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Mut zum Neuen in Bosnien


Stilkritik (40): Eine Forschungsvorbereitung für die Universität Stuttgart führte die Autorin im Sommer 2017 nach Bosnien, an die Universität Sarajevo, wo sie aktuelle Lehrpositionen kennenlernte. Es wird in diesem religiös und kulturell sehr heterogenen Land beispielsweise darüber diskutiert, ob es gilt, an eine bosnische Moderne oder an ältere Traditionen anzuknüpfen – Gedanken zu einem bosnisch-deutschen Austausch.


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Zeugnisse verschiedener Zeiten in Srebrenik (Bild: iek, Universität Stuttgart, 2015)

Der Europäische Melting Pot

Wohl kaum ein Land in Europa ist so reich an unterschiedlichen Kulturen wie Bosnien-Herzegowina. In dem Balkanstaat leben Bosnier, Serben und Kroaten, die christlich (katholisch oder orthodox), muslimisch, jüdisch oder atheistisch sind. Doch wie es leider fast immer ist, wenn viele Kulturen neben- und miteinander leben, bleiben Konflikte nicht aus. Ivo Andrić beschreibt in seinem Roman Die Brücke über die Drina (München 2013) eindrücklich, wie sich die verschiedenen Völker schon seit dem Mittelalter einander annäherten, um sich kurze Zeit später wieder voneinander zu entfernen. Während der eine Herrscher die Völkerverständigung vorantrieb und gemeinschaftliche Bauprojekte realisierte, von denen alle Kulturen profitierten, ließen die nächsten Herrscher diese Gebäude wortwörtlich verfallen – und mit ihnen auch die Wohlgesinnung den Anderen gegenüber.

Blick auf die Burg Srebrenik (Bild: iek, Universität Stuttgart, 2015)

Blick auf die Burg Srebrenik (Bild: iek, Universität Stuttgart, 2015)

Ping-Pong der Nationen

Bosnien-Herzegowina war nie ein freies Land. Wie ein Tischtennisball wurde es vom einen zum anderen Land gespielt und dadurch leider oft in Mitleidenschaft gezogen. Anfangs war das von Bergen durchzogene Land Teil des römischen Illyricum. Seit dem 15. Jahrhundert herrschten die Osmanen über Bosnien, im 19. Jahrhundert siegten schließlich die Russen über die Osmanen und setzten das Land unter österreich-ungarische Verwaltung. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Bosnien vom Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen annektiert. Doch schon 1941 wurde es von deutschen und italienischen Truppen besetzt und an den faschistischen Satellitenstaat Unabhängiger Staat Kroatien angegliedert. Titos Volksbefreiungsarmee schaffte es 1943, das Land von den Besatzern zu befreien, und die Föderative Volksrepublik Jugoslawien wurde gegründet.
Auch die jüngere Landesgeschichte verlief weiterhin wechselhaft. Nach dem Tod des charismatischen und wohl auch deshalb vielverehrten Staatspräsidenten Tito (aka. Josip Broz, 1892-1980) wurde die Spannung überdeutlich, die auf der Föderation Jugoslawien lag und gipfelte in einem grausamen, dreijährigen Krieg, der nur durch das zu späte Eingreifen der UN beendet werden konnte.

Big Brother is watching you

Nun, 22 Jahre nach dem Ende des Bosnienkrieges, sollte man davon ausgehen, dass das Land frei ist, denn die Wahlen wurde mittlerweile als „frei und fair“ von den Vereinten Nationen eingestuft. Doch bis heute gibt es einen UN-Repräsentanten, der darauf achtet, dass in Bosnien alles mit rechten Dingen zugeht. Der (nicht-bosnische) Hohe Repräsentant der Vereinten Nationen – eine einzelne Person –, welcher halbjährlich vor dem Friedensimplementierungsrat Bericht erstatten muss, kann alle demokratischen Einrichtungen des Landes überstimmen.
Und auch finanziell ist das Land alles andere als unabhängig. Die wirtschaftlichen Folgen des Krieges waren verheerend, wichtige Firmen verließen das Land und sind bis heute nicht zurückgekehrt. Deshalb ist man auf die finanzielle Unterstützung von Investoren aus dem Ausland angewiesen. Diese kommen gegenwärtig meist aus Saudi-Arabien oder anderen islamischen Ländern. So wurde zum Beispiel der Shopping-Koloss
BBI Centar in Sarajevo mit dem Versprechen gebaut, die kleinen Läden, die sich auf dem Gelände befanden, in dem neuen Komplex unterzubringen. Als das Gebäude stand, wurde vorgegeben, dass niemals solch eine Abmachung getroffen sei. Mittlerweile gibt es sogar Gated Communities in den bosnischen Bergen, in die Bosnier nur eingelassen werden, wenn sie dort als Hausmeister, Sicherheitsleute oder Hilfskräfte arbeiten.

Das BBI Centar in der Innenstadt von Sarajevo (Bild: iek, Universität Stuttgart, 2015)

Das BBI Centar in der Innenstadt von Sarajevo (Bild: iek, Universität Stuttgart, 2015)

Die nicht enden wollende Vormundschaft führt zu einem Problem, das sich auch im bosnisch-herzegowinischen Selbstbewusstsein niederschlägt: Weil immer die höhere Instanz im Zweifelsfall die Entscheidungen traf, entstand ein Gefühl der Ohnmacht, welches sich wiederum in Gleichgültigkeit gegenüber den Entscheidungen und Prozessen im Land ausdrückt.

