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Die Langeweile als Ausgangspunkt für Neues. Darum geht es einem Berliner Fotografie-Kollektiv, das sich aus den bereits seit Jahren etablierten Fotografinnen Morgane Renou, Marcus Bredt, Fritz Brunier, David Hiepler und Simon Schnepp zusammensetzt und nicht weniger zum Ziel hat als die Rehabilitation der Langeweile.

Langeweile ist eines dieser so schnell dahingesagten und oft unbedacht genutzten Worte, die bei genauer Betrachtung jedoch einen grundsoliden Reiz ausstrahlen. Der Duden umschreibt die Langeweile „als unangenehm, lästig empfundenes Gefühl des Nicht-ausgefüllt-Seins, der Eintönigkeit, Ödheit, das aus Mangel an Abwechslung, Anregung, Unterhaltung, an interessanter, reizvoller Beschäftigung entsteht“. Als Beispiele führt die Website des Standardwerks neben „eine entsetzliche, grässliche Langeweile“ und „aus Langeweile einschlafen“ auch „vor Langeweile fast sterben“ an. 1) Soweit muss man für den Anfang wohl nicht gehen. Stattdessen lohnt ein Blick auf die Herkunft des Wortes: Langeweile. Eine lange Weile also.

Im etymologischen Wörterbuch des Deutschen findet sich die „Weile“ als „kurzer oder unbestimmter Zeitraum“, abstammend vom althochdeutschen „(h)wīla“ (8. Jh.) und mittelhochdeutschen „wīl(e)“. Beides bedeutet „Zeit(raum)“, „Zeitpunkt“ oder „Stunde“ und lässt sich, vom altenglischen „hwīl“ kommend, auch im heutigen englischen Wort „while“ wiederfinden.2)

Bilder: © Neue Langeweile

Als Teil der Crew Dynamite Deluxe macht der Hamburger Rapper Samy Deluxe diesen zeitlichen Kontext des Wortes klar, wenn er 2010 rappt: „Ich verschwende keine Zeile, denn ich kenne keine Eile/ Andere rennen eine Meile, ich penne eine Weile“.3)  Rund 200 Jahre früher, bei der deutschen Erzählerin Louise von François (1817–1893) etwa, wird das Wort jedoch so verwendet, dass eine weitere Komponente deutlich wird. Die Schriftstellerin schreibt „…er hatte Weile zechend zu rasten, wo ihm beliebte“.4) Weile ist hier nicht nur die Zeit, sondern auch die Muße, um etwas zu tun. In diesem Fall eben zechend zu rasten. Diese Doppeldeutigkeit kennen wir heute noch als Sprichwort „Gut Ding will Weile haben!“ Das Gute benötigt auch hier nicht bloß eine entsprechende Zeit, sondern setzt auch eine gewisse Muße für die jeweilige Tätigkeit voraus.

Muße und Weile

Muße, das steht dem etymologischen Wörterbuch folgend für eine „beschauliche Freizeit“ 5). Dort ist zu lesen, dass das nur im Deutschen und Niederländischen nachweisbare Wort, vom althochdeutschen „muoʒa“ (um 800) und dem mittelhochdeutschen „muoʒe“ kommend, für „freie Zeit zu etwas“, „Bequemlichkeit“ und „Untätigkeit“ steht und – etymologisch zum Modalverb müssen gehörend – eigentlich jenen Zustand beschreibt, „der einem die Möglichkeit bietet, etwas zu tun“.6)

Die Muße also als Möglichkeitszeit. Aber: „Im Gegensatz zur Muße, die dem Menschen willkommen ist, wird Langeweile als unangenehm und unlustvoll empfunden“, weiß das Online-Lexikon Wikipedia mit Blick auf die Begriffsklärung der Langeweile heute.7)

Die Länge also ist es, die aus der Weile im Sinne der Muße ein Problem macht. Wiederum Wolfgang Pfeifers etymologisches Wörterbuch des Deutschen benennt die Langeweile nämlich als „Gefühl des Nichtausgefülltseins, des Überdrusses“ und als „Mangel an Abwechslung“.8) Demzufolge sei aus der mittelhochdeutsch getrennt geschrieben auftretenden „lange wīle“ ab dem 14. Jahrhundert vereinzelt – und seit dem 17. Jahrhundert fest – eben jenes Wort geworden, das wir auch heute noch als Langeweile kennen. Bis zur Gegenwart, so Pfeifer et al., tritt es aber mit Binnenflexion auf: „aus Langerweile“ und „der Langenweile begegnen“.9) Diese Beugung macht die Wurzeln des zusammengesetzten Wortes deutlich.

