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Erinnerungskultur (I): Die Wellen schlagen in allen Bereichen, in denen sprachliche Bezeichnungen politisch, weltanschaulich, ethisch angreifbar sind, hoch. Straßen- und Platznamen, Denkmäler und Hinterlassenschaften: Alles scheint auf den Prüfstein gestellt zu werden, »Denominationen« treiben Städte und Kommunen um. Was ist zu tun? Umbenennungen beseitigen Spuren der Geschichte; sie lassen im öffentlichen Raum verschwinden, was in Erinnerung gehalten werden sollte. Damit sind sie Teil der Deutungshoheit in der Geschichtsschreibung.

Namen sind Schall und Rauch? Nach wem eine Straße benannt ist, spielt durchaus eine Rolle. (Bild: rbb)

Was haben Martin Luther, Karl Friedrich Schinkel, Richard Wagner und Martin Niemöller gemeinsam? Zunächst einmal sind sie allesamt tote weiße deutsche, am Ende ihres Lebens auch alte Männer gewesen. Nach ihnen sind in Berlin Straßen benannt. Aber vor allem: Sie finden sich auf einer Liste von insgesamt 290 Denominationen, die im Auftrag des Berliner Antisemitismusbeauftragten Samuel Salzborn von Felix Sassmannshausen unter dem Titel »Straßen- und Platznamen mit antisemitischen Bezügen in Berlin« im Oktober 2021 zusammengestellt wurde.(1)

In den vielen »Afrikavierteln« der Bundesrepublik sind Straßen nach Persönlichkeiten benannt, die als Arfrikaforscher gelten sollten, aber Rassisten und Völkermörder waren. Carl Peters (1856-1918) wurde schon von seinen Zeitgenossen »Hänge-Peters« genannt. In diesem Schild tritt eine besonders zynische und verlogene Umdeutung in Erscheinung: Man suchte einfach nache inem Karl Peters, der einen besseren Ruf hat. (Bild: Ursula Baus)

In den vielen »Afrikavierteln« der Bundesrepublik sind Straßen nach Persönlichkeiten benannt, die als Arfrikaforscher gelten sollten, aber Rassisten und Völkermörder waren. Carl Peters (1856-1918) wurde schon von seinen Zeitgenossen »Hänge-Peters« genannt. In diesem Schild tritt eine zynische und verlogene Umdeutung in Erscheinung: Man suchte einfach nach einem Karl Peters, der einen besseren Ruf hat. (Bild: Ursula Baus)

Name, Kontext, Wissen

Das Dossier unterscheidet hierbei drei Formen empfohlener Intervention: Umbenennung, Kontextualisierung, Forschung. Das erinnert an andere dreistufige Kategorisierungen der Zeitgeschichte, etwa: Hauptschuldige, Belastete, Mitläufer in den Spruchkammerverfahren der Entnazifizierung ab 1946. Der Intendant der Berliner Komischen Oper, Barrie Kosky, bemerkte durchaus zutreffend, dass es in Deutschland eine bedenkliche Vorliebe für das akribische Zusammenstellens von Säuberungslisten gäbe.(2)
Es soll hier nicht in Frage gestellt werden, dass es durchaus interessant sein könnte, etwa folgender Behauptung nachzugehen: »Olof Palme. Soll Antizionismus zum Leitmotiv schwedischer Nahostpolitik gemacht haben.« (3), obwohl die Formulierung für den Anfangsverdacht einer so ehrabschneidenden Einordnung doch etwas schwach begründet erscheint.
Was den Verfasser dieses Beitrags aber vor allem umtreibt, ist der Zweck, dem die Liste dienen soll, nämlich: Straßenumbenennungen in großem Stil vorzubereiten. Niemand bezweifelt den Antisemitismus Wagners, aber ist die logische Konsequenz dieses historischen Befundes, dass auch an den von ihm erdachten Schwanenritter Lohengrin kein Straßenschild in Marzahn-Hellersdorf mehr erinnern darf (ebd. S. 75)?

Tücken des Erinnerns

Das hier benannte Beispiel ist Symptom einer Krankheit, die sich zunehmender Ausbreitung erfreut: einer systematischen Amnesie der Wohlmeinenden. Diese heißen auf Griechisch übersetzt Eumeniden und sind eine freundliche Umschreibung für jene Rachegöttinnen, zu denen Wikipedia erklärt: »Sie stellen die personifizierten Gewissensbisse dar.« Hierbei stehen Wollen und Tun in einem merkwürdig dialektischen Verhältnis zueinander: Die Einrichtung des offiziell »Ansprechpartner« benannten Amtes von Samuel Salzborn wurden im konstituierenden Beschluss des Berliner Abgeordnetenhauses vom 31. Mai 2018 unter anderem wie folgt begründet: »Berlin bekennt sich zu seiner historischen Verantwortung aus dem Holocaust und einer demokratischen Erinnerungskultur.« (4) Aha. Inwiefern dient das Auslöschen von Erinnerung aus dem Straßenbild, also gerade jener, die strittig, streitwürdig, schmerzhaft, unbequem ist, diesem Zweck? War es nicht jahrzehntelang das stolze Credo des bundesdeutschen Selbstbewusstseins, die Narben der Vergangenheit, den Stachel im Fleisch eben NICHT loswerden zu wollen? Ist es nicht genau jener Vorwurf, den man den Rechten im Lande seit Jahrzehnten macht, und der sich in Redewendungen wie »Irgendwann muss ja mal Schluss sein!« oder »Man wusste ja von nichts!« manifestierte?

