Was Architekten und Stadtplaner als Geschichte „ihrer“ Zunft zu kennen glauben, ist weitgehend ein Konstrukt von Kunsthistorikern. Alle zwei Jahre treffen sich Kunsthistoriker nun zu einer Art Selbstvergewisserung beim „Kunsthistorikertag“: Im März 2015 ging es in Mainz um das große Thema „Der Wert der Kunst“. In der Sektion „Architektur“ sprach man über 40 Jahre Denkmalpflege.
Kunstgeschichte und Architekturpraxis trafen aufeinander, und Architekten stellt sich eine Art Gretchenfrage: Was machst Du mit dem Nachkriegsbestand?
Premiere 1975: Das Europäische Denkmalschutzjahr
Bereits 1964 hatten Wolf Jobst Siedler und Elisabeth Niggemeyer gegen die damals zeitgenössische Architektur- und Stadtplanungspraxis gewettert, die einen Löwenanteil der heutigen Architekturaufgaben betrifft.1) Siedler und Niggemeyer hatten berechtigte Kritik an der damaligen Abrisswut geübt, aber zugleich Hinterhöfe und Gründerzeit-Quartiere „verklärt“ – wie der Spiegel seinerzeit kritisierte. Ein Jahr später erschien Alexander Mitscherlichs „Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden“.2) Diese publizistischen Abrechnungen zielten unscharf auf den frühen Bauwirtschaftsfunktionalismus und trafen deswegen auch exzellent neu Gebautes.
Es dauerte aber noch einmal knapp zehn Jahre, bis 1973 mit dem Deutschen Nationalkomittee für Denkmalschutz eine Institution (www.dnk.de) gegründet war, welche wissenschaftlich und politstrategisch der Entstellung und dem Abriss der Architektur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts entgegenwirkte. 1975 war es so weit, dass mit dem medial sehr erfolgreichen „Europäischen Denkmalschutzjahr“ die institutionalisierte Denkmalpflege sprungartig an Einfluss gewann.
Argumentationsfehler der Denkmalpfleger rächen sich
Ihr – der Denkmalpflege – verdanken wir unglaublich viel. In der praktischen Baupolitik wie in der wissenschaftlichen Aufarbeitung architektur- und stadtgeschichtlicher Themen leistete die Denkmalpflege auf verschiedenen Behördenebenen vieles, was den akademischen Baugeschichtskreisen gelegentlich den Rang ablief. Allerdings argumentierte die Denkmalpflege anfangs polemisch gegen die damals zeitgenössische Architekturentwicklung. Und genau das beschert ihr heute erhebliche Schwierigkeiten. Zum einen kämpft sie um Glaubwürdigkeit, wo sie heute das verteidigen muss, was sie damals anprangerte: die Architektur der 1960er- und 70er-Jahre. Zum andern gewann aber die Immobilienwirtschaftslobby inzwischen dermaßen an Einfluss, dass politische Entscheider die behördliche Denkmalpflege als „Verhinderer“ geißeln, rabiat entmachten und personell ausdünnen.
Revisionen
Parallel zeichnete sich Anfang der 1970er Jahre eine Architekturströmung ab, in der formale Facetten der Architekturgeschichte fröhliche Urständ‘ feierten. Gepaart mit Humor, Ironie und Elementen der Popbewegung schwappte die Architekturwelle der „Postmoderne“ aus den USA nach Europa. Hier kam sie schon stark verflacht an und tauchte außerdem als Randerscheinung eines Phänomens auf, das in europäischer Literatur und Kultursoziologie fundierter und breiter zutage trat. Der Gründer des Deutschen Architekturmuseums in Frankfurt (DAM), Heinrich Klotz, förderte damals den Transfer aus den USA nach Kräften, unter anderem sofort 1984 mit seiner DAM-Gründungsausstellung Die Revision der Moderne. Postmoderne Architektur 1960-1980. In gebauter Architektur ließen sich auch hierzulande Spuren dessen analysieren, was Architekten als Antwort auf Wolf Jobst Siedler, Alexander Mitscherlich und andere kritisiert und revidiert hatten.Zwanzig Jahre später widmete sich das DAM unter neuer Leitung von Ingeborg Flagge der Relevanz jener von Heinrich Klotz propagierten Postmoderne, um anhand jün-gerer Architektur vielleicht nicht das Scheitern dieser Postmoderne, aber doch ihren Episodencharakter anzudeuten.3) Die 2004 ausgewählten Projekte sollten vielmehr die neuen Themen Pluralismus und Komplexität charakterisieren.
