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Tradition und Fortschritt. Bild: Christian Holl

Fragen zur Architektur (37) | Großprojekte liefern keine Erfolgsgeschichten mehr. Das könnte auch ein gutes Zeichen sein. Doch für das, was sie als Symbole so attraktiv gemacht hat, scheinen noch keine Alternativen gefunden zu sein. – und so bleibt die gedankliche Grundlage auch in der Gegenwart bestimmend. Wenn man hieran etwas ändert, sieht es auch mit Alternativen besser aus.

Wir müssen, auch wenn es dem ein oder anderen weh tut mag, noch einmal auf den Berliner Flughafen zu sprechen kommen. Bekanntlich ist er inzwischen fertig und eröffnet. Zur Eröffnung zog Peter Richter in der SZ eine bemerkenswerte Bilanz: „So ist alles einerseits riesig, gleichzeitig aber buchstäblich kleinkariert und wirkt damit, als hätte jemand Nationalklischees über die Bundesrepublik in 3D nachbauen sollen. Alles sehr säuberlich, sehr beflissen und sehr rechteckig.“ Nur eben nicht pünktlich fertiggestellt.

Brutta figura

Als der Flughafen gerade offensichtlich ein Disaster wurde, kratzte das am Selbstbewusstsein, dem nationalen. Das war irgendwann 2012/13, Stuttgart 21 hatte gerade wöchentlich zehntausende auf die Straße getrieben und die Hamburger Elbphilharmonie vor allem durch immer höhere Kosten von sich reden gemacht. Im Debattenjournal der Bundesstiftung Baukultur, klagte Peter Cachola Schmal damals beispielsweise: „Derzeit machen wir weltweit brutta figura, und enttäuschen alle jene, die von uns saubere, pflichtbewusste Terminarbeit bei gleichbleibend hoher Qualität erwarten.“

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Detailbild eines deutschen Großprojekts. 2010 noch meinte der damalige Bahnchef Mehdorn, Stuttgart 21 sei das bestgeplante und am besten berechnete Projekt der Deutschen Bahn AG.

Heute, ein paar Jahre später, scheint sich die große Architekturdebatte an großen Projekten nicht mehr entzünden zu wollen, der Traum vom großen Wurf (wer dabei dabei auch immer was wohin wirft), scheint einer tief durchdringenden Skepsis gewichen zu sein. Wenn ein Gebäude in diesem Sommer gefeiert worden ist, dann war es am ehesten die wiedereröffnete Nationalgalerie in Berlin, ein Gebäude von 1961, das so vorbildlich restauriert wurde, dass man sich zu gerne vorstellte, wie das war, damals, als sie eröffnet wurde. Als die Balance zwischen Anspruch und Ergebnis noch gestimmt hatte und man nicht darüber klagen musste, dass irgendetwas einerseits riesig, andererseits aber buchstäblich kleinkariert sei. Tempi passati. Was Herzog und de Meuron heute nebenan entwerfen, gilt schon nach der Überarbeitung des Entwurfs als misslungen, im Feuilleton wird verzweifelt nach Architekturwettbewerben gerufen, weil man sich hofft, damit vor dem geschützt zu werden, was andere für einen großen Wurf halten. (1)

Und die Springer-Zentrale von Rem Koolhaas, der nun endlich in Berlin etwas Großes bauen durfte, wird beispielsweise in der bauwelt von Sebastian Spix fast schon schulterzuckend kommentiert: „Doch es schleicht sich der Gedanke ein, dass der schwarze Monolith, ganz anders als beispielsweise die in Seattle von OMA offen und harmonisch eingefügte Public Library (2004), autark und geschlossen am Rande von Kreuzberg stehen wird. Weder Kiez, noch Campus. Schlicht ein auffälliger Neubau für das, was man heut unter modernem Arbeiten versteht.“