Wer wir sind

Umso wichtiger wurde deshalb die persönliche Selbstfindung. Der Krieg hatte Fragen aufgeworfen, die nun jeder einzelne Bosnier, Kroate oder Serbe individuell mit sich ausfechtet: die Frage nach den eigenen Wurzeln, der eigenen Kultur, die mit Sicherheit nicht immer eindeutig beantwortet werden kann. Trotzdem hat die Beschäftigung mit der eigenen Kultur offensichtlich einen empfundenen Zuordnungszwang ausgelöst. Viele Menschen, die vor dem Krieg vielleicht getauft waren, aber ihre Religion nie wirklich auslebten, gehen nun regelmäßig in die Kirche, Moschee oder Synagoge und treffen dort vermeintlich Ihresgleichen. Bereits abgelegte christliche, islamische, orthodoxe und jüdische Rituale wurden wiederaufgenommen. Diese Einteilung in Schubladen führte schließlich so weit, dass es jetzt etwa fünzig Schulen in Bosnien gibt, in denen vormittags kroatische und nachmittags bosnische Kinder unterrichtet werden. Scheinbar ist die Lehre aus dem Krieg, dass man sich lieber aus dem Weg geht, anstatt einen gemeinsamen Weg zu suchen.

Architekturgeschichte

Diese Kulturfrustration oder Identitätskrise bezog und bezieht sich auch auf die bosnische Architektur. Immer wieder wurde mir im Gespräch mit den Professoren und Mitarbeitern der Univerzitet u Sarajevu – Amra Salihbegović (Lehrstuhl für Entwurf), Amir Čaušević (Lehrstuhl für Baukonstruktion), Lemja Akšamija (Lehrstuhl für Architekturtheorie und Bauen im Bestand), Nerman Rustempašić (Lehrstuhl für Bautechnik) und Aida Idrizbegović-Zgonić (Lehrstuhl für Architekturgeschichte) – erklärt, welche drei wichtigen Epochen ihre Architektur und Kultur geprägt haben, die es in den Ausführungen mediterran, alpin und kontinental gebe.
Die osmanische Periode (1435-1878) Moscheen, Koranschulen und Hamams wurden aus lokalem Naturstein gebaut, während Karawansereien, Basare und das typische Hofhaus aus Holz und Lehmziegeln errichtet wurden. Sie waren reichlich verziert mit arabesken Mustern. Der Wohnkomfort war durch einen hohen technischen Standard auf einem sehr guten Level.
Die österreich-ungarische Periode (1878-1918) Es wurden maßgeblich die städtebaulichen Strukturen verändert. Alte ein- bis zweigeschossigen Gebäude wurden durch neue, deutlich höhere Gebäude ersetzt. Es wurde im klassizistischen oder historistischen Stil aus Stein gebaut. Lediglich die überhohen Türen, Fenster und Innenräume waren aus Holz. Teilweise wurden arabeske Motive aufgegriffen.
[Sowjetische] Moderne (1945-1992) Mit modernen Materialien wie Beton und Glas wurden Wohnblöcke, Regierungsinstitutionen und Geschäftsgebäude gebaut. Anfangs im modernen internationalen Stil, ab Mitte der 1970er-Jahre in einer postmodernen Interpretation desselben.

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Das Papageien-Haus ist jünger als man denkt: Bauzeit 1988 – 1990 (Bild: iek, Universität Stuttgart, 2015)

Es gibt hier scheinbar, wie auch in der eigenen Kulturfindung, das besondere Bedürfnis, die lokale Architektur in eine dieser Epochen einzuordnen und auch für sich selbst die wichtigste dieser Epochen zu definieren. Doch ist man sich dessen unter der Professorenschaft nicht einig. Weil der Blick aber immer nach hinten gerichtet ist, herrscht in der bosnischen Architekturwelt ziemliche Leere, Ratlosigkeit und demzufolge Untätigkeit.

Eine Idee

Jetzt fragt man sich: Warum muss man sich überhaupt für eine einzige Richtung beziehungsweise Haltung in der Architektur entscheiden? In allen mitteleuropäischen Städten gibt es unterschiedliche Epochen, die sich sowohl in Form, Ornamentik, Städtebau, Fassadengestaltung, Grundrissen, Haltungen, Ideologien und vielem mehr niederschlagen. Hier wird dieser Pluralismus gelebt und gefördert. Denn es ließe sich aus den ortstypischen Phänomenen des Bauens Einiges für eine zeitgenössische, an Aufgaben der Gegenwart gereiften Architekturentwicklung machen.
Wie wäre es beispielsweise mit einem modernen Hamam? In Höhe und Form an die klassizistischen Wohnhäuser angepasst, die Wände aus holzgeschaltem Beton, der Boden aus dunklem, bosnischen Galit. Durch große Glasfassaden könnte man den Blick über die Hänge der umgebenden Berglandschaft schweifen lassen. Außen würde ein schlichtes arabeskes Ornament die drei Meter hohe Holz-Eingangstür schmücken.
Es gilt hier, den ersten Schritt zu tun – der vielen Schritten aus der Vergangenheit folgt. Mut zu haben und auf die Kraft der Fantasie im Zusammenwirken mit Vernunft zu vertrauen.