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SBB nach Hamburg

1944_NL_Zug

Stilkritik (79) | Wer häufig unterwegs ist, kennt es: Der Zug ist eine Raumkapsel auf vergleichsweise kurzer Strecke, Landschaften und Stadtsilhouetten folgen als Bilder in atemberaubender Geschwindigkeit. Und zugleich sind Abteile, Großraumwagen und Speisewagen Innenräume, die ihre Besonderheiten auch in Begegnungen haben: ein Kapitel zur alltäglichen Mobilität, zu Raum und Zeit.


Immobilien im Subkulturbereich

Es ist ein aus Zürich kommender EC mit Ziel Hamburg, dessen Speisewagen-Interieur erstaunlich verspielt ist. Kleine Zweiertische und halbrunde größere Tische versetzt ergeben einen schlangenlinienförmigen Gang dazwischen – das ist kein Schweizer Gestaltungspurismus. An einem der großen Tische sitzt ein Mann „im besten Alter“ gegenüber. Beim Sprudelwasser blättert er in GQ, sein auf Figur geschnittenes, schon etwas strammendes Hemd trägt er ohne Unterhemd, und zweifellos ein Hemdknopf zu viel ist offen. Eine Schirmmütze – marineblau –, eine Sonnenbrille und eine nach Bedarf aufgesetzte Lesebrille finden auf dem Kopf und im Gesicht übereinander Platz. Und dann klingelt sein Handy. „Alles gut bei euch? Nee? Ach. Bei mir alles super. Also es geht, das müssen wir jetzt unter uns behalten, um ein Geschäftsmodell, wo Du mit Immobilienentwicklung jetzt im Subkulturbereich auch eine passable Rendite schaffst.“ Seine Stimme wird leiser und leiser, mehr war dann leider nicht mehr zu hören. Und schon fragt man sich: Was sind Immobilien im Subkulturbereich?

Neu in deutschen Zügen: Hinweisschilder auf Schwandere und Behinderte (Bild: Ursula Baus)

Neu in deutschen Zügen: Hinweisschilder auf Schwangere und Behinderte (Bild: Ursula Baus)

Der Doktorvater

Am kleineren Nachbartisch hockt ein Herr, etwa sechzig, der inzwischen der Leibesfülle nicht mehr entgegen zu arbeiten scheint, halbärmeliges, lachsfarbenes Hemd, Schlips mit asiatischem Muster und – das ist schon speziell – mit einem Ring am Finger, der aus dem Erbe seiner Mutter sein könnte. Oben auf dem Ringfinger treffen sich leicht versetzt die beiden geschwungenen Enden eines Goldstreifens, die sich nicht berühren, sondern mit einem funkelnden Edelsteinchen zusammengehalten werden. Das Handy in kupferbraunem Etui ist größer als das des Gegenübers, in tadellosem Hochdeutsch begrüßt er Dagmar, die, so erfährt man, seine Doktorandin ist und bei einem Netzwerktreffen in Schweden vortragen soll. Leider lässt sich das Metier nicht ausmachen – Architektur ist es nicht. Der Herr blättert später in einer Golf-Zeitschrift und trinkt abwechselnd oder besser gesagt gleichzeitig Rotwein und Bier in stattlichen Mengen, auf dem Teller ein Sortiment aus Schinken, Salami und Mortadella, dem später der zweite Gang mit Züricher Geschnetzeltem folgt.

Last exit: Osnabrück

Am dritten Tisch sind zwei einander ursprünglich Fremde ins Gespräch gekommen, es geht um Geschäftsmodelle, nicht hörbar, welche. Der Eine im dunklen Anzug und mit im Nacken kurz geschnittenem Haar trinkt Cola, der Andere, schütter blond in hellblauem, kragenlosem Hemd, hat eine ganze Flasche guten Weißweins vor sich. Der Blonde wird heiter und lauter, hinter Münster duzen sich die beiden. Berlin sei nicht sein Ding, Hamburg sei „aber schön, und eben viel angenehmer als Berlin. Die Berliner – das is ne eigene Welt“.
Er meint, die kleinen Gemeinden auf dem Land können das nicht. Diese ganzen Flüchtlinge … nein, Wohnungsnot gebe es bei ihm zuhause nicht, aber so neue Wohnmodelle und das mit den Flüchtlingen sei eben nicht mehr sein Ding. In Osnabrück steigt er aus.

Motivim Schweizer Speisewagen: das Alpenpanorama; draußen die norddeutsche Tiefebene (Bild: Ursula Baus

Motiv im Schweizer Speisewagen: das Alpenpanorama; draußen die norddeutsche Tiefebene (Bild: Ursula Baus)

Was heiter ist: Wenn in der norddeutschen, horizontweiten Wiesenlandschaft mit Pferdekoppeln, zwischen Osnabrück und Bremen, im Zug das Dangdingdong der Schweizer Bundesbahn tönt, glaubt man sich im falschen Film. Die Zuggeräusche assoziiert man doch mit bestimmten Landschaften, sagen wir hier: zwischen Zürich und Chur. Wie beim französischen TGV reist man in diesem Schweizer EC in einer Art National-Shuttle und trifft auf Menschen aus aller Welt. Mir gefällt es viel besser als im Auto.