Aus den Meistererzählungen der Architekturgeschichte ist Theodor Fischer (1862-1937) schon länger abgemeldet. Dabei gab es mehrere Anläufe, diesem neben Peter Behrens ebenso bedeutenden „Vater der Moderne“ und ersten Vorsitzenden des Deutschen Werkbundes seinen Platz in der Geschichte zu geben – beispielsweise durch Winfried Nerdinger 1988. Aber sie haben an der Vernachlässigung Fischers wenig geändert. Rose Hajdu und Dietrich Heißenbüttel nehmen einen erneuten Anlauf.
Was in den inzwischen angelsächsisch dominierten Heldenkanon nicht hineinpasst, der auf die wie Evangelisten verehrten Meister Le Corbusier, Gropius, Mies van der Rohe fokussiert ist, und was nicht im Narrativ des Bauhauses, dessen 100. Geburtstag im nächsten Jahr ansteht, eine tragende Rolle hat – das stößt bei der Karawane auf Gleichgültigkeit. So widerfährt es auch anderen, die auf ähnlicher Linie wie Theodor Fischer zu Unrecht vernachlässigt werden, wie zum Beispiel sein norddeutsches Pendant Fritz Schumacher.
Jetzt aber gibt es ein engagiertes Plädoyer für Fischer, für das Dietrich Heißenbüttel und die Fotografin Rose Hajdu verantwortlich zeichnen. Sie zeigen im Bild und mit erhellenden, von Heißenbüttel verfassten Kommentaren eine zentrale Phase seines Werkes, die Fischer zwischen 1901 und 1908 als Professor an der TH Stuttgart verbrachte.
Up to date
Alle Bauten wurden dafür neu fotografiert. Rose Hajdus Vorgehensweise ist dokumentarisch und mit einem besonderen Sinn für Details verbunden, was ihre schon in früheren Bänden bewiesene Stärke ist. Durch ihr Objektiv wird der Blick auf Einzelheiten gelenkt, die die außerordentliche Sorgfalt spüren lassen, mit der dieser Architekt seine Bauten entwarf und realisierte. Was allerdings auffällt und nicht sein müsste, ist das immer gute Wetter. Gute Architektur verträgt auch grauen Himmel.
Korrekturen
Während der Stuttgarter Jahre hinterließ Fischer vorwiegend im deutschen Südwesten einige Schlüsselwerke, die man einer Nationalromantik und dem Heimatschutz zugerechnet hat, die aber mehr bieten, als es solche Etiketten erkennen lassen; „Reformarchitektur“ wird der Sache eher gerecht. In Hajdus Farbaufnahmen sehen wir die heimelige Arbeiterkolonie Gmindersdorf, damals die erste ernst zu nehmende Realisation des seinerzeit revolutionären Leitbilds „Garden City“ im Lande.
Der Leser bekommt Schulen und Kirchen (über die ein Essay von Reinhard Lambert Auer eingefügt ist) gezeigt, darunter die Garnisonkirche in Ulm, mit überraschendem Innenraum in schwingenden Linien und einer innen und außen unverhüllten Betonskelett-Konstruktion.
Kontext
Und schließlich das Kunstgebäude in Stuttgart, das kleinste Gebäude am Stuttgarter Schlossplatz, das es aber schafft, mit der ringsum versammelten Baugeschichte intelligent und in Würde zu kommunizieren. Mit der zierlichen Arkadenfront und einer aus dem Dach eigenwillig aufsteigenden Betonlaterne mit flacher Kuppel, Auge in Auge mit den beiden Schlössern und als Antwort auf den akademischen Historismus des Königsbaus, erneuerte es das urbane Herz der Stadt, aber noch ohne den Furor der nachfolgenden Avantgarden. Denn den städtischen „Kontext“ zu achten, diese heute so oft nur dahin geplapperte Tugend, kennzeichnet seine immer integrierende Ethik, die das Neue vorantrieb, aber stets mit dem Ziel des kohärenten, ausbalancierten Stadtbilds im Sinne einer Harmonie des Ganzen.
Fischer brach einerseits bewusst mit den Eklektizismen des 19. Jahrhunderts, versah aber andererseits seine Bauten mit erkennbarer Erinnerung an Vergangenes, jedoch durchgängig in Bezug auf das am Ort Vorhandene oder Verlorene. So erinnert die Bogenarkade am Kunstgebäude auch nicht, wie schon mal vermutet wurde, an das Ospedale degli Innocenti in Florenz, sondern an den Vor-Vorgängerbau des Kunstgebäudes, das herzogliche Neue Lusthaus aus dem 16. Jahrhundert.
Die süddeutsche Heimat
Elemente aus der Geschichte waren bei ihm nicht a priori aus dem Entwerfen verbannt, das kam erst später durch Gropius und seine Generation. Früher als andere verwendete Fischer Eisenbeton, aber in die industrielle Zukunft blickte er im Unterschied zu vielen Kollegen ohne Begeisterung. Sparsamer Schmuck und Bauplastik gehörten bei größeren Bauten dazu, dennoch standen, wie Heißenbüttel betont, Fischer-typische Details wie der von ihm erfundene zweimal geknickte „Fischerbogen“ nie an erster Stelle des Entwurfs, der zuerst der Funktion zu gehorchen hatte.
