Stilkritik (48): Der Begriff „Architektur“ bezeichnet zwei inhaltlich unterschiedliche Wege. Auf dem einen wird er immer stärker verallgemeinert und generalisiert, was Folge seines inflationären Gebrauchs ist. Der andere führt an merkwürdigen Berufsbildern vorbei.
Staatstragend
Der erstgenannte Weg hat dazu geführt, dass komplexe Ordnungen im Kleinen wie im Großen, gleichgültig ob es sich um Wissenschaft, Technik, Kunst oder Politik handelt, “Architektur“ genannt werden. Es verwundert also nicht, dass die allerwenigsten “Architekten“ solch komplexer Ordnungen, die nichts mit Hochbau zu tun haben, Architektur studierten. Auch der SPD-Politiker Egon Bahr (1922-2015) nicht, der als „Architekt der Ostverträge“ in die Geschichte einging. Er war gelernter Industriekaufmann und hat zu Lebzeiten kein einziges Haus entworfen. Auch Helmut Kohl, der genauso zum „Architekten der Einheit“ geadelt wurde wie Hans-Dietrich Genscher, hatte von Architektur als Gebautem eher wenig Ahnung.
Schurkenrollen
Studierten Architekt|innen, die Gebäude entwerfen und Städte planen, begegnen wir auf dem zweiten Weg, den die Architektur beschritten hat. Er ist geprägt von einer tendenziellen Dämonisierung des Berufs.
Ein Indiz hierfür ist, dass Architekten in den zurückliegenden Jahren die Schurkenrolle im deutschen Fernsehkrimi übernommen haben. Zwar sind sie nicht die einzigen Bösewichte, aber die interessantesten. Sie widersprechen dem Klischee, Kapitalverbrecher seien vor allem in Politik, Wirtschaft und Rotlichtmilieu zu finden.
Die Kriminalisierung kreativer Berufe ist halbwegs originell und folgt der Regel: Wer sich künstlerisch verwirklichen will, darf keine Geschäfte machen; tut er es dennoch, werden es offenbar krumme Geschäfte sein. So lautet die einfache Lesart.
Die Stararchitektin Sofia Martens geht beispielsweise im Tatort „Architektur eines Todes“ (ARD 2009) ganz in ihrer Arbeit auf. Ihr Mann Holger Martens hält ihr den Rücken frei – er sorgt für die Kinder und den Haushalt. Je tiefer die beiden Kommissare Charlotte Sänger und Friedrich Dellwo in die Welt von Sofia Martens eintauchen, umso mehr Risse zeigen sich in diesem scheinbar so perfekten Leben.
Verstand und Kreativität
Die kompliziertere Weg weist darauf hin, dass es einen gesellschaftlichen Konsens gibt, der den phantasiebegabten Architekten im Widerspruch sieht zur universellen Architektur des ersten Weges. Diese wird allgemein geschätzt und bewundert, weil sie sich keinem Egotrip verdankt (wie die Verächter der Kunst betonen), sondern das Produkt eines am Realitätsprinzip geschulten Verstandes ist. Er verdankt sich der Teamarbeit vieler Experten. Vermutlich befinden sich auch interdisziplinär besetzte Architekturbüros längst auf dem ersten Weg. Sie übertragen die Logik der Superordnungen auf multifunktionale Hightech-Großprojekte oder auf hochgradig spezialisierte Forschungslabore und vollstrecken die Abstraktion der Architektur auf den Reißbrettern von Spezialisten, die nicht zur Filmfigur taugen. Dazu ist das, was sie tun, allzu kompliziert und viel zu langweilig.
Bereitet uns die Kriminalisierung des ambitionierten Architekten auf das Ende eines Berufs vor, der keine selbstbewusste ästhetische Disziplin mehr sein darf? Die Kulturkritik wird kaum der Verlockung widerstehen wollen, das zu behaupten. Und falsch ist die Annahme ja nicht, dass von Architekten bei den großen Profanbauten nur mehr bescheidene Beiträge zum Fassadendesign erwartet werden. Gleichwohl wird mit ihrer Dämonisierung nicht bloß eine überholte Berufsauffassung verurteilt und verabschiedet. Man kann darin auch einen Wiederschein postmodernen Starrummels erkennen. Warum postmodern? Weshalb das antiquierte Modewort an dieser Stelle? Weil es unter modernen Architekten auch schon Superstars gab wie Frank Lloyd Wright und Le Corbusier – doch wurden sie nicht dämonisiert. Sie waren ja tatsächlich kleine(?) Teufel, deren Schandtaten man unter den Teppich kehrte.
Genie, Popstar, Parametrie
Das postmoderne Starwesen ist ein Produkt der Popkultur. In ihr spielt keine Rolle, was man ist, sondern für wen einen das Publikum hält. Stararchitekten und Stararchitektinnen sind späte Relikte des romantischen Geniekults, der sich schon Ende des 18. Jahrhundert eines hochtalentierten Baukünstlers vergewissert hatte: Friedrich Gilly. Der früh vollendete und rasch verstorbene Lehrer Friedrich Schinkels schien Schwärmgeistern wie Ludwig Tieck und Wilhelm Wackenroder bestens zur Heroisierung geeignet. Verwerflich war das nicht.
Im Rückblick fällt nur etwas auf: So wie Gilly die Aufwertung des Bauens zur symbolischen Kunst mit rationalistischem Pathos versah, schmücken sich heutzutage die Repräsentationsbauten okzidentaler Großkonzerne und orientalischer Diktatoren mit dem spektakulären Gestus parametrisierter Architektur.
Der Architekt als gefürchteter Krimischurke bildet die Kehrseite des zum Popstar mutierten, romantischen Genies. Das Beste, was über beide gesagt werden kann, ist vermutlich, dass sie unterschiedliche Verklausulierungen des frommen Wunsches sind, die Architektur könne in der Moderne als Topos übermächtiger Ordnungssysteme und als Kunst überleben.