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Mutprobe Monsterstreicheln

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Warren & Mahoney: Christchurch Town Hall, Christchurch, Neuseeland, 1972 Foto: Warren & Mahoney ca. 1972


Eine Ausstellung im Deutschen Architekturmuseum über die Architektur des Brutalismus versteht sich als internationale Bestandsaufnahme, wie es im Untertitel heißt. Das klingt sehr sachlich und neutral. Das Anliegen, das die beiden Kooperationspartner DAM und Wüstenrot Stiftung verfolgen, ist allerdings weniger distanziert: „SOS Brutalismus – Rettet die Betonmonster!“ wirbt vehement für den Erhalt der vielfach vom Abriss bedrohten Nachkriegsarchitektur.


Mit dem Begriff des Brutalismus ergeht es vielen wie dem Kirchenvater Augustinus mit dem der Zeit. Was sie sei, wisse er, solange er nicht danach gefragt werde, schrieb er. Was genau der Brutalismus ist, lässt sich kaum exakt bestimmen – Begriffe dieser Art seien immer an ihren Rändern unscharf, so Wolfgang Pehnt bei der Pressekonferenz zur Ausstellung, die bis zum 2. April 2018 in Frankfurt zu sehen sein wird. Mit zu dieser Unschärfe trägt bei, dass nicht eindeutig ist, wie die Bezeichnung in die Welt kam. Drei Architekten aus Schweden hätten ihn, scherzhaft gemeint, bei einem London-Besuch benutzt, wo er bereitwillig aufgenommen worden sei und sich wie ein Lauffeuer verbreitet habe, so heißt es rückblickend bei Reyner Banham 1966. Banham wiederum hatte die Bezeichnung 1955 selbst für ein Essay in der Architectural Review benutzt, um eine neue Bewegung in Kunst und Architektur zu bezeichnen. Und dann gibt es da noch die Geschichte vom Spitznamen Peter Smithsons: Brutus war er von Freunden genannt worden, wegen der Ähnlichkeit zu einer Büste des römischen Helden – und der „New Brutalism“ als ironischer Kampfbegriff gegen den „New Humanism“ verwandt worden, den konservative Kreise in der Nachkriegszeit benutzten.

Alison und Peter Smithson: Secondary Modern School (heute: Smithdon High School), Hunstanton, Großbritannien, 1949–1954. Foto: Xavier de Jauréguiberry 2008

Am Beginn der Ausstellung in Frankfurt steht ein Werk, das als das erste des Brutalismus gilt: die Schule der Smithsons in Hunstanton, die 1954 fertiggestellt wurde. In ihr spielte Beton keine Rolle – sie ist viel mehr Mies van der Rohe als etwa Le Corbusier verpflichtet, der so oft (auch von Banham) als Referenz genannt wird. In Hunstanton dagegen sind Stahl und Ziegel die wichtigsten Materialien – sie sind unverkleidet, also direkt und unmittelbar eingesetzt. Waschbecken sind zudem wie Ausstellungsstücke inszeniert, als eigenständige Objekte. Die Dinge wahrzunehmen, als hätte man sie gerade so gefunden, war eine der Maximen, die als „as found“ in der Künstlergruppe Indepentent Group, der die Smithsons angehörten, zum Leitbild erhoben worden war.
Banham ist unstrittig die publizistische Vaterfigur des Brutalismus. Er verstand darunter eine ethische, nicht  eine ästhetische Haltung. Durch Materialgerechtigkeit, sichtbare Konstruktion und eine einprägsamen Bildhaftigkeit schien sie ihm in der Nachkriegszeit geeignet, reinigend und erneuernd zu wirken, Orientierung zu stiften. Als Banham 1966 das Buch „Brutalismus in der Architektur“, herausgegeben von Jürgen Joedicke veröffentlichte, sah er diese Ideale bereits zu einem Stil verwässert, der genau die ästhetische Priorität setzte, gegen die er den Brutalismus in Stellung gebracht hatte.

 

 

Für alle Erdteile, für alle Systeme

Beton – als béton brut in einer stark materialbetonenden Oberfläche, in Fertigteilen sichtbar als Bausatz genutzt oder als skulptural-formbares Material verwendet, war zum Kennzeichen dessen geworden, was, wie Oliver Elser, der Kurator der Ausstellung, es nannte, „wir uns heute nicht scheuen brutalistisch zu bezeichnen.“ Zu den Kriterien von Banham hat das Team vom DAM als weiteres Auswahlkriterium die rhetorische Qualität hinzugenommen, die in besonders deutlicher Weise die „Gemachtheit der Architektur“ (Elser) betont, die das Material also als Artefakt einsetzt. Daraus leiten sich eine ganze Reihe von Erscheinungsformen ab, die, regional geordnet, den Besucher der Ausstellung auf eine kleine Weltreise (mit Schwerpunkten auf Deutschland und Großbritannien) mitnehmen und die lokalen Besonderheiten und Spielarten brutalistischer Architektur sichtbar machen. Der Brutalismus zeigt sich bis in die 80er hinein zu einer in allen politischen Systemen aufzufindenden Spielart der Moderne, die sich den spezifischen Gegebenheiten erstaunlich gut anpassen ließ. Er wird präsentiert als Transformation traditioneller Holzbauweisen in Japan (Regierungsgebäude der Präfektur Kagawa, Kenzo Tange, 1958), als Ausdruck eines Selbstverständnisses, Kultur allen zugänglich zu machen, (SESC Pompeia, São Paulo, Lina Bardi, 1977–86), als expressiver Ausdruck von Spiritualität (Kirche Saint-Nicolas, Hérémence, Schweiz, Walter Maria Förderer, 1971) als lokal überformte, manieristische Formenvielfalt (etwa in Skopje) oder auch als rationaler Bausatzfunktionalismus.