Der Traum vom kühnen Schritt in die Zukunft wird kaum noch geträumt. Das gibt denen Auftrieb, die zumindest vorgeben, dem Fortschrittsgläubigen, Modernistischen etwas entgegenzusetzen, die vermitteln, dass man sich doch besser an das zu halten habe, was sich vermeintlich bewährt hat. Die bekamen 2021 ebenfalls ihr Großprojekt; aber auch das wollte nicht so recht die Stürme von Begeisterung entfachen. „Unter Gesichtspunkten der politischen Ikonographie und des funktionalen Entwerfens von Museen als krasse Fehlplanung“ stufte Ursula Baus das Humboldt Forum ein, und in der FAZ schrieb Jürgen Große im Juli: „Konzipiert wurde das Humboldt-Schloss ja tatsächlich als Museum. Vor allem aber war es als Monument bundesdeutscher Bürgerlichkeit und ihrer diskursfrohen Weltoffenheit gedacht. Reale Geschichte ist diesem Bundesbürgertum nicht geheuer. Wenn ihre Zeugnisse in die Gegenwart hineinragen, dann müssen sie beseitigt werden, wie der Palast.“ Große beklagt den „bauästhetischen Kitsch“, der sich am computergenerierten Schlossäußeren zeigt: „Schier grenzenlos die Möglichkeit des Epochenzitierens und -kombinierens! Was realgeschichtlich in Jahrhunderten entstanden war, ließ sich in restauratorischem Handstreich addieren: Turm, Kuppel, Banderole, Kreuz.“

Kein Grund zur Erleichterung


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Der deutsche Fußball, so die allgemeine Einschätzung, ist auf dem Weg der Besserung. Immerhin. (Bild: Christian)

Man könnte nun die Architektur, von der man irgendwann noch hoffte – und viel zu viele immer noch hoffen – sie könnten repräsentativ für unseren Staat oder unser Gemeinwesen sein, als stumpf oder mürbe bezeichnen. Das ist aber noch lange kein Grund, zu frohlocken oder wenigstens erleichtert aufzuatmen. Das, was als Großprojekt und großer Wurf einmal versprochen hatte, zum Symbol für die Verfasstheit oder der Leistungsfähigkeit einer Nation zu taugen, ist hohl geworden, ohne dass ein Ersatz für diese Leere gefunden wurde. Und so wird weiter an dem festgehalten wird, was Großprojekte einmal so attraktiv hat erscheinen lassen: Die Hoffnung, wir könnten die Fragen der bedrohlichen Umweltkrise mit alter Technik (Kohle, Kernkraft) oder neuer in alten Schläuchen (E-Autos) lösen ist, eine der Folgen davon.

Noch schlimmer aber ist wohl die unheilige Allianz von politischem Profilierungswillen, einflussreichem Lobbyismus und einer bürokratischen Walze, die vom systemischen Selbsterhaltungstrieb ebenso angetrieben wird wie sie von Politik und Lobby gefüttert wird. Zum Berliner Flughafen ist im Kompendium „Deutschland – Globalgeschichte einer Nation“ zu lesen: „Die juristischen und landesplanerischen Anstrengungen, derer es bedurfte, um erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik einen Planfeststellungsbescheid plausibel zu machen, der in krassem Gegensatz zum vorangegangenen Raumordnungsverfahren stand, sind ein eigenes Kapitel deutscher Rechts- und Planungsgeschichte. Neben politischen Interessen, Berlin als Weltstadt zu etablieren, spielten auch Grundstücksspekulationen eine Rolle.“ So wurde etwa Land an die Flughafengesellschaft verkauft, das dann nicht für den Bau genutzt wurde. (2) Die unbefangen hoffnungsfrohe Aufbruchstimmung, die irgendwann einmal Flughäfen vermittelt haben mögen, wurde zu sehr zerrieben im Getriebe des Politbetriebs, als dass sie noch architektonisch Ausdruck finden könnte – so bleibt dann eben die bezeichnende Mischung aus Riesenhaftigkeit und Kleinkariertem, die Richter bemängelte. Nicht nur in Berlin.

