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Nichts Neues in der Architekturgeschichte: Mit Verve geißelt eine Generation die Ideen und Taten ihrer Vorgänger und schießt dabei allzu oft mit Furor übers Ziel hinaus. Der schillernde Begriff „Brutalismus“ gehört beispielsweise zum Instrumentarium, mit dem die Nachkriegsarchitektur von den jungen Gralshütern der vermeintlich schönen Baukunst der Alten zum Feindbild schlechthin stilisiert wird. Die Kulturwissenschaften fangen an, ihnen das Handwerk zu legen.

22. Januar – 13. April 2009, Liselotte Strelow (1908-1981) – Retrospektive, Eine Ausstellung in Kooperation mit dem LVR-LandesMuseum Bonn und der Gesellschaft Photo Archiv e.V. Bonn

Das Historische Museum der Stadt Frankfurt am Main, 1972. (Bild: Gesellschaft Photo Archiv e.V. Bonn)

„Der jetzige Bau ist, ganz höflich ausgedrückt, unangemessen und ein Zeichen von Brutalismus“ – so adelte Frankfurts Kulturdezernent Felix Semmelroth 2007 das Historische Museum in Frankfurt von 1972, ohne es zu wissen. Und ohne wissen zu wollen, worum es beim Brutalismus überhaupt ging. Die Inkubationszeit, bis Häuser als bauhistorisch kanonisiert gelten, wird immer kürzer. Inzwischen wissen Architekten deswegen recht gut, dass sie am besten wegkommen, wenn sie zu ihrer Architektur gleich eine Art „Labelisierung“ mitliefern.

Es schießen dann Ismen ins Kraut, über die wir im eMagazin immer mal wieder berichten. Ein frühes Beispiel dafür, wie ein so entstandener „Ismus“ eine ganze Epoche kennzeichnen sollte, ist der Brutalismus. Ihm widmeten sich das KIT und die Wüstenrot Stiftung vergangene Woche in einem international besetzten, zweitägigen Symposium, das mehr Fragen aufwarf als beantwortete. Das muss nicht schlecht sein – denn so kann durchaus Bewegung in erstarrte, reflexartige Argumentationen gebracht werden.

Werner Oechslin und Stanislaus von Moos (Bild: Ursula Baus)

Werner Oechslin und Stanislaus von Moos (Bild: Ursula Baus)

Was ist Brutalismus?
Gleich zu Anfang des Symposiums setzten die Kunst- und Architekturhistoriker Werner Oechslin, Stanislaus von Moos und Kenneth Frampton methodische Akzente: Das Verhältnis zwischen Geschichte und Gegenwart und Geschichtsschreibung, zwischen Kunst und Architektur verändere sich nun mal, und zunächst müsse es für den Brutalismus darum gehen, einfach mal etwas Ordnung in seine Geschichte zu bringen (Oechslin).

Gemeinhin wird der „Brutalismus“ auf Peter und Alison Smithson und Reyner Banham zurückgeführt, der 1955 mit einem Aufsatz in der Architectural Review den Begriff lancierte und in seinem 1966 erschienenen Buch „New Brutalism“ einen fulminanten publizistischen Erfolg hatte – obwohl er in eben diesem Buch den britischen Brutalismus bereits beendet sah. Noch im gleichen Jahr erschien die von Jürgen Joedicke herausgegebene deutsche Übersetzung bei Karl Krämer in Stuttgart – zur Publikationsgeschichte siehe die Literaturhinweise unten. Die Smithsons hatten sich in den 1950er-Jahren, zunächst im Team X, gegen CIAM, gegen die formale Erstarrung der Vorkriegsmoderne gewandt und waren der Ansicht, dass das Bauen wieder künstlerisch, unmittelbar, echt im Umgang mit Material und Konstruktion sein solle. Es kursierten Mythen, wie der Begriff Brutalismus überhaupt in Umlauf kam: Was war mit Hans Asplund, den die Engländer besucht hatten und der schon vorher vom Brutalismus sprach? Wie ist die Episode zur Mischung von Peter Smithsons Spitzname „Brutus“ und dem Vornamen „Alison“ zu deuten? Welche Rolle spielt das französische Wort „brut“, das wir hierzulande eher als Kennzeichen von Getränken denn als Charakterisierung von Beton kennen? Ein Begriff wie der „béton brut“ meint eben nichts anderes, als dass der Beton materialgerecht eingesetzt sein möge – das deutsche Adjektiv brutal, das Substantiv Brutalität und schließlich auch ein Begriff wie Brutalismus sind mit ganz anderen, negativen Werten konnotiert.

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Reyner Banham: Brutalismus in der Architektur. Deutsche Ausgabe bei Krämer 1966

Wie auch immer: Smithsons Bauten und Aufsätze und Banhams Buch verhalfen dem Begriff zu erheblicher Aufmerksamkeit, was nicht zuletzt der ubiquitären englischen Sprache zuzuschreiben ist. Heute beschert der Begriff, der nicht nur in den europäischen Sprachen so unterschiedlich bewertet wird, ärgerliche Verwirrung. Und mit dieser Verwirrung hatten die Gelehrten ihre liebe Not. Zu bedauern ist, dass für die Begriffsgeschichte nicht auch skandinavische Wissenschaftler eingeladen waren, immerhin widmete sich Kenneth Frampton
der Situation in Schweden.