Bilder: © Neue Langeweile

Mit Blick auf unsere heutige globalisierte und vom Arbeitsleben kontrollierte Welt hat Elisabeth Prammer der Langeweile einen aktualisierten Begriff entgegengestellt: den Flow.10) Sie umschreibt damit jenen Zustand, in dem der Mensch derart in seiner Tätigkeit aufgeht, dass Raum und Zeit jegliche Bedeutung verlieren. Prammer ist es auch, die auf das Imageproblem der Langeweile abhebt. Sie, die Langeweile, hat im Laufe der letzten Jahre eine stetige Abwertung erfahren, da wir uns permanent dazu angehalten fühlen, unsere Zeit „sinnvoll“ zu nutzen, statt sie mit aus Langeweile resultierender Muße zu füllen. In ihrem Buch „Boreout“ schildert Prammer dann auch jene Langeweile, die zum tatsächlichen und eigentlichen Problem wird, nämlich diejenige, die aus einer dauerhaften Unterforderung und dem Gefühl von Sinnlosigkeit mit Blick auf die eigenen, oft nur aufgrund ökonomischer Zwänge ausgeübten Tätigkeiten folgt.11)

Die Langeweile als solche ist also nicht das Problem. Und damit sind wir bei jenen Kindheitserinnerungen, da die größte Langeweile zu den schönsten Spielen, zu den tiefsten versunkenen Momenten und damit zu Muße und dem Vergessen von Raum und Zeit führte, die retrospektiv ein Gutteil des Glücks ausmacht, das manche von uns mit Kindheit verbinden dürfen.

Rehabilitation der Langeweile

Die Langeweile als Ausgangspunkt für Neues. Darum geht es auch einem Berliner Fotografie-Kollektiv, das sich aus den bereits seit Jahren etablierten Fotografinnen Morgane Renou, Marcus Bredt, Fritz Brunier, David Hiepler und Simon Schnepp zusammensetzt und nicht weniger zum Ziel hat als die Rehabilitation der Langeweile. Folgerichtig der Name des Kollektivs: Neue Langeweile.

Mit einer bemerkenswerten Serie zum Brandenburgischen Ort Grünheide ist die Neue Langeweile mit einer Anerkennung beim Europäischen Architekturfotografie-Preis Architekturbild 2021 ausgezeichnet worden. Dort, wo der US-amerikanische E-Auto-Hersteller Tesla seine erste Giga-Factory auf europäischen Boden realisiert, dokumentieren die Fotograf:innen im Rahmen eines Langzeitprojekts, wie sich der Ort, der Topos, hier durch die Baumaßnahmen verändert. Die ersten Fotos zeigen dabei keine Architektur im eigentlichen Sinne, sondern vielmehr die archaische Grundlage jeglichen Bauens: die Rodung. Otto Friedrich Bollnow weist mit Bezug auf Grimms Deutsches Wörterbuch auf die wortgeschichtlichen Ursprünge des Wortes „räumen“ hin: „Einen Raum, d.h. eine Lichtung im Walde schaffen behufs Urbarmachung oder Ansiedlung“.12) Maschinell wird auf den Bildern der märkische Kiefernwald gerodet, das Land für den Bau vorbereitet, wo dereinst bis zu 500.000 Fahrzeuge jährlich vom Band rollen sollen. Hier entsteht Raum. „Raum“, schreibt Bollnow, „in diesem ursprünglichen Sinne ist also nicht an sich schon vorhanden, sondern wird erst durch menschliche Tätigkeit gewonnen, indem man ihn durch Rodung der Wildnis (die also nicht Raum ist) abgewinnt.“13)