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Kleinkariertes muss nicht riesig sein. (Bild: Christian Holl)

Genauso zersetzend wie die „Netzwerke von politischen Entscheidern, in denen tauschförmig gehandelt wird und in denen Mehrfachloyalitäten üblich sind“, so zersetzend wie die Verquickungen von Wirtschaft und Politik, die Jürgen Kaube in Berlin am Werk sah (3), wirkt aber auch das Gift vermeintlicher Identität eines Staates, einer Nation in der Vorstellung eines „Wir“ als vervielfachtes „Ich“. Nicht nur ist unsere Gesellschaft vielfältiger und diverser geworden, diese Vielfältigkeit wird auch deswegen um so besser sichtbar, je mehr sie anerkannt wird – und deswegen auch Konflikte provoziert, die bislang von der Mehrheitsdominanz erdrückt worden waren. Insofern sind die Auseinandersetzungen um Anerkennung, Respekt und Toleranz nicht oder nicht ausschließlich Zeichen davon, dass Anerkennung, Respekt und Toleranz verwehrt werden – im Gegenteil: Sie sind Teil einer gelingenden Integration, die immer auch mit Konflikten verbunden sind. Der Common Ground einer offenen Gesellschaft muss sein, Konflikte zuzulassen, weil sie dann erst verhandelbar sind.

Jene Formen, mit denen Architektur vergangene Epochen zitiert oder repliziert, negieren freilich meist diese Realität und führen zu oft in die Sackgasse. Es ist eine Sackgasse, weil und wenn sie sich der sozialen und gesellschaftlichen Realität schlichtweg verweigern und weil sie in manchen Fällen auch aktiver Ausdruck der Weigerung sind, denen zuzuhören, die dem Selbstbild der „diskursfrohen weltoffenen Bürgerlichkeit“ (Große) widersprechen. In besonders heftigen Fällen ist selbst das behauptete Selbstbild nicht mal mehr eines der Weltoffenheit, sondern ein ganz offensichtlich revisionistisches, ohne dass die architektonischen Folgen von den vermeintlich Weltoffenen entschieden abgewiesen würde – Potsdam ist hierfür ein erschreckendes Beispiel. (4) (Es sei der Vollständigkeit halber angemerkt, das auch bei denen, die in der weiter zurückliegenden Vergangenheit Lösungen zu finden meinen, Wirtschaftsinteressen durchaus eine Rolle spielen, die mit markigen Erklärungen zu vertuschen versucht werden, umso lauter sind, je offensichtlicher diese Abhängigkeit ist.)

Ressourcensuche

In Bezug auf den Klimawandel und die Herausforderungen, die er stellt, ist das bedrückende vor allem, dass sowohl das technisch-moderne wie das restaurative Versprechen keine Antworten liefert. Beide gleichen sich beängstigend darin, dass keine anderen Antworten gegeben werden als die, das tradierte Rezeptwissen tauge auch hier: Sei es das Weiter-so der Technikzentrierung, die am Ende die Antworten darauf schuldig bleibt, in welchem tatsächlichen Verhältnis der betriebene Materialaufwand zum erhofften Ergebnis steht oder warum ausgerechnet dieses Mal mit einer neuen Technik keine neuen, gravierende Probleme auftreten sollten. Sei es die der Rückwendung auf vermeintlich Bewährtes, die eine Welt von stabilen und unveränderlichen Rahmenbedingungen verspricht, einer, in der trotz aller Krisen die Welt wieder so werden könne, wie sie war, bevor die Menschen begonnen hatten, ihre eigenen Lebensgrundlagen zu zerstören. Diese Zeit liegt freilich sehr sehr weiter zurück als die der Architektur, die dabei als Vorbild bemüht wird. Denn die stammt aus der Zeit, in der diese Zerstörung schon begonnen hatte und in der die Grundlagen dafür gelegt wurden.

