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Heinz Bude, Bettina Munk, Karin Wieland: Aufprall. 384 Seiten, Hanser Verlag, München 2020. ISBN 978-3-446-26766-4, 24 Euro

Heinz Bude, Bettina Munk, Karin Wieland: Aufprall. 384 Seiten, Hanser Verlag, München 2020. ISBN 978-3-446-26766-4, 24 Euro

Ein Buch, in dem es um Architektur geht, ohne dass das Wort darin vorkommt. Sie ist sogar völlig abwesend, es wird weder geplant, noch gebaut. Sie bildet nur den Hintergrund, die Gehäuse, die in Gebrauch genommen werden, um ein anderes Leben auszuprobieren. So war das in den 1980er Jahren in Berlin. Eine Leseempfehlung.


1981 schrieb Felix Zwoch – Redakteur der Bauwelt – nach einem Gespräch mit Kreuzberger Hausbesetzern über die »neue Wohnungsnot« und den »Wunsch nach unmittelbarer Verwirklichung neuer Lebensmodelle«. Was er über die Besetzer erfahren hat, ihre Herkunft, die Raumaneignung, Instandsetzung und Frage der Legalisierung durch Verhandlungen mit dem Berliner Senat könnte als knappe Hintergrunderläuterung für das vorliegende Buch gelten. Doch dabei handelt es sich um einen Roman. Oder auch nicht. Denn, so heißt es im Prolog: »Hier ist nichts frei erfunden. […] Die Fiktion ist wahr, und die Fakten stimmen.« Ort und Handlung sind authentisch, nur die Figuren, die (auch nur zum Teil) auf der nächsten Doppelseite vorgestellt werden, sind Homunkuli aus verschiedenen Charakteren. Erzählt wird die Geschichte von drei Autoren, die sich als (weiblicher) »Chor«, als Luise und Thomas die Arbeit teilen. Darauf sollte man achten, sonst verirrt man sich. Es spielt in den 1980er Jahren in Berlin.

Hausbesetzung!

Der Einstieg beginnt unterhaltsam. Eine treffende Standortbestimmung im Nachkriegsdeutschland, von hier geht’s ab nach Westberlin. Die knapp beschriebene Stadtbühne ist unverwechselbar: Dette is Berlin, wie man es vor der Wende kennengelernt hat. Hier besetzt ein wild zusammengewürfelter Haufen von jungen Leuten aus völlig unterschiedlichen Milieus ein Haus. Ahnungslos. Kein Plan, keine Strategie, sie kennen sich nicht einmal. Es verbindet sie nur ein Ziel: Besetzen! Für Muttersöhnchen unvorstellbar, sein Zuhause, seine Existenz, seinen Lebensentwurf in eine völlig marode, feuchte Villa zu verlegen. Im Dreck wohnen, Strom- und Wasserleitungen anzapfen, ständig mit Räumung und Knast rechnen. Oder sich prügeln mit eindringenden Faschos, die keine Linken in ihrem Kiez dulden. Da konnte man nicht einmal die Bullen zu Hilfe rufen.

Die Autrinnen (Bild: https://aufprall.net/a/das-buch)

Die Autorinnen (Bild: https://aufprall.net/a/das-buch)

Die Details sind glaubwürdig ausgebreitet, die drei Berichterstatter haben nichts journalistisch recherchiert, sondern alles selbst erlebt. Die endlosen Debatten im Besetzerrat – ist doch der Eigentümer der Villa ausgerechnet ein Jude –, die gesellschaftskritischen Auseinandersetzungen mit Philosophie (studiert Thomas) und Kunst (Luise), extemporiert in enzyklopädischer Ausführlichkeit. Die postmodernen Sterndeuter sind ebenso präsent wie die Künstler vom Moritzplatz oder der Merve-Verlag. Bald existiert ein Rhizom von Querverbindungen. Das Akademische liegt näher als das Praktische. Man sieht die Leute vor sich, wie sie hilflos oder routiniert ihre Sache vertreten. Die Achtundsechziger gelten ihnen als »Besserwisser«. Sie sind näher bei den Punks als den »freudlose(n) Missionaren der kommunistischen Welterlösung«. Zur RAF besteht eine ungeklärte Sympathie. Immer dabei sind Alkohol, Shit und zahlreiche abortierte Schwangerschaften. Das gehört zur »Bewegung«. Auch Aids. Das mitwirkende Personal ist bisweilen kaum überschaubar, nicht auszuschließen, dass die Autoren selbst mal Namen verwechselt haben. Alles, was man in den achtziger Jahren in der »Frontstadt« erleben konnte, wird namentlich einbezogen. Zwischendurch verschlägt es die Protagonisten sogar nach London, New York und China. Der als Buchtitel verwendete Aufprall stört die Handlung dramatisch. Gemeint ist ein Ausflug nach Prag, um günstig ein Saxophon zu  kaufen.

Abbildung: Verlag

Abbildung: Verlag

Kollisionen

Dabei kollidieren die vier Ausflügler in ihrem alten Mercedes mit einem sowjetischen Raketentransporter, ein Mädchen kommt ums Leben, ein anderes wird mühselig im Krankenhaus wieder hergestellt. Dies ergibt einen unerwarteten Nebenschauplatz, jetzt ahnt man spätestens, dass es sich bei dem Roman in erster Linie um eine autobiographische Nachforschung handelt. Das ist die Crux an der Geschichte. Die Autorinnen und der Autor haben keinen literarischen Abstand, nicht alles, was wirklich stattgefunden hat, lässt sich eben spannend verwerten. (Stellen wir uns vor, jemand wie Juli Zeh hätte sich des Themas angenommen!)

Später wird das besetzte Haus geräumt, man findet eine neue Bleibe, aber streitet über das Grundsätzliche, ob man mit dem »Schweinesystem« verhandeln soll. Und wer deshalb ausziehen muss. Die »subversive Rebellion« wandelt sich, die feministischen Kämpferinnen finden nun Gefallen an Pumps, BHs und Strapsen. Man weiß, wen man im »Exil« und der »Paris Bar« treffen könnte. Sekt oder Selters? Sekt! Die Mauer fällt. Ein Jahrzehnt geht zu Ende.

Es ließe sich eine Parallelgeschichte daneben stellen. Spielt in Berlin zur gleichen Zeit. Junge Familie aus Süddeutschland. Ihre Kinder schicken sie in einen alternativen Kinderladen mit Brikettheizung. Sie kaufen einen riesigen Dachboden und lassen ihn mit KfW-Förderung ausbauen. Die monatliche Belastung ist geringer als die vorherige Miete. Behörden, Planer, Firmen stecken unter einer Decke, es ist eine Geschichte von Betrug und Pfusch am Bau. Ein Subventions-Sumpf, den Michael Sontheimer in einer Reportage für die ZEIT (1986) beschrieben hat. Dette war Berlin.