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Architektonisch war das letzte Jahrzehnt der Mauerstadt wahrlich bewegend. In der Berlinischen Galerie fragt jetzt die Ausstellung „Anything goes?“, was man in West und Ost unter „Revision der Moderne“ verstand. Wie ein Geschenk dazu hätte die Unterschutzstellung des Ostberliner Gendarmenmarkts gepasst – wenn die Ausstellung wie geplant Ende Januar hätte öffnen können. Nun dürfen wir froh sein, wenn die Pandemie irgendwann überhaupt noch ein paar Blicke auf die seit Wochen parat liegenden Überraschungen erlaubt. Immerhin: Es gibt bereits eine Audiowalk-App!

Seit Februar 21 unter Denkmalschutz: Wohngebäude mit Einzelhandel und Gaststätten, 1985-87 von Manfred Prasser und Matthias Borner (© Landesdenkmalamt, Anne Herdin)

Es hätte eine phantastische Punktlandung werden können! In der ersten Februarwoche hat das Landesdenkmalamt Berlin erneut Bauten der 1980er Jahre unter Schutz gestellt. Für denkmalwert befunden wurde nicht nur der 1976 begonnene Wiederaufbau von Schinkels Schauspielhaus (1819-21, heute Konzerthaus) und der beiden Carl-von-Gontard-Dome (1780-85) auf dem Gendarmenmarkt, sondern ausdrücklich auch jene eklektisch dekorierten Neubauten an den Rändern des Platzes, die für die zentralen Prachtstücke einen angemessenen Rahmen darstellen sollten. „Der Platz und seine bauliche Einfassung bildeten das umfangreichste Bauprogramm zur Wiedergewinnung und Neuinterpretation eines historisch bedeutsamen Platzes in der Hauptstadt der DDR“, heißt es in der Denkmalsbegründung.(1) Kenner der Materie dürften erfreut zur Kenntnis nehmen, dass damit „geschichtliche, künstlerische sowie städtebauliche Bedeutung“ einem bis heute umstrittenen Leitbildwandel zuerkannt wurde: Was die Entwurfskollektive der „Baudirektion Berlin“ hier unter aufwändigster Camouflage zustande brachten, war ihr Abgesang auf die „Platte“. Als bekennende Historisten hatten sie Baukunst gesucht, aber Bekleidungskunst gefunden. Manche sprechen von Postmoderne à la DDR, andere vom Offenbarungseid industrieller Baukultur.

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Spätmoderne Alternative: Wohn- und Geschäftshaus Friedrichstraße 56, Modell: Peter Meyer, realisiert 1987 (© Berlinische Galerie, Digitalisierung: Anja E. Witte)

Friedrichstadtpalast, kurz nach seiner Eröffnung im Jahr 1984. Architekten: Manfred Prasser, Dieter Bankert, Walter Schwarz. (Foto: © Unbekannte*r Fotograf*in / Berlinische Galerie, Digitalisierung: Anja Elisabeth Witte)

Steht bereits unter Schutz: Friedrichstadtpalast, kurz nach Eröffnung 1984. Architekten: Manfred Prasser, Dieter Bankert, Walter Schwarz. (Foto: © Unbekannte FotografIn / Berlinische Galerie, Digitalisierung: Anja Elisabeth Witte)

Ost-West-Labor der Postmoderne

Diese bisher kaum wahrgenommene Zäsur in der jüngeren Baugeschichte gehört auch zur Kernerzählung der aktuellen Ausstellung der Berlinischen Galerie. „Anything Goes?“ lautet ihr Titel, und sie tritt an, Architektur und Planungskonzepte im geteilten Berlin als Parallelgeschichte auszubreiten. Nach „Radikal Modern“, der Vorgängerschau über die Sechziger Jahre, (2) sind nun späte Siebziger und namentlich die Achtziger dran. Wer mit dieser Dekade bisher allenfalls die Internationale Bauausstellung (IBA) im Westteil Berlins verband, der sei auf Überraschungen gefasst: „Das Berlin der 1980er Jahre ist eine der Hauptstädte der Revision der Moderne“, wird begeistert im Katalog (3) verkündet, denn die architektonischen Experimente jenes Jahrzehnts, gebündelt in der illustren IBA im Westen wie im Montagebau-Historismus der City-Ost, machten die Doppelstadt zu „einem der weltweit meistbeachteten Labore“ einer noch ganz frisch auftrumpfenden Modernekritik. Den Gang der damaligen Diskurse ein Stück weit sichtbar, lesbar, nachvollziehbar gemacht zu haben, gelingt der Ausstellung mit Bravour.