Natürlich halten die Befürworter solcher Reinigungsaktionen das für böswillige Verdrehungen ihrer ohne Zweifel edlen Absichten. Aber das schützt sie nicht vor der Frage, ob der gewählte Weg denn ihren Zwecken wirklich dient, und selbst dann, ob der Zweck die Mittel heiligt? Es entsteht vielmehr der Eindruck, das Wichtigste sei nun, die »Vogelschisse« der deutschen Geschichte endlich rückstandsfrei vom Revers zu entfernen, um »nicht nur sauber, sondern rein« zu werden, wie einst Clementine ein von ihr beworbenes Waschmittel Ariel anpries. Nicht ohne Grund wurden die entlastenden Bescheinigungen der Spruchkammerverfahren im Volksmund als »Persilscheine« bezeichnet, was darauf hinwies, dass die Weste eben erst nach intensiven Bemühungen wieder scheinbar weiß geworden war.

Dieser Wunsch nach ideologischem Hausputz ist natürlich nachvollziehbar. Matthias Jung bemerkte in Psychologie heute unter der gleichlautenden Überschrift: »Der Begriff der ‘Reinheit‘ mitsamt dem zugehörigen Wortfeld zählt zu den wichtigsten Hochwertwörtern unserer Sprache, ruft Vorstellungen eines gelingenden, auch moralisch richtigen Lebens auf den Plan.« (5)

 

Luther-Denkmal in Eisleben (Bild: Wilfried Dechau)

Luther-Denkmal in Eisleben (Bild: Wilfried Dechau)

Vom »richtigen« Leben

Der Preis dieser Sehnsucht nach reinem Tisch ist das Auslöschen historischer Fakten. Die historische Wahrheit besteht nämlich nicht nur darin, dass Martin Luther antijudaistische Schmähschriften verfasste (deren Stoßrichtung, nicht deren Bosheit sich vom modernen Antisemitismus markant unterschied), sondern dass man nicht nur in Berlin, sondern allüberall in Deutschland Straßen und Kirchen nach ihm benannt, Denkmäler gesetzt und den 500. seines Thesenanschlags noch 2017 bundesweit feierlich begangen hat. Wollte man mit diesen Ehrungen etwa den Judenfeind hochleben lassen? Sicher nicht, sondern im Gegenteil: Man wollte diese seine Seite nicht sehen, nicht wahrhaben, marginalisieren. Man ehrte den Verfasser der Bibelübersetzung aus dem Hebräischen, nicht den Autor »Vom Schem Hamforas« (6). Vermutlich mit einer kurzen Ausnahme: Von 1933–1945 wurde letztgenannter Aspekt seines Denkens auf einmal besonders hochgeschätzt. Es waren dieselben Jahre, in denen Kirchen, die dummerweise »Zionsgemeinde« hießen, eine Umbenennung freundlich nahegelegt wurde, der Dichter der Loreley aus den Lesebüchern verschwand und in Leipzig die Mendelssohn-Statue beseitigt wurde.

Wiesbaden, Bismarckring (Bild: Meinrad von Engelberg)

Wiesbaden, Bismarckring; darf er bleiben? (Bild: Meinrad von Engelberg)

Somit begeben sich die Freunde der Denkmälerentfernungen, der Straßen- und Institutionenumbenennungen in eine Nachbarschaft, die keinesfalls intendiert ist. Die gute Absicht schützt eben nicht vor falschen Maßnahmen. Wie soll man angemessen über die Erinnerung diskutieren, wenn man sie zuvor so manipuliert hat, dass sie eben nicht mehr streitbar ist und wehtut? War es wirklich erforderlich, den monumentalen Lenin vom damals gleichnamigen, heutigen „Platz der Vereinten Nationen“ in Berlin zu demontieren und im Wortsinn im märkischen Sand zu beerdigen, um den Systemwechsel in Ostdeutschland 1990 unumkehrbar zu machen? Erkläre ich mein Einverständnis mit dem preußischen Militarismus, wenn ich dafür plädiere, Rauchs Friedrichsdenkmal da zu lassen, wo es ist, also Unter den Linden? Sollte man wirklich einen europäischen Preis weiterhin nach dem berüchtigten Machtpolitiker und Sachsenschlächter Karl dem Großen benennen? Muss ich, wenn ich über die Kolonialpolitik Bismarcks diskutieren will (was sich bei seiner dialektischen Haltung zu dieser Frage durchaus lohnt), seine Marmorstatue zunächst mit einem roten Farbbeutel bewerfen, und stärkt das meine Argumente?

