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Fragen zur Architektur (20): Bemerkenswert ist, dass uns gerade jetzt das Thema „Elternhaus“ vor die Füße fällt. In einem Moment, in dem auch der Begriff „Heimat“ diskutiert wird, weil man ihn nicht den Populisten am rechten Rand der Gesellschaft überlassen will. Und wo ein Bundesministerium neu zugeschnitten wird, das „Heimat“ im Titel führt. Heimat scheint uns abhanden zu kommen, seit junge Leute sich darauf verständigen, sie sei da, wo es Wlan gibt. Hat sich gleichzeitig auch unsere Auffassung von „Elternhaus“ verändert, weil Patchwork-Familien die gottgefällige Ordnung abgelöst haben? Bezeichnet es nur noch eine neutrale Immobilie, die man im Erbfall günstig los werden will?


Einfamilienhaus in Genf, 1949 von André und Liv Rivoire: Idyll und Klischee der Kleinfamilie (Bild:Robert Winkler: Das Haus des Architekten. Zürich 1955)

Einfamilienhaus in Genf, 1949 von André und Liv Rivoire: Idyll und Klischee der Kleinfamilie. Auf der Treppe der Erbe? (Bild: Robert Winkler: Das Haus des Architekten. Zürich 1955)

Moderne Sesshaftigkeit

Zum Kleingedruckten: In Deutschland gibt es etwa 15,7 Millionen Einfamilienhäuser. 42 Prozent der Deutschen sind Hausbesitzer, demnach wohnen 34 Millionen Menschen im eigenen Haus. Im Saarland besteht die höchste Eigenheimquote mit 60 Prozent, die meisten Häuser werden im Nachbarland Rheinland-Pfalz vererbt, dort betreffen 46 Prozent aller Erbschaften eine Immobilie. Soweit die trockene Statistik, man kann allerdings nur mutmaßen, bei wie vielen Gebäuden es um Elternhäuser geht und ob es sich lohnt, sie in der Kategorie „Architektur“ zu betrachten. Aber um eine erkleckliche Anzahl handelt es sich auf jeden Fall. „In Deutschland werden immer mehr Immobilien vererbt“, resümierte Mitte letzten Jahres das Fachmagazin Finanzwelt. Und dabei denkt man in erster Linie nicht an umbauten Raum oder an Geldanlage.

Kehraus. Ein Elternhaus auszuräumen, heißt Abschied nehmen, heißt Erbschaften regeln. (Bild: privat)

Kehraus. Ein Elternhaus auszuräumen, heißt Abschied nehmen, heißt Erbschaften regeln. Oder selber Einziehen? (Bild: privat)

Elternhäuser besitzen eine eigene Qualität. Die Familie wohnte nicht irgendwie, nur um die Miete zu sparen. Selbst das unbedeutendste Haus, das ein Planvorlageberechtigter für einen Bauträger gezeichnet hat, erlebte durch Ausstattung und Möblierung eine persönliche Aneignung. Und sei es nur durch die im Baumarkt besorgte Außenleuchte, die man viel hübscher fand als die bei den Nachbarn im anderen Teil der Doppelhaushälfte. Unvorstellbar, dass sich Eltern gleichgültig ein Haus bauten. Sesshaftigkeit in den eigenen vier Wänden war (und ist) eine Behauptung, das Gegenteil von dem, was ein Soultitel Anfang der 70er-Jahre besang: Papa was a rolling stone. Wherever he laid his hat was his home. Ein Haus bauen war das Gegenteil von Herumtreiben.

Haus Rogers sr., gebaut von Su und Richard Rogers 1969 in London für seine Eltern (Bild: Büro Rogers, Tim Crocker)

Haus Rogers sr., gebaut von Su und Richard Rogers 1969 in London für seine Eltern (Bild: Büro Rogers, Tim Crocker)

Verfallszeit eines Bautypus

Üblicherweise halfen (und helfen) die Eltern den Nachkommen finanziell, wenn die sich ihr eigenes Haus bauen wollen. Oft entstand so das erste Elternhaus in der Familie, oder die bereits einmal praktizierte Wohnraumherstellung wiederholte sich einige Jahrzehnte später. Für junge Architekten kann es der Start zum eigenen Büro sein, wenn sie ihren Eltern ein Haus bauen dürfen. Bei Su und Richard Rogers war es so. Damit hat sich eine andere, ideelle Erbfolge eingestellt. Aber die Frage bleibt: Was geschieht mit den unzähligen Elternhäusern, die von den Kindern nicht mehr weiter bewohnt werden?
Das Elternhaus passt in seiner Spezifikation weder in eine funktionale noch in eine ästhetische Typologie. Dabei könnte es schon beim Bau ein Beispiel nachhaltiger Architektur sein, so wie es ein Schweizer Uhrenhersteller sagt: Es gehört einem nie ganz allein. Man erfreut sich ein Leben lang an ihm, aber eigentlich bewahrt man es schon auf für die nächste Generation.