Von der rohen Ausführung, die die handwerklichen Bedingungen vor Ort noch sichtbar ließ, bis zur individuellen Nachbearbeitung mit dem Hammer, um die Oberfläche besonders besonders rau und abwechslungsreich erscheinen zu lassen, spannt sich der Umgang mit dem Beton – also von der Banham noch verwandten und ethisch interpretierbaren Pragmatik der Produktionsbedingung bis zur überdehnten Symbolik. Aus skulpturaler Architektur wurde mitunter eine monumental-abstrakte Überwältigungsrhetorik, die dem so falschen wie irreführenden Kurzschluss des Brutalismus mit dem Brutalen Vorschub geleistet hat.


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Kallmann McKinnell & Knowles / Campbell, Aldrich & Nulty: Boston City Hall, Boston, Massachusetts, USA, 1962–1969. Foto: Bill Lebovic 1981
Das Rathaus von Boston war Teil eines städtebaulichen Erneuerungsprogramms, zu dem auch eine Piazza zählte, deren Pflasterung an italienische Marktplätze erinnern sollte, die allerdings ins Gigantische vergrößert wurde. Im Gebäude lässt sich Le Corbusiers Kloster La Toruette als Vorbild erkennen.

Viele der vorgestellten Bauten feiern mit dieser Überwältigungsrhetorik das, wofür sie stehen – sei es die künstlerische Freiheit des Architekten, seien es die in ihnen beheimateten Institutionen des Kollektiven, etwa in Rathäusern, oder seien es emanzipatorische Erungenschaften der Moderne. In ihrer schieren Dimension sprengten sie die bekannten Maßstäbe. Neben feineren Betongussmodellen finden sich in der Ausstellung wohl auch deshalb besonders große Modelle: sie vermitteln diesen Maßstabssprung.
Eine Reihe von Postkarten mit Motiven nicht ausschließlich brutalistischer Nachkriegsarchitektur macht darauf aufmerksam, dass diese Häuser oftmals auch Ausdruck eines allgmeinen Stolzes waren, modern zu sein. Das ist freilich nicht ganz unproblematisch: Der Begriff des Brutalismus wird damit noch unschärfer, als er es ohnehin schon ist. So scheint es letztlich manchmal, brutalistisch sei eben das ist, von dem man sich darin sicher meint, dass es als brutalistisch akzeptiert wird.

 

Kampagne für bedrohte Monster

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John Madin: Birmingham City Library, Birmingham, Großbritannien, 1969–1973, 2016 abgerissen. Foto: Jason Hood 2016

Die Ausstellung begleitet ein ausführlicher und umfangreicher Katalog, sein Beiheft dokumentiert eine Tagung von 2012 und vermittelt die theoretischen Grundlagen, die eine differenzierte Auseinandersetzung erlauben. Diese Tagung der Wüstenrot Stiftung war der Startpunkt des Projektes, das zunächst nicht auf eine Ausstellung gezielt hatte, sondern erst einmal für den Wert einer Architektur werben wollte, die vielfach bedroht war (und es bis heute ist). Die gründliche Aufarbeitung macht dabei deutlich, dass dieser Wert in der besonderen Verknüpfung von gesellschaftlich-sozialen mit ästhetischen Qualitäten besteht. Die Emphase des Aufbruchs, der in dieser Architektur vielfach zum Ausdruck gebracht wurde, ist nicht mehr für jeden so ohne weiteres nachvollziehbar – nicht jedem ist danach zumute, die Betonmonster zu streicheln. Sie müssen nun neu als Teil der Geschichte entdeckt werden, wir müssen sie neu schätzen lernen. Dass in ihnen viel graue Energie gespeichert ist, ist dabei nur ein Argument – überzeugen sollte viel mehr, um sie vor der Zerstötzung zu retten, dass man sie als beeindruckende Zeitzeichen verstehen kann, ohne sie als Forderung zu lesen, heute wieder genau so zu bauen. Wüstenrot Stiftung und DAM haben sich in diesem Sinne zusammengetan und eine Online-Datenbank mit inzwischen über tausend Bauwerken aufgebaut.

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Herwig Udo Graf: Kulturzentrum, Mattersburg, Österreich, 1973–1976

Die Rettungskampagne #SOSBrutalism kann auch den ein oder anderen kleinen Erfolg vermelden – so etwa das Kulturzentrum im österreichischen Mattersburg, das dank Bürgerinitiativen zumindest teilweise unter Denkmalschutz gestellt werden konnte. Die Ausstellung zeigt deswegen auch, ob die die vorgestellten Projekte gesichert oder bedroht sind – im Fall der Robin Hood Gardens der Smithsons muss sie gar den kürzlich begonnenen Abriss vermelden. Auch drei Fälle von Frankfurter Gebäuden, die in den letzten Jahren verschwanden, werden in der Ausstellung benannt. Die Betonmonster werden noch eine Weile SOS funken – bleiben wir empfangsbereit.


SOS BRUTALISMUS – Rettet die Betonmonster!
Ausstellungseröffnung: Mittwoch, 8. November, 19 Uhr
9. November 2017 – 2. April 2018
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Der Katalog zur Ausstellung mit Beiheft zur Tagung von 2012 erschien bei Park Books, Zürich, er kostet in der Ausstellung 59 €
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