Peter Riemann: Konzept Südliche Friedrichstadt, Cornell Sommerakademie für Berlin, 1977 (© Peter Riemann)

Peter Riemann: Konzept Südliche Friedrichstadt, Cornell Sommerakademie für Berlin, 1977 (© Peter Riemann)

Das seit Jahrzehnten akribisch gepflegte Sammlungsarchiv der Berlinischen Galerie bietet hierfür reiche Materialgrundlage. Hinzu kommt die relative Nähe des betrachteten Jahrzehnts: Zeitzeugen stehen für Interviews noch zur Verfügung, etliche von ihnen trennten sich von privaten Erinnerungsstücken und bereicherten die Schau mit wirklichen Überraschungen. Putzig kolorierte Stehgreifentwürfe, ironische Collagen oder verträumt ausgefriemelte Veduten machen den großen kollektiven Such- und Nachdenkprozess transparent – den enormen Theorie-Einfluss der „Italiener“ (Rossi und die Venezianische Schule), die von Ungers hinzugerufene anglophone Konkurrenz (Stirling, Smithons, die New York Five), die von den Krier-Brüdern gefeierte Romantik der alten Stadt.

Rob Krier: Wohnanlage Ritterstraße Nord, 1977 (© Rob Krier-Archiv, Deutsches Architekturmuseum, Frankfurt am Main)

Rob Krier: Wohnanlage Ritterstraße Nord, 1977 (© Rob Krier-Archiv, Deutsches Architekturmuseum, Frankfurt am Main)

Am Ende setzte sich Josef Paul Kleihues als IBA-Direktor durch. Dessen forcierte Suche nach einem „neuen Stil“ ging aber zu weiten Teilen an den Realitäten im subventionsabhängigen „Delirious Berlin“ (Koohlhaas) vorbei und erzwang geradezu jene andere IBA-Fraktion, die alte Stadtquartiere durch Initiativen der Bewohner selbst heilen wollte: Dank „Gustav“ Hämers „Kreuzberger Mischung“ wurde der italo-amerikanische Akademismus mit einem gerüttelt Maß Alltagspragmatismus konfrontiert, oder genauer: mit der Anerkennung des Sozialen. Die Moderne verdiente Kritik ja nicht nur wegen ihrer rigorosen Form.

Rehabilitierung der alten Stadt: An dieser zentralen Frage aller postmodernen Debatten trafen sich die Tendenzen der 1980er Jahre in West wie Ost. Allerdings nur bei dieser Frage! Waren Formfragen in der DDR lange darauf gerichtet, „die klare, einfache und einheitliche Tektonik der industriellen Bauweise“(4) vorteilhaft in Szene zu setzen, hatte sich ab den Siebzigern das Konzept industrieller Bauproduktion im seelenlosen Regiment der Plattenwerke festgefahren. Als Massenerscheinung waren die sperrigen „Erzeugnisse“ der Baukombinate unerträglich geworden, nach Alexanderplatz, Rathausstraße und Leipziger Straße schien selbst in der DDR-Hauptstadt das Gestaltungsrepertoire der Ostmoderne (5) ausgereizt. Zuerst von Soziologen und Kulturforschern, bald auch aus der Politik wurde nach Individualisierung der „gesichtslosen“ Serienprodukte gerufen. Und noch ein Problem wurde drängend: Was bei Standorten auf freiem Felde niemals Thema war, bekam für innerstädtische Architekturen auf einmal enorme Relevanz – der Kontext. Auch hier gab es zunächst konkurrierende Konzepte. Für die Repräsentationsvorhaben entlang Friedrichstraße und Gendarmenmarkt scheiterte die Denkmalpflege mit ihrem Wunsch nach originalgetreuen Nachbauten, dafür setzte sich die „Romantiker“-Fraktion um Manfred Prasser und Dieter Bankert durch, mit ihrem „irgendwie-historischen“ Design eröffnete sie den Weg in die Stadt als pittoreske Erlebniszone.