Bilder: © Neue Langeweile

Zu sehen ist Kiefernwald, in den teilweise bereits große Schneisen getrieben wurden, Straßen, Verkehrsschilder, große Baumaschinen, ganz vereinzelt sogar Menschen und viel Himmel. Was man nicht sieht, ist Architektur in einem uns vertraut wirkenden Sinne. Umbauter Raum. Und doch zeigen die Bilder Raum in dem von Bollnow angeführten, archaischen Sinne. Hier, in Grünheide, wird etwas eingeräumt werden. Etwas, das die Zukunft des Ortes maßgeblich beeinflussen wird, was zum jetzigen Zeitpunkt aber noch reichlich unabsehbar ist. Ergänzt wurde die Serie schließlich um jene Form des Bauens, der das Deutsche Architekturmuseum von September 2023 bis Januar 2024 eine eigene Ausstellung widmete: Protestarchitektur.14) In den Bäumen, die gefällt werden sollen, sind sie eingenistet, in luftiger Höhe schweben Architekturen der Auflehnung.

Damit stehen die Fotografien prototypisch für eben jenen gedanklichen Raum, den die Bilder der Neuen Langeweile aufmachen. Das Kollektiv sendet mit seinen stets subtil kontrastarmen Aufnahmen „Nachrichten von dort, wo das Urbane etwas spekulativ wird“, wie sie selbst sagen. Auf der einen Seite radikal direkt die Wirklichkeit unserer gebauten Umwelt in Stadt und Land abbildend, machen die Fotografien dabei auf der anderen Seite stets eben jenen eingangs geschilderten Möglichkeitsraum auf. Die Bilder zeigen Momente der Unentschiedenheit, des Unfertigen, des Spekulativen. Vieles scheint hier möglich. Veränderung ebenso wie Stagnation, Freude gleichermaßen wie Resignation. Durch diese Dialektik von interpretativer Offenheit bei gleichzeitigem schonungslosem Zeigen des Ist-Zustands, bekommen die Arbeiten der Neuen Langeweile eine bemerkenswerte künstlerische Tiefe, die nicht nur aus einem Flow heraus entstanden zu sein scheinen, sondern die Betrachtenden eben genau dieses Erlebnis selbst ermöglichen können. Losgelöst von Zeit und Raum wird hier die Rehabilitation der Langeweile betrieben.


1) siehe: www.duden.de/rechtschreibung/Langeweile, abgerufen am 18.09.2025.

2) Wolfgang Pfeifer et al.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, https://www.dwds.de/wb/etymwb/Langeweile, abgerufen am 18.09.2025.

3) vrgl.: „Ladies & Gentlemen“, Deluxe Soundsystem, Eimsbush, Buback, EMI, 2000.

4) Louise von François: Die letzte Reckenburgerin, hrsgg. v. G. Fischer, Leipzig 1965, S. 37.

5) Pfeifer et al., 1993, wie Anm.1.

6) ebd.

7) siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Langeweile, abgerufen am 18.09.2025.

8) Pfeifer et al., 1993, wie Anm.1.

9) ebd.

10) Elisabeth Prammer: Boreout – Biografien der Unterforderung und Langeweile: eine soziologische Analyse, Wiesbaden 2013.

11) ebd.

12) Otto Friedrich Bollnow: Mensch und Raum, Stuttgart 102004, S. 33.

13) ebd.

14) vrgl.: „Protest/Architektur. Barrikaden, Camps, Sekundenkleber“, Ausstellung im Deutschen Architekturmuseum, 16. September 2023 bis 14. Januar 2024, siehe auch: Protestarchitektur. Barrikaden, Camps, raumgreifende Taktiken 1830–2023, hrsgg. von Oliver Elser, Anna-Maria Mayerhofer, Sebastian Hackenschmidt, Peter Cachola Schmal, Jennifer Dyck und Lilli Hollein, Zürich 2023