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Bild: Christian Holl

Es bleibt die Frage, welche Schlüsse man daraus ziehen kann, wenn man die Frage nach dem, was unsere Gesellschaft an architektonischen Bildern ihres Selbstverständnisses nutzen könnte, nicht grundsätzlich ablehnen will und sich auf die anekdotischen Smalltalkebene begeben will, dorthin, wo man sich darüber austauscht, ob Würstchen mit Senf und Essiggurke, die Pizza Döner oder die Tatsache, dass es hierzulande mehr ADAC-Mitglieder als Eltern minderjähriger Kinder gibt nun typisch deutsch sind oder nicht.

Geht man davon aus, dass Architektur nicht die Gesellschaft ändern kann, sondern nur einer sich ändernden Gesellschaft Kraft und Möglichkeiten geben kann, sich ihrer selbst zu vergewissern, hieße es erst einmal, nach einem tragfähigen Narrativ zu suchen und dafür dort hinzusehen, wo es sich wie verortet. Diese Spurensuche (die wir an anderer Stelle aufgreifen) müsste einschließen, all denen zuzuhören, all die stark zu machen, die in unserer Gesellschaft neue Konflikte provozieren, weil sie ihr Recht zur Teilhabe an ihr artikulieren. Es gilt, kollektive Identität als Gift zu erkennen. Wir sollten Francois Jullien ernstnehmen und Kultur nicht mit Identität verknüpfen, sondern sie als Ressource zu verstehen, um sowohl Eigenheiten als auch Veränderungen in kulturellen Handlungen einschreiben zu können: „Außerdem sollten wir nicht von ‚Identität‘ sprechen, da Kultur sich dadurch auszeichnet, dass sie mutiert, dass sie sich permanent verändert.“ (5) Ressourcen hingegen verlangten „seitens der Empfänger oder Erben nicht nur eine Entgegennahme (Aneignung und Bewahrung), sie rufen denjenigen, er sich für sie interessiert, vielmehr dazu auf, sie zu reinvestieren, sie dadurch fruchtbar zu machen und ihnen eine neue Zukunft zu eröffnen – eine Zukunft, die es erst noch zu entdecken gilt.“ (6) Von dort wäre ist es kein weiter Schritt dahin, das zu tun, was auch ökologisch sinnvoll ist: den Bestand als Resource zu würdigen anstatt in ihm einen Ballast zu sehen und ihn allenfalls zu konservieren. Das mag auf den ersten Blick ein therapeutisch erscheinender Ansatz sein, wenn aber ein Büro wie Raumlabor in Venedig den Goldenen Löwen für die Floating University und das Haus der Statistik bekommt, dann ist vielleicht doch zu fragen, ob wir nicht eigentlich schon viel weiter sind, und es nur noch nicht so recht wahrhaben wollen.

 


(1) Es ist schon eine kaum zu überbietende Ironie, dass in Frankfurt am Flughafen eine ins Riesenhafte gesteigerte Kopie der Nationalgalerie gebaut wird. Siehe >>>
(2) Jürgen Kaube: 20XX – Wegen Eröffnung auf Dauer geschlossen – Der Flughafen Berlin-Brandenburg „Willy Brandt“. In: Andreas Fahrmeir (Hg.): Deutschland, Globalgeschichte einer Nation, München 2000, S. 892-896, hier 893
(3) ebd.
(4) Siehe >>> und >>>. Aber auch hier kann man Hölerlin bemühen: Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch. Etwa im Lernort Garnisonskirche oder dem Widerstand, das Rechenzentrum, ein vitaler Kulturhaus, für die Rekonstruktion der Garnisonskirche abzureißen: >>>
(5) François Jullien: Es gibt keine kulturelle Identität. Berlin 2017. S. 67.
(6) ebd. S. 7