Swimming Pool und Klavier – Architektur- und Einrichtungsindizien eines Familienbildes, das nur einer einzigen Generation eignet? (Bild: privat)

Swimming Pool und Klavier – Architektur- und Einrichtungsindizien eines Familienbildes, das nur einer, vielleicht zwei Generation eignet? Heute wiederholt sich die Einsicht aus kapitalistischer Erfahrung, dass Nachkommen mit dem Einkommen nicht auskommen. (Bild: privat)

Erblasten und Übernahmen

Handelt es sich beim Elternhaus also doch eher um eine Immobilie statt um das Ergebnis kultureller Provenienzforschung, mit der sich unser Sein und Haben erklären lässt? Man denkt unwillkürlich an vererbtes Eigentum, an bürgerliche Wohnsitze, nicht unbedingt in der Dimension der Villa Hügel, aber auch nicht an Bausparer-Siedlungshäuschen in einer Ortsranderweiterung. Der Begriff wird vor allem verwendet, wenn es die Eltern gar nicht mehr gibt und man sich mit ihrem unbeweglichen Nachlass auseinandersetzen muss. Also doch: Immobilie?

Träume und Schäume

Die Kinder aus den geburtenstarken Jahrgängen (1955-69) üben das gerade, falls ihre Eltern ihnen ein eigenes Haus hinterlassen haben: das Räumen, Teilen, Umbauen, Vermieten oder Verkaufen. Als das Haus meiner Großeltern zum Erbfall wurde, blieb mein Vater mit seiner Schwester bis ans Lebensende zerstritten, weil man sich über einen angemessenen Erlös nicht einigen konnte. Das letzte Wohnhaus unserer Eltern hätte einer meiner Brüder gerne umgebaut. Doch unsere inzwischen verwitwete Mutter konnte es nicht ertragen, dass die liebgewordenen vier Wände versetzt werden. Also wurde auf Nimmerwiedersehen verkauft.
Auch wir haben gerade ein Elternhaus erworben. Es hat im Laufe von 170 Jahren unterschiedliche Familien beherbergt. Zuletzt wohnte nur noch ein Vater mit seinen Kindern darin, die Mutter hatte die gemeinsame Wohnstatt aufgegeben und sich scheiden lassen. War es dann noch ein Elternhaus?

Beklemmende Leere: Für wen wurde das Haus gebaut – und für wen passt es noch? (Bild: privat)

Beklemmende Leere: Für wen wurde das Haus gebaut – und für wen passt es noch? (Bild: privat)

Wenn man so ein Haus übernimmt, fragt man sich, was von den Vorbesitzern alles drinnen bleibt, ob es so etwas wie eine Aura gibt, die man mit erwirbt und die vielleicht mit der Zeit abklingt. Was haben die Bauherren damals entschieden, mit ihrem Architekten vereinbart, von Handwerkern ausführen lassen und sich im täglichen Gebrauch angeeignet? Als der Schriftsteller Curzio Malaparte sich auf der Insel Capri Ende der 1930er-Jahre ein Haus bauen ließ, sollte es wie er selbst sein („casa come me“), mit Eigenschaften, die ihn persönlich auszeichneten: hart, eigenartig und schlicht („dura, strana e schietta“). Ob das bei jedem beliebigen Haus zutrifft, dass Eigentümer und Eigentum sich charakterlich miteinander verschränken, will man bei dem anspruchslosen Gebaue ringsum gar nicht wahrhaben. Oder gerade doch?

Die unbeschwerte Wirtschaftswunder-Variante des Einfamilienhauses (Bild: Winkler, s. o. )

Die unbeschwerte Wirtschaftswunder-Variante des Einfamilienhauses. Erlebt das EFH als „Hotel Mama“ ein soziologisches Revival der Großfamilie? (Bild: Winkler, s. o. )

„Hotel Mama“

Elternhäuser werden nicht mehr wie Ritterburgen von Dynastien jahrhundertelang bewirtschaftet. Kinder verschlägt es in die Orte, an denen sie Ausbildung und Arbeit finden. Man lächelt über die Heimkehrer ins „Hotel Mama“, die mit ihrer Freundin wieder in ihr altes Kinderzimmer ziehen, weil sie sich ohne Job nichts anderes leisten können. Eigentlich ist das Thema Elternhaus noch gar nicht richtig erforscht.