelt sie.
70 gute Jahre.