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Im Gebäude der ehemaligen, von Tadao Andō renovierten, Pariser Warenbörse zeigt die Pinault Collection die Arbeit „clinamen“ von Céleste Boursier-Mougenot. Nachdem zahlreiche Videos der Installation viral gegangen sind, hat sich David Kasparek selbst einen Eindruck verschafft. Der unterscheidet sich doch deutlich von dem, der im virtuellen Raum erweckt wird.

Vollmundig hatte die Pinault Collection die aktuelle Sommerausstellung als „multisensorische Installation“ angekündigt. Rasch hatten sich auf den einschlägigen Plattformen der sogenannten sozialen Medien eindrückliche Videos verbreitet: In einem kreisförmigen Wasserbecken treiben sacht unzählige weiße Schalen dahin, immer wieder stoßen sie wohltönend aneinander, das Azurblau des Bassins tritt in einen schönen Kontrast zum warmen Hellbraun der Holzeinbauten, die es umfangen und fein gestaltet in die Sichtbetonrotunde einbetten. Es sind Aufgüsse des PR-Videos des Ausstellungshauses. Kunst, für genau diesen einen Raum geschaffen, so scheint es. Eine Arbeit, die den immer wieder als kontemplativ beschriebenen Sichtbetonoberflächen des japanischen Architekten Tadao Andō nur zu gut zu entsprechen scheint. Nach Andōs Plänen nämlich wurde der Bau, die Bourse de Commerce, die einst Lagerhaus und später Handelshaus für Getreide und andere Güter war, zwischen 2017 und 2020 umgebaut. Ein Teil der Sammlung zeitgenössischer Kunst des Unternehmers François Pinault wird seitdem hier gezeigt. Pinault, dessen Vermögen das Forbes-Magazine 2023 auf 40,1 Milliarden US-Dollar schätzte, hat sein Geld zunächst mit dem Handel von Holz und Möbeln gemacht, seit den 1990er-Jahren gehören auch die Modemarken Gucci, Yves Saint Laurent und Bottega Veneta und zwischenzeitlich der Sportartikel-Hersteller Puma ins Portfolio des Familienunternehmens, das seit 2005 von seinem Sohn François-Henri geführt wird. Über die Holdinggesellschaft Artémis kommen neben Anteilen an Weingütern, Auktionshäusern, Zeitschriften, Kulturinstitutionen und Versicherungen auch die des Fußballvereins Stade Rennes dazu.

Zwischen 2017 und 2020 wurde die Beton-Rotunde nach Plänen des japanischen Architekten Tadao Andō in die alte Börse eingezogen (Bild: David Kasparek).

Zwischen 2017 und 2020 wurde die Beton-Rotunde nach Plänen des japanischen Architekten Tadao Andō in die alte Börse eingezogen (Bild: David Kasparek).

Das ehemalige Börsengebäude, das sich bereits in Privatbesitz befand, wurde 2017 für 86 Millionen Euro von der Stadt Paris gekauft, die wiederum die Verwaltung mittels eines Mietvertrags für die nächsten 50 Jahre an eine Tochtergesellschaft eben jener Holding Artémis übertrug. Tadao Andō hatte für Pinault zuvor schon die Umbauten seiner beiden venezianischen Museumsprojekte betreut und von 2005 bis 2006 den Palazzo Grassi und von 2008 bis 2009 die Punta della Dogana saniert und ergänzt. Auch der Raum in Paris ist in bewährter Andō-Manier beeindruckend. Der Beton ist bemerkenswert gut ausgeführt, die prototypischen Details, von den nur vermeintlichen und tatsächlich nachgebohrten Löchern der Schalelemente bis zu den gläsernen Brüstungen mit ihren runden Edelstahlhandläufen, finden sich in der alten Börse ebenfalls. Der runde Einbau hält angemessenen Abstand vom Bestand und wirkt doch gleichermaßen raumbildend massiv. Auch die zwischen 1886 und 1889 als Hommage an den internationalen Handel entstandenen und 2021 aufwändig restaurierten Fresken von Évariste-Vital Luminais, Désiré François Laugée, Victor Georges Clairin und Hippolyte Lucas kommen hier voll zur Geltung.

Raum für Kunst im Einklang mit der Architektur

Von meditativer Einkehr keine Spur: Céleste Boursier-Mougenots Installation „clinamen“ in der Pariser Bourse de Commerce (Bild: David Kasparek).

Von meditativer Einkehr keine Spur: Céleste Boursier-Mougenots Installation „clinamen“ in der Pariser Bourse de Commerce (Bild: David Kasparek).