Die Verankerung im süddeutschen Regionalismus bewahrte Fischer vor den Dekor-Moden des Jugendstils ebenso wie vor der expressionistischen Ekstase. Den Stadtbewohnern wollte er Heimat neu schaffen. Eins der Prinzipien dabei war es, ausdrücklich das „natürliche Empfinden“ über den Verstand zu stellen. Sein süddeutscher Heimatsinn war echt und schloss niemanden aus.
Erfahrung und Erfindung
Ein wichtiger Zug bei Fischer war die Balance zwischen Erfahrung und Erfindung. So war er 1919 der erste, der ein Jahrzehnt früher als die Kollegen eine Siedlung mit Kleinwohnungen im reinen Zeilenbau konzipierte und baute – alle Zeilen und in gleicher Ausrichtung zur Sonne, jedoch als ortstypische Putzbauten mit Ecklisenen und Bogen-überwölbten Loggien unter Satteldächern (Alte Heide, München). Radikaler Städtebau in genossenschaftlicher Organisation, der die rationalistische Kühle vermied, die mancher nach gleichem Schema später errichteten Siedlung des Neuen Bauens anhaftete.
Sozialreformerisch gedacht und gebaut hatte Fischer schon, als Behrens und Gropius den Weg in eine neue Architektur fast ausschließlich in Projekten der Industrie suchten und fanden. Ein sprechendes Beispiel dafür sind die im Buch dokumentierten „Pfullinger Hallen“ (1907), ein gemeinnütziges Volkshaus für eine kleine Industriestadt, innen künstlerisch reich ausgestattet, außen der Landschaft angepasst im Gestus einer großen Scheune.
Lehren des Moderaten
Wenn Fischers Name in den letzten Jahrzehnten auftauchte, dann zu Jubiläen des Deutschen Werkbundes oder in Monografien über nicht wenige bedeutende Architekten (Ernst May, Erich Mendelsohn, Bruno Taut, Hugo Häring, Ferdinand Kramer und andere), die allesamt an den THs von Stuttgart und München seine Schüler waren, um später die funktionalistische Moderne voranzutreiben, deren soziale Ziele er teilte, die in ihrer formalen Radikalität aber nicht mehr die seine war. Von den Genannten scheint mir Taut derjenige, der sich etwas von Fischers angenehm irrationalen „natürlichem Empfinden“ bewahrte und in einige seiner Berliner Siedlungen einbrachte; er hatte als Fischers Mitarbeiter am Hauptgebäude der Universität Jena mitgezeichnet, das ebenfalls im Buch dokumentiert ist.
Beim Neuen Bauen, wie es sich 1927 in der Weißenhofsiedlung manifestierte, störte sich Theodor Fischer, in seinen Worten, an „Eitelkeit“ und „ungeschlachter Sachlichkeit“. Seine Sympathien lagen dagegen bei denen, wie er es ausdrückte, „die haushalten und ihren Teil in Harmonie und mit einem Lächeln auf den Lippen tun“. Gemeint waren die Protagonisten der moderaten Moderne, die ebenfalls seine Schüler waren, wie Paul Bonatz, Dominikus Böhm und Hans Döllgast, besonders aber Paul Schmitthenner, der zwar nicht bei ihm studiert hatte, ihn aber trotzdem als seinen Mentor verehrte.
Vom „Block“, dem 1928 unter Beteiligung von Schmitthenner und Bonatz gegründeten Bündnis der konservativen Architekten, hielt Fischer sich trotzdem fern. Auf Ausgleich bedacht, protestierte er 1932 gegen die Schließung des Dessauer Bauhauses, und als 1933 die Nazis bereits an der Macht und abweichende Meinungen suspekt waren, verwahrte er sich in öffentlicher Rede gegen die Abstempelung des Neuen Bauens als „Baubolschewismus“ und forderte „Erneuerung, welche auf Vereinfachung und Wahrhaftigkeit beruht“.
Gegenwart
Was kann uns der Mann heute, ein Jahrhundert später, bedeuten? Dietrich Heißenbüttel nennt die 2014 verabschiedete Kölner Erklärung „10 Grundsätze zur Stadtbaukunst von heute“, die „gebaute Ensembles statt individualistischer Eventarchitektur“ fordert, und stellt fest: „Wie dies zu erreichen sei, hat Fischer gezeigt“. Hören wir auch mal auf Le Corbusier: Der reiste als junger Mann 1907 auf der Suche nach den neuen Tendenzen in Kunstgewerbe und Architektur nach Berlin, ins Rheinland und nach München. Er befand, Fischer gehöre zu den „größten Künstlern Deutschlands“ und erwog, bei ihm im Büro zu arbeiten. Auch nachdem er sich, weg von Fischer und vom zunächst verehrten Camillo Sitte, zum radikalsten unter den Rationalisten entwickelt hatte, schrieb er ihm 1932 anerkennende Worte: „Ich gehöre nicht zu denen, die das Glück hatten, Ihre Vorlesungen zu hören. (…) ich suchte in Deutschland gesunden und konstruktiven architektonischen Stoff. Ihr Werk war für mich eine Lehre.“
Literaturhinweise
[1] Theodor Fischer, „Zum Geleit“ [Widmung auf der ersten Seite eines Paul Schmitthenner-Hefts], in: Baukunst 3 (1927), Heft 12, S. 393
[2] Winfried Nerdinger: „Erziehung zum Können. – Der Lehrer und seine Schüler“. In: ders., Theodor Fischer. Architekt und Städtebauer 1862-1938. Berlin 1988, Seite 86-95, Zitat Seite 90