Die Berlinische Galerie ist noch geschlossen. Bilder vom Ausstellungsraum folgen. (© Noshe)

Die Berlinische Galerie ist noch geschlossen. Bilder vom Ausstellungsraum folgen. (© Noshe)

Sternstunde der Baukultur

Die Ausstellung ist gut gebaut, ihre Erzählung einleuchtend. Ein Resümee im Ost-West-Vergleich muss der Besucher am Ende selber ziehen. Nach dem einleitenden Theorien-Kapitel, dessen quirlige Skizzenblätter wohl die schönsten Entdeckungen bieten, stehen im Nachbarsaal dem gravitätischen Retrokult der City-Ost die Reformversuche einer letzten Generation „Spätmodernisten“ in Marzahn (6) gegenüber, alles anschaulich vorgeführt dank faszinierender Modelle. Auch im letzten großen Saal stehen Modelle im Mittelpunkt. Wie zu einer Miss-Wahl sind sie da angetreten, die kunterbunten Stadtvillen und anderen Wohnexperimente, die rückblickend zum Markenzeichen der IBA wurden, obwohl in ihrer Langzeitwirkung weit übertroffen von den Kreuzberger Rivalen. Nur dass die vorrangig sozialen Errungenschaften der Behutsamen Stadterneuerung sich nicht so plakativ in Museumsexponaten zelebrieren lassen; Fotos und eine Filmprojektion halten deshalb die Erinnerung an Phantasie und Pathos der Häuserkämpfe wach, ohne die ein Bild der letzten Westberliner Mauerjahre nicht vollständig wäre.

Office for Metropolitan Architecture (OMA), Elia Zenghelis, Zoe Zenghelis: Wohnhaus am Checkpoint Charlie, 1987 (© Office for Metropolitan Architecture (OMA) / Elia Zenghelis / Matthias Sauerbruch)

Office for Metropolitan Architecture (OMA), Elia Zenghelis, Zoe Zenghelis: Wohnhaus am Checkpoint Charlie, 1987 (© Office for Metropolitan Architecture (OMA) / Elia Zenghelis / Matthias Sauerbruch)

Wieder mal die Postmoderne? An kultur- wie architekturtheoretischen Verhandlungen hat es der seit ihrem Aufkommen ja nicht gemangelt. Beinahe fünfzig Jahre sind ihre wegweisenden Schriften alt, da dürfen ihre schillernden Kreationen einer klar umrissenen Periode zugeordnet werden. Die Bauten werden nicht mehr umkämpft oder bis in letzte Deutungsabsichten aufgedröselt, sondern schlicht bestaunt als Schaustücke eines im Grunde unterhaltsamen Stils. „Eine von vielen Strömungen in der Kunst- und Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts“, wie Wikipedia abwiegelt. Solche Schaustücke von Fall zu Fall in den Kanon respektabler Kulturzeugen aufzunehmen, ist nun Aufgabe, ja Pflicht verantwortlicher Denkmalpflege. Wenn ambitionierte Museen dazu auch noch Hintergründe erhellen und die dann allgemeinverständlich interpretieren, sollte das eine Sternstunde gelungener Baukultur genannt werden.


„Anything goes | Berliner Architekturen der 1980er Jahre“: Die Ausstellung wird bis zum 16. August 2021 in der Berlinischen Galerie gezeigt. Ab 15. März ist die Ausstellung nach einer online-Anmeldung anzuschauen, Informationen dazu finden Sie > hier.
Audiowalks: Ein empfehlenswerter Ausgleich für die pandemiebedingt schwierige Innenraum-Nutzung ist eine App, die zur Ausstellung entwickelt wurde und 3 Routen zu den relevanten Bauten als 30-minütige Audiowalks präsentiert. Info und Download > hier.
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2) „Radikal modern – Planen und Bauen im Berlin der 1960er Jahre“, Katalog hrsg. von der Berlinischen Galerie im Ernst Wasmuth Verlag Berlin/Tübingen, 2015

3) „Anything goes? Berliner Architekturen der 1980er Jahre“, Katalog hrsg. von der Berlinischen Galerie im Kerber Verlag Bielefeld, 2021

4) So die dringende Empfehlung des Schweizer Architekten und CIAM-Mitbegründers Hans Schmidt, der von 1956 bis 1969 die Abteilung Theorie und Geschichte der Bauakademie in Ostberlin leitete.

5) Vgl. Andreas Butter, Ulrich Hartung: Ostmoderne. Architektur in Berlin 1945-1965, Berlin 2004.

6) Wer den beeindruckenden DEFA-Film „Die Architekten“ gesehen hat, wird hier die realen Bau-Vorlagen für dessen deprimierende Story finden.