Und unter all dem, so die durch die Instagram- und TikTok-Videos geschürte Hoffnung, tut sich nun ein meditativer Ort der inneren und äußeren Einkehr auf, in dem der vom aufgeregten Trouble der französischen Hauptstadt gestresste Geist ein wenig Ruhe findet. Die Arbeit stammt von Céleste Boursier-Mougenot. Es ist nicht die erste Installation dieser Art des 1961 in Nizza geborenen Künstlers: Boursier-Mougenot, dessen Arbeit „transHumUs“ 2015 in Venedig zu sehen war, hat im selben Jahr eine kleinere Version der „clinamen“ genannten Klang-Schalen-Installation schon im Pompidou Metz gezeigt, 2013 in Melbourne und 2001 in Houston. Nun also – merklich größer – in Paris und vermeintlich als absolut logische Fortschreibung des von Andō überformten Raums.

Doch die Enttäuschung vor Ort in der Bourse de Commerce könnte kaum größer sein. Vom sanft-meditativen Klingen der aneinanderstoßenden Schalen keine Spur, von Kontemplation erst recht nicht. Ein Brausen erfüllt den Raum, das mit dem sprichwörtlichen Summen eines Bienenstocks nur unzureichend beschrieben ist. Vielmehr erinnert es an die Klangkulisse der Vollversammlung einer durchschnittlichen, weiterführenden Schule in der dafür freigemachten Dreifeldsporthalle irgendwo in Deutschland. Hunderte junge und zahlreiche ältere Menschen halten ihre Smartphones so, dass ihre Gesichter vor dem Bassin von der integrierten Kamera eingefangen werden, auch einige Profi-Influencer sind da. Gelangweilt routiniert spulen sie ihre bewährten Bewegungsabläufe ab, immer wieder korrigiert von der Freundin oder dem Freund hinter der Kamera, immer wieder ermahnt vom sichtlich genervten Personal, dem Beckenrand nicht zu nahe zu kommen.

Ungefähr so meditativ wie die Vollversammlung des Otto-Hahn-Gymnasiums in Herne

The Instagramable Place to be anno 2025: Die Pinault Collection im Herzen von Paris (Bild: David Kasparek).

The Instagramable Place to be anno 2025: Die Pinault Collection im Herzen von Paris (Bild: David Kasparek).

Von der suggerierten Ruhe ist hier genauso wenig zu spüren wie in den verwinkelten Gängen der Pariser Metro in Feierabendstunden. Es wird geredet, gerufen und dann wieder für die Kamera – die den Bildausschnitt geschickt so wählt, dass neben dem makellos geschminkten Gesicht mal nur Wasser und Schalen, mal nur Beton und Fresko zu sehen sind – so getan, als könne man hier ganz arg achtsam voll und ganz zu sich selbst finden. Doch das Motörchen, das das Wasser in Bewegung halten soll, damit die Schalen auf ihm auch in Bewegung bleiben und eben jenes meditativen Klingklong erzeugen, ist zu schwach und blubbert an einer Stelle des Beckens merklich gegen die Widerstände des feuchten Elements an. Nur ganz selten und ob der Geräuschkulisse nur bei genauem Hinhören zu erahnen, ist der versprochene Ton des sich sacht berührenden Porzellans zu erhaschen.

Dabei hätte die Arbeit die Ruhe, die die Videos suggerieren, durchaus verdient. Es ist eine theoretisch schöne Installation in einem praktisch schönen Raum. Doch im heutigen Kunstbetrieb ist es eben nicht vorgesehen, eine solche Arbeit nur wenigen Menschen – dafür gerne über einen längeren Zeitraum – zugänglich zu machen. Trotz der Tickets, die an Zeit-Slots gebunden sind, sind es schlicht zu viele Menschen, die diese gutgeölte Kulturmaschinerie durch die „multisensorische Installation“ spült. Obschon „clinamen“ von Céleste Boursier-Mougenot vorgaukelt, losgelöst von Alltag, Stress und Konsum zur Einkehr und zur Kontemplation anzuregen, ist sie systemisch bedingt doch bloß ein Teil von all dessen.

Ehe man also hier Gefahr läuft, unfreiwillig Teil des nächsten in Japan viral gehenden Videos einer Travel-Influencerin zu werden, ist die Zeit ungefähr an jedem anderen Ort der französischen Hauptstadt besser investiert. Ob ausgestattet mit dem Besten aus einer der vielen Patisserien an einem der schönen Plätze dieser immer grüner werdenden Stadt, oder in den Vororten auf den Spuren des viel zu früh verstorbenen DJ Mehdi: Beides ist wohltuender, spannender und ehrlicher. Oder man besucht einfach eine der vielen schönen Kirchen. Da ist es auch kühl. Und ruhig sowieso, gerade weil diese Räume ­– unfreiwillig gewissermaßen – eben nicht mehr Teil unseres Systems sind.