Das Bauhaus-Jubiläum veranlasst viele Institutionen zu Ausstellungen und Symposien. Im belarusischen Minsk diente der „Architectural Autumn 2019“ der Architekturfakultät und der Belarusion Union of Architects (BUA) zum Erfahrungsaustausch stadtrelevanter Themen mit Gästen aus Deutschland – Nachrichten aus einem Land, das seit 1991 unabhängig ist und autoritär regiert wird.
Flugzeit 1 Stunde 45 Minuten, dann ist man von Berlin Schönefeld in Minsk. Dorthin reiste Anfang Oktober eine kleine, interdisziplinär zusammengesetzte Gruppe, um sich zur „Zukunft der Stadt“ mit Kollegen der Minsker Architekturfakultät und Architektenkammer auszutauschen. Genauer gesagt ging es um Trialoge, in denen Vertreter aus Politik/ Verwaltung, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Wissenschaft ihre Kenntnisse beitragen sollten. Die NGO Humboldt-Viadrin a Governance Platform thematisierte dabei unter anderem Partizipation in vielen Facetten, die sich global als treibende Kraft in Stadtentwicklungskonzepten manifestiere.

Der Unabhängigskeitsplatz in Minsk: rechts, nicht im Bild, steht eine stattliche Lenin-Skulptur. Eine Shopping-Mall wurde hier ins Untergeschoss verbannt. (Bild: Ursula Baus)

Betonschale für das Belexpo-Gebäude, 1986 von L. Moskalevich, G. Laskavaya, G. Fedosenko und V. Kopylov gebaut (Quelle: Minsk Architekturführer, siehe Anmerkung 1)
Minsk – „Enzyklopädie der Sowjetmoderne“
Im Architekturführer „Minsk“, den der Bauhistoriker Dimitrij Zadorin verfasst hat, wird die Stadt als Ort beschrieben, an dem sich Architektur aus Konstruktivismus, Neoklassizismus, der Nachkriegsmoderne bis zur Altstadt-Rekonstruktion finden lässt. Tatsächlich kommt einem die Stadt wie ein Architekturmuseum vor, vergleichsweise homogen in den Straßenzügen, Quartieren, Platzanlagen.1 Die Stadt, die über Jahrhunderte von polnisch-jüdischer Tradition geprägt war, ist im Zweiten Weltkrieg von Deutschen weitgehend zerstört worden, Zigtausende wurden barbarisch ermordet oder in Zwangslager verschleppt. Auch von anderen Kriegstreibern stark zerstört, bietet sie heute gepflegte Panoramen unterschiedlicher Stadtkonzepte und Baustile, überrascht mit großartigen bis skurrilen Solitären, mit ambitioniert kleinmaßstäblichen Wohnanlagen und gespenstischen Riesenensembles. Obwohl vielfältig zerstört, bietet Minsk heute gepflegte Panoramen unterschiedlicher Stadtkonzepte und Baustile, überrascht mit großartigen bis skurrilen Solitären, kleinmaßstäblichen, ambitioniert konzipierten Wohnanlagen und gespenstischen Riesenensembles.2

Im östlichen Stadtteil entstand die neue Bibliothek, rund um den Vorplatz wachsen Wohn- und Arbeitsquartiere. (Bild: Milena Kula | Humboldt-Viadrina Governance Platform)
Systemverwandtschaften
Belarus wird seit 1994 von Alexander Lukaschenko autoritär regiert. Faktisch versucht sich der Präsident in einem Balanceakt zwischen Ost und West, zwischen Russland und Europa. Vor Ort fällt allerdings eine starke Präsenz von Chinesen auf, was sich bereits an den Anzeigetafeln am Flughafen andeutet. Scheuen die Chinesen keinerlei demonstrativen, kapitalistisch anmutenden Luxus, so finden sich in Minsk inzwischen auch erste Luxusgeschäfte, extravagante Hotels und stylische Restaurants. Bemerkenswert ist, dass in der Stadt zwar keine Ordnungskräfte im öffentlichen Raum zu erkennen sind, aber omnipräsent wurden Überwachungskameras installiert.