Wenn man konsequenterweise die Niederlegung der wahrhaft monumentalen Hamburger Statue des Eisernen Kanzlers fordert, ist es doch nur noch ein Schritt zum Vorschlag, dann auch am besten gleich das NS-Parteitagsgelände in Nürnberg oder das Olympiastadion in Berlin zu schleifen. Überzogen? Die Entfernung der ästhetisch und intentional untrennbar verbundenen Rosseführerstatuen Josef Wackerles ist ja als Akt politischer Hygiene bereits aus berufenem Mund gefordert worden. (7)

Aus den Augen, aus dem Sinn

Spätestens hier müssen Historiker, Architekten und Denkmalpflegerinnen Einspruch erheben. Die beliebten Argumente, man sei schon immer im Geheimen dagegen gewesen, habe aber leider nichts tun können, sind in einer freiheitlichen Mediendemokratie des 21. Jahrhunderts noch unzulässiger als sonst. Was heute von immer zahlreicheren Aktivistinnen mit dem Pathos gerechter Empörung gefordert und zum Teil mit Hauruck praktiziert wird, ist ein Reinigungsritual, das auf Geschichtsklitterung hinausläuft. Es streichelt das Gewissen der jetzt Lebenden, doch alles für die Tilgung der Schmach, für die Sühne der Verbrechen von gestern getan zu haben, Umkehr und Buße eben. Dieser selbstentlastenden Überzeugung hingen alle Puritaner, Sansculotten und Bilderstürmer früherer Jahrhunderte an. Sie zerstörten die Schnitzaltäre, weil sie den Heiligenkult loswerden wollten. Sie verhökerten das Erbe säkularisierter Klöster, »die gottseidank endgültig der Vergangenheit angehören«. Vor diesem Hintergrund gewinnen die Begriffe »Unbelehrbare«, »Ewiggestrige« und »Vergangenheitsbewältigung« eine ganz neue, aktuelle Bedeutung. Da hilft es nichts, dass die BefürworterInnen dieser Löschaktionen im öffentlichen Gedächtnis sich selbst als die einzig Fortschrittlichen, »Woken« und Aufgeklärten ansehen.

U-Bahn-Station in Berlin – zwischen »Stadtmitte« und »Potsdamer Platz« (Bild: Wikimedia commons)

U-Bahn-Station in Berlin – zwischen »Stadtmitte« und »Potsdamer Platz« (Bild: Wikimedia commons)

Das Entsorgen des Unbequemen nimmt späteren Generationen die Möglichkeit, sich mit authentischen Geschichtszeugnissen – und zu denen zählen sowohl Straßennamen als auch Denkmäler im öffentlichen Raum – selbst und vielleicht anders auseinanderzusetzen, als wir das gerade für möglich und geboten halten. Natürlich »musste die Mauer weg« – aber war es wirklich erforderlich und vorausschauend, sie so rückstandsfrei zu enttrümmern, dass sie wenige Jahre später künstlich wieder herbeiinszeniert werden muss, um ihren Verlauf wieder erfahrbar zu machen? Was würde derselbe Antisemitismusbeauftragte sagen, wenn in ähnlich wohlmeinendem Furor die Relikte an der natürlich längst umbenannten Prinz-Albrecht-Straße, die sogenannte Topographie des Terrors, vom sprichwörtlichen Gras überwachsen würde? Wer entscheidet, welche Spuren der Vergangenheit als Mahnung, Warnung und Erinnerung unbedingt bewahrt, welche aus ähnlich hochherzigen Gründen unbedingt beseitigt werden müssen?

Nein, wir brauchen mehr denn je eine Debattenkultur, die auch weitere Felder wie die koloniale Vergangenheit einschließen sollte. Natürlich darf und soll über den potentiellen Antisemitismus zum Beispiel Konrad Adenauers geforscht und gestritten werden. Es steht einer Gesellschaft selbstverständlich frei, den Gebrauch des N-Wortes für die eigene Gegenwart zu unterbinden; aber dass man dann gleich auch das heute völlig ungebräuchliche, einstmals aber wertfrei-objektivierende M-Wort »Mohr« aus allen historischen Kontexten tilgen muss, stellt eine Präpotenz der eigenen Zeit dar, die sich zensierend über alle vorherigen erhebt, und es immer besser weiß. Gerade das Einebnen von historischen Bedeutungsverschiebungen – das Wort Weib wäre heute als Anrede eine Beleidigung, war zu Luthers Zeiten aber der legitime Ehrentitel einer Ehefrau – durch das nachträgliche Umschreiben älterer Text ist deutlich näher an Orwell, als es den Befürwortern lieb sein kann und vermutlich auch bewusst ist.

In meiner Heimatstadt gibt es eine seit Jahrzehnten unter einem entsprechenden grafischen Signet firmierende »Mohren-Apotheke«. Vermutlich wird bald jemand empört die Forderung nach ihrer sofortigen Umbenennung stellen. Die Kosten dafür muss dann eben der unbelehrbare Inhaber tragen. Er ist übrigens gebürtiger Afrikaner.

Mohrenapotheke Wiesbaden, facebook-Präsenz (Bild: Mohren Apotheke

»Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan?« Mohren Apotheke Wiesbaden, facebook-Präsenz (Bild: Mohren Apotheke)