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Minimal Art: Welcher Reichtum in der Reduktion liegt, gehört seit Ludwig Mies van der Rohe zur Grunderfahrung in der Architektur. Die Postmoderne hingegen bemühte sich, diese Behauptung durch Robert Venturis Unterstellung lustvoll zu zertrümmern, dass weniger vor allem langweilig sei. Ja wer hat denn nun recht? Ist Minimal nun mehr oder weniger?

Robert Morris, Filzarbeit (Bild: Bucerius Kunstforum, Tietz)

Hrsg. von Kathrin Baumstark und Andreas Hoffmann. 29,90 Euro

Hrsg. von Kathrin Baumstark und Andreas Hoffmann.
29,90 Euro

Hamburg im März 2022. Eine Gruppe mit kleinen Kindern strömt in das Bucerius Kunst Forum am Alten Wall, das gmp-Architekten kürzlich hinter alten Fassadenfragmenten eingefügte haben. So lärmend wie lustvoll übernehmen die Kinder das Kommando. Nicht nur akustisch, auch optisch bildet diese nächste Generation einen Kontrast zur sehr reduzierten Schau in den Ausstellungsräumen mit seinen ausgewählten minimalistischen Meisterwerken. Mit freundlichem Mahnen und Bitten lassen sich die Kinder schließlich zur Ruhe bringen. Im Halbkreis sitzen sie im (violetten?) Licht um Dan Flavins »Untiteld (to Barnett Newman)« und schauen auf die Skulptur aus Neonröhren. Ja, was sehen sie denn eigentlich da, werden sie gefragt? Welche Farbe, welche Formen sind zu erkennen? Und auf einmal wird klar: Nichts ist hier violett. Zumindest auf den ersten Blick. Hier sind – Barnett Newman winkt aus der Berliner Neuen Nationalgalerie als großer Abwesender der Ausstellung huldvoll hinüber – nur rot, gelb und blau beieinander. Und alles Weitere im Raum ergibt sich aus diesen Farben und unserer Wahrnehmung!
Staunen und Schauen verebben zwar schnell wieder im Lärm, wenn die Kinder zum nächsten Kunstwerk weiterziehen. Aber die Kernbotschaft, so hoffe ich innständig, ist bei ihnen doch angekommen: Wie sehr es sich lohnt, genau hinzusehen. Zwischen Ursache und Wirkung, zwischen Objekt und Raumwirkung zu unterscheiden und sich zugleich von ihnen faszinieren zu lassen. Eine Selbstverständlichkeit? Ich fürchte nein. Weder in der Minimal Art noch in der Architektur, die mit ihrer Reduzierung von Formen und ihrer Wirkung im Raum ja eng beieinander wohnen.
Gerade im ersten Teil begeistert die Ausstellung. Und das nicht nur aufgrund ihrer Objekte; Sol LeWitts weißer Cube-Cube (1965), Robert Moriss‘ Filzarbeit – Untitled – von 1974, der vorerwähnte Dan Flavin sowie zwei Arbeiten von Donald Judd (erneut Untitled, 1991) und vor allem (ja, ja, wieder Untitled (Stack 9, 1968/69).

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Donald Judd: „Untitled (Stack)“, 1968-1969. ©Judd Foundation / VG Bild-Kunst, Bonn 2021; Bucerius Kunstforum, Tietz

Begeistern können die Arbeit auch, weil Kuratorin Kathrin Baumstark ihnen zum einen den Raum gibt, den sie benötigen, um ihr Wirkung zu entfalten, und ihnen zum anderen das Licht bietet, mit dem sie in den Raum hineinwirken können. Großartig! Wie die leichten Flügel eines Engels wirken auf einmal die Schatten von Moris schwerer Filzarbeit. Sol LeWitts Quadratkonstruktion umschließt ein konkretes Volumen, fasziniert mit Überschneidungen beim Umschreiten und schreibt sich darüber hinaus in seinem Schattenwurf in den umgebenden Raum fort. Tja, und dann erst Donald Judds übereinaderhängende Metallkästen mit orangefarbenem Plexiglas. Hat man gesehen. Mag man. Oder mag man nicht. Aber hier in Hamburg geschieht auf einmal ein kleines Wunder. Da stehe ich angesichts des diaphanen Schattenwurfs der perfekt ausgeleuchteten Skulptur auf einmal einem »Angelus Novus« gegenüber. Vielleicht ist es die Erschütterung des russischen Terrorkrieges gegen die Ukraine, die in diesem Moment in mir durchbricht. Doch ich glaube fest, es ist mehr. Dort zeigt sich die Fähigkeit eines reichen Minimalismus, im Weniger ein Mehr zu erzeugen, das in den Raum wirkt – und im Glücksfall bis in die Seele der Betrachter. Dafür aber braucht die Kunst ebenso wie die Architektur, den notwendigen Raum, um sich entfalten zu können, sowie Rezipienten, die sich jenseits jedes kunsthistorischen oder architekturgeschichtlichen Vorwissens, einfach darauf einlassen.
Zwar geht die Ausstellung mit Werken von Charlotte Posenenske, Gerold Miller und Frank Gerritz anschließend weiter. Aber die atemberaubende Kraft des Auftakts besitzen deren Arbeiten nicht. Ja, sie scheinen im Vergleich zu erschlaffen. Auf die Ursache dafür kann vielleicht Jeppe Heins abschließende Arbeit »Changing Neon Sculpture« von 2006 verweisen, dessen Kubusgerüst aus Neonröhren unmittelbar auf Sol LeWitts Skulptur antwortet. Doch während dessen vierzig Jahre älterer Cube-Cube aus sich selbst heraus und durch seine Ausleuchtung mit dem Raum interagiert, spielen Heins angesteuerte Neonröhren mit dem Wechsel von Hell und Dunkel. So formen sie Raumkompartimente, in denen die Kabel baumeln. Wo bei Sol LeWitt ein apodiktisch anmutendes Vertrauen herrschte, dass die Betrachter die Kraft der Raumbildung seiner Skulptur beim Umschreiten selbst erfahren, werden sie bei Hein darauf gestoßen. Guck doch mal. Hier ist so. Und dort ist anders, je nachdem, welche Neonröhrenkombi gerade leuchtet. Kann man machen. Aber im Vergleich von Vorbild und Abbild gilt für mich: Weniger ist mehr und Mehr ist mehr langweilig.


Minimal Art | 12. Februar bis 24. April 2022
Bucerius Kunstforum, Hamburg