Rehabilitierung einer Epoche

 

Eine zweieinhalbtägige Veranstaltung mit fünzehn Vorträgen zusammenzufassen, kann der Einzelerkenntnis kaum gerecht werden. So beschränken wir uns hier auf die Relevanz, die das Thema vor allem für die Mitveranstalter, die Wüstenrot-Stiftung hat, die sich seit langer Zeit der Pflege moderner Architektur verpflichtet sieht. Bauten aus den 1960er- und 1970er-Jahren sind derzeit akut bedroht, weil sie eben noch nicht zur kanonisierten Baugeschichte gehören, aber dem Hype des Neuen auch nicht mehr entsprechen. Hilfreich waren Vorträge, die den Brutalismus in verschiedenen Ländern ausloteten – bestens erläuterte beispielsweise Jörg Gleiter die Situation in Japan oder Tom Avermaete die Rolle Frankreichs in Nordafrika mit den „ateliers des bâtisseurs ATBAT“. Sie bestätigten, dass, wo vom Brutalismus die Rede war, kein formal erkennbarer Stil, sondern eine Haltung auszumachen ist. Ziegel oder Beton, auch Stahl – rechte Winkel wie schräge Baukörper: Es ging seinerzeit zwar auch, aber nicht nur darum, „as found“ zu bauen. Reyner Banham hatte 1966 weit ausgegriffen: Corbusier und Mies, atelier 5 usw. – aber seine Sammlung brutalistischer
Architektur lässt sich kaum als schlüssig bezeichnen, wenn den Handlungssträngen der Nachkriegsarchitekten differenziert nachgespürt wird.
Beatriz Colomina erinnerte an die individuellen Hintergründe von Persönlichkeiten, die traumatisiert aus dem Krieg zurückgekommen und in den 1950er- und 1960er-Jahren als Architekten tätig waren. Es gilt, die Handlungsimpulse einer kriegsgeschundenen Generation zu erkunden, um die Architektur des Brutalismus zu verstehen – und anzuerkennen, dass die Ästhetik, die daraus entwickelt wurde, in der Architekturgeschichte eine ebenso bedeutsame Rolle spielt wie Pracht und Prunk des Barock. Die Rolle der Kriegstraumata hatte Jörg Gleiter auch für japanische Architekten wie Kenzo Tange oder Arata Isozaki überzeugend präsentiert.
Atrium von Werner Düttmanns Akademie der Künste (Bild: Ursula Baus)

Atrium von Werner Düttmanns Akademie der Künste, 1955-60 im Hansa-Viertel gebaut (Bild: Ursula Baus)

Praktische Denkmalpflege
Ingrid Scheurmann blies wieder den kalten Wind der denkmalpflegerischen Praxis in den Vortragssaal der 1960 von Werner Düttmann gebauten Akademie der Künste. Bevor die Denkmalpflege Bauten aus den 1960er- bis 1980er-Jahren unter Schutz stellen kann, sind diese – wirtschaftlich – längst abgeschrieben und damit für ein Land, in dem Architektur immer öfter nur ökonomisch und nicht kulturell bewertet wird, Abrisskandidaten. Manche Denkmalpfleger hängen, so Scheurmann, außerdem immer noch – kunst- und kulturwissenschaftlich unbegreiflich – der These nach, die Denkmalpflege sei lediglich Anwalt des „schönen Alten“. Als ob je ein Schönheitsempfinden generationsunabhängig gewesen wäre. Freundet man sich mit der vorläufigen These an, dass die Architektur des so genannten Brutalismus erst einmal im Fachdiskurs analysiert und das so erarbeitete Wissen popularisiert werden müssen, dann wird es höchste Zeit. Der Wüstenrot-Stiftung gebührt in diesem Sinne Anerkennung, weil sie sich an die Spitze eines Bewertungswandels traut.
Der Kalamität, dass brut und brutal, brutalims und Brutalismus in unterschiedlichen Sprachen gänzlich unterschiedliche Bedeutung haben, konnte in Berlin nur andeutungsweise etwas entgegen gesetzt werden. Es ginge aber darum, die exzellenten Brutalismus-Bauten der 1960er- bis 1980er-Jahre gegen die kaum zu
zählenden Trivialbrutalimus-Beispiele differenziert und argumentativ zu verteidigen. Längst engagieren sich Bürger für die Bauten einer Epoche, die ihnen eine moderne Heimat bieten. Die Geschichtswissenschaften sind jetzt unter Zugszwang.

Zum Weiterlesen
– Reyner Banham: The New Brutalism. In: Architectural Review, 12/1955, hier online. Dieser Aufsatz erschien just in erster deutscher Übersetzung in: Candide No.5, mit einem Beitrag von Claire Zimmerman.
– Reyner Banham: New brutalism. 1966 Die Ausgaben des Werkes von Reyner Banham “New Brutalism” in englischer, französischer und deutscher Sprache wurden vom Karl Krämer Verlag hergestellt und verlegt. Für verschiedene Länder konnte Krämer damals Kooperations-Partnerverlage in Frankreich, den USA, England, den Niederlanden und der Schweiz mit deren Imprint für den Vertrieb gewinnen. Der Autorenvertrag wurde zwischen Banham und dem Karl Krämer Verlag geschlossen. Jürgen Joedicke übernahm dieses Werk als Herausgeber der Dokumente der Modernen Architektur in diese Reihe.
– Rauh und rissig. Architektur/ Brutalismus. In: Der Spiegel, 47/1967, hier online