Stilkritik (89 ) | Um den 94-jährig verstorbenen Michel Piccoli zu würdigen, sendete der deutsch-französische Kultursender arte dieser Tage den 1970 gedrehten Film „Les choses de la vie“ (Die Dinge des Lebens). Michel Piccoli spielt darin den Architekten Pierre Bérard, dessen Leben mit Rückblicken in faszinierenden Geräuschebenen grandios erzählt ist.
Architekt Pierre Bérard, verschlossen und keineswegs souverän im Umgang mit dem Wort, außerdem hin und hergerissen zwischen zwei Frauen – gespielt von Romy Schneider und Léa Massari –, gerät ein einziges Mal im Film in Rage und wird laut: als ein Bauherr vor einer großen, neu zu bauenden Wohnanlage einen Parkplatz statt einer Grünanlage realisieren will. Wer wolle denn schon auf einen Parkplatz schauen? Michel Piccoli spielt den architektentypisch wortkargen Ästheten Bérard einfach: großartig.

Auch eine Liaison: Architekt und Auto. Piccoli fährt im Film von 1970 einen Alfa Romeo Giulietta Sprint von 1959 (Bild: https://www.zwischengas.com)
Der Architekt Pierre Bérard ist mit seinem schnellen Alfa Romeo in einen schweren Unfall verwickelt,1) den er nicht überleben wird. Der Film fasziniert akustisch durch die traumhafte Musik von Philippe Sardes und die sezierten Geräusche des Autofahrens, der Polizei- und Krankenwagensirenen – und vor allem durch die ruhige, gleichmütige Stimme Michel Piccolis. Nichts von diesen „Geräuschen“ bliebe in Erinnerung, dominierte in diesem Film nicht die unfassbare Ruhe, die von dieser extrem konzentrierten, inneren Erzählstimme des fast bewusstlosen Unfallopfers ausgeht.2)
Hinhören, Weghören
Überraschend ist dieser Tage für viele Menschen, dass sie, weil weniger Verkehr zu Wasser, zu Lande und in der Luft zu bemerken ist, nicht allein Ruhe „hören“, sondern viele Geräusche erkennen, die sonst von der Kakophonie von Alltagsgeräuschen überdeckt werden: von Fahrzeug- und Maschinengeräuschen, Autos, Zügen, Flugzeugen, Motorrädern, Heckslern und Rasenmähern, Kärchergeräten und elektrischen Heckenscheren, Radios und Fernsehapparaten und, und, und …
Dabei sind Ruhe und Stille voneinander zu unterscheiden, was in einem Alltag, der von dieser Kakophonie vieler, zum Teil sehr unnötiger Grundgeräusche dominiert wird, kaum gelingt. Wenn wir derzeit mehr Vögel und Insekten akustisch wahrnehmen, dann nicht, weil mehr Vögel und Insekten unterwegs wären, sondern weil wir sie hören. Auch in den Städten bemerken die Bewohner: Menschen hört man an ihren Schritten kommen und gehen, an Schritten, die sonst im allgemeinen Stadtlärm untergehen. Und vieles mehr hören wir derzeit, was die Wahrnehmung schult und schärft.
Eine qualitativ aussagekräftige „Karte“ des Hörens gibt es meines Wissens nicht, die analog zu Stadt- und Architekturführern als (Seh-)Hinweissammlungen zum Hören entwickelt worden wären. Wo in Deutschland ist es am ruhigsten? Wo hört man welche Tiere bei Tage und welche bei Nacht? Wo sind die ruhigen Orte einer Stadt?
In „Les Choses de la vie“ sind Stimmen und Geräusche vieler Art in verschiedenen Ebenen inszeniert und zeugen dort parallel davon, wie reizvoll das Spiel mit Ruhe und Stille ist. Ohnehin reift der Film mehr und mehr zum Kultfilm des 20. Jahrhunderts – als huldigender Abgesang auch an die Kino-Requisiten Auto und Zigaretten. Keiner hätte den Architekten Bérard besser spielen können als Michel Piccoli. Eine Neuverfilmung 1994 mit Richard Gere in silbernem Mercedes Coupé: belanglos.
1) Szenen des Unfalls bei Youtube >> https://www.youtube.com/watch?v=ksyoQZrBBFE
2) In der deutschen Synchronfassung spricht Gert Günther Hoffmann die Stimme Piccolis.