In der Bibliothek der Architekturfakultät etwas abseits positioniert: große Abbildungen von Corbu und Mies (Bild: Ursula Baus)
Trialoge
Beim Architectural Autumn berichteten nun die deutschen Gäste über diverse Beteiligungsverfahren, Partizipationsanalysen, Mitmach-Projekte und Wirtschaftsförderungen im Bereich des Bauens und Planens. Die belarusischen KollegInnen erläuterten Verfahren, mit denen zum Beispiel der Fahrradverkehr gestärkt und denkmalpflegerische Ansätze entwickelt werden. Selbstverständlich ließen sich unterschiedliche Ausprägungen in bottom-up- und top-down-Prozessen mit unterschiedlichen Erfahrungen konstatieren.
Studentische Architektur- und Stadtplanungsentwürfe, die im Tagungsraum präsentiert wurden, deuteten auf eine extreme Gestaltungsvielfalt, die weniger einem genius loci als vielmehr einem globalen Spiel der Formalismen zu folgen scheint.

Nationalbibliothek von Minsk, entworfen von Viktor Kramarenko und Michail Vinogradov (Bild: Ursula Baus)
Dimensionssprünge
Minsk lässt sich in kurzer Zeit nicht nur zu Fuß erkunden, dazu ist die Stadt zu groß. Aus jüngerer Zeit bemerkenswert ist beispielsweise die einem Diamanten nachempfundene Bibliothek, die als größte für die gesamte Sowjetunion geplant war und im Osten der Stadt gebaut wurde. Bereits 1989 war ein sowjetunionweiter Wettbewerb für den Bau ausgelobt worden, den die Architekten Viktor Kramarenko und Michail Vinogradov für sich entscheiden konnten. 23 Etagen hoch, wirkt das Buchlager weithin in die Stadt, auf der Dachterrasse bietet sich ein fantastischer Fernblick.
Der Verkehr stellt die Planung in der wachsenden Stadt wie überall sonst in der Welt vor wachsende Probleme, die sich im autoritär regierten Belarus top down vielleicht in den Griff bekommen ließen. Wer es sich leisten kann, wählt, so können wir beobachten, aber wohl gern einen SUV. Zarte Versuche, dem Autozuwachs entgegenzusteuern, offenbaren sich in Elektrorollern, die wie hier auf dem Unabhängigkeitsplatz dezentral positioniert sind.

Halbherzige Versuche, Fahrradfahrern Platz im öffentlichen Raum zu sichern (Bild: Milena Kula | Humboldt-Viadrina Governance Platform)
Auch Initiativen zur Einrichtung von Fahrradwegen gibt es, allerdings kann man sich gefahrloses Radfahren nur auf dem großen Radweg im Stadtpark entlang des Flusses Swislatsch vorstellen. Eine Initiative zur Förderung des Fahrradverkehrs konnte Geltung erreichen, weil ein Foto von Lukaschenko auf dem Fahrrad im Internet kursierte.

In ehemaligen Industriebauten entwickelt sich eine „Szene“ mit Treffpunkten für Jugendliche. (Bild: Ursula Baus)
Die Stadt als Themenpark
Industriebrachen bieten auch in Minsk Risiken und Chancen. Erreichbar im Osten der Innenstadt, unmittelbar beim neuen Willing Hotel, entwickelte sich in einem solchen Quartier eine Art „Szene“. Von Subkultur möchte man insofern nicht reden, weil auch hier alles unter Kontrolle bleibt, gehobene Gastronomie und anspruchsvolles Musiktheater bereits zu finden sind. Vielmehr wirkt dieses Gebiet also wie eine funktionale Ergänzung der anderen Stadtteilen, die als Regierungsviertel, Nobelstraßen, Wissenschaftsquartier, Prachtboulevard und so weiter eine Art urbanen Themenpark bilden.
Minsk ist in der Art und Weise, wie die Bausubstanz weitgehend gepflegt wird, einerseits charmant und bisweilen klinisch schön. Andererseits spürt man die beklemmende Kraft der Regulierung, die Monotonie der Planungslogiken. Ein Austausch von Erfahrungen mit unterschiedlichen Prozesskulturen lohnt sich deswegen unbedingt, weil Lebensweisen heute über politische Systeme hinweg in einen globalen Diskurs gehören und sich gleichzeitig in lokaler Eigenlogik entwickeln.
1 Dimitrij Zadorin: Architectural Guide Minsk. Dom publishers, 2018
2 Das Goethe Institut Minsk zeigt bis 23. Oktober die von Zadorin kuratierte Wanderausstellung „Die Stadt von morgen“, zum Jahreswechsel wird sie in der neuen Tretjakow-Galerie in Moskau zu sehen sein, siehe auch Kerstin Holm: Sonnenstadt mit Schönheitsflecken. Das Phänomen Minsk: Eine Wanderausstellung würdigt die Architektur der Nachkriegsmoderne in den Ländern der einstigen Sowjetunion. In: FAZ, 7. Oktober 2019