Postmoderne und Rekonstruktion
Und heute, noch einmal rund zehn Jahre später, thematisieren also die Kunsthistoriker rückblickend auf 1975 eine Phase, in der sich Kunstgeschichte und Architektur zusammengefunden hatten. 4) Gegen den derzeitigen, ungehinderten Zugriff der Immobilienwirtschaft auf alles, was nicht niet- und nagelfest ist, solidarisieren sich auch heute wieder Kunsthistoriker mit Architekten. Dabei geht es um die Verteidigung jener Architektur- und Stadtplanungen, die ihnen eine „Heimat“ bilden. Heimat orientiert sich dabei nicht allein an vermeintlichen Schönsheitskonstanten, sondern an dem, was Architekten lernen: an Identifikationsangeboten, die für keine Epoche zuvor gelten können, weil sich sozioökonomische oder auch technisch-naturwissenschaftliche Kontexte nie wiederholen. Das sind existenzielle Themen für Historiker. Und Architekten. Und Stadtplaner.
Generationswechsel: Chancen neuer Annäherung
So war die Sektion „Architektur“ mit Martin Bredenbeck und Constanze Folke aus Bonn sowie Carsten Ruhl aus Frankfurt und Martin Neubacher aus Dresden von vergleichsweise jungen Wissenschaftlern verantwortet, die sich an die Gegenwartsarchitektur aus eigenem Erfahrungskontext heranwagten.5) Mainz bietet dazu Anschauungsmaterial vom Feinsten: Arne Jacobsens Rathaus ist in der Tagespolitik präsent, während abenteuerliche Nachkriegsrekonstruktionen wie der Mainzer Marktplatz, an dem Bürgermeister Jockel Fuchs (1919-2002) an historisierter Fassade als Konsolenfigur die Passanten anlächelt, als solche im Alltag nicht hinterfragt werden. Landeskonservator Joachim Glatz frischte die Gedächtnisse mit einem Rückblick auf die Vielfalt auf, mit der Mainz nach 1945 quasi neu entstand. War die Stadt doch zu 80 Prozent zerstört worden. Und dazu zitierte der Landeskonservator die schizophrene Überzeugung eines Kollegen: „Das Alte gefällt uns dann am besten, wenn wir‘s selbst gemacht haben.“ Gewiss, es sind nicht nur die Jüngeren, die den Wert der originären Nachkriegsarchitektur immer mehr hervorheben. Aber ihnen kann gelingen, diesen Wert überzeugender im öffentlichen Bewusstsein zu beleben als jenen, die ihn vor vier Jahrzehnten zum Feindbild erkoren haben. Denn die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche…
„Digital Natives“ und versiegende Quellen
Beim Kunsthistorikertag wurde dabei auch mit Thesen nach Aufmerksamkeit gesucht, deren Wissensquellen hinterfragt werden dürfen. So stellte Maren Fürniß die Behauptung auf, dass heutige Rekonstruktionsprojekte (Braunschweig, Dresden, Potsdam …) die Folge des Europäischen Denkmalschutzjahres 1975 gewesen seien. Aber es wurde nicht differenziert, dass hinter der Rekonstruktion beispielsweise der Braunschweiger Schlossfassaden knallharte Investoreninteressen stecken; dass hinter dem Neubau des Berliner Schlosses oder des Potsdamer Parlamentes ein Sammelsurium aus politischer Planungsstrategie und alten Gesinnungsfeindschaften steckt; dass vielerorts eine Popularisierungsstrategie der Vergangenheit zu Buche schlägt. Ohne diese Differenzierung dominiert in solchen Thesen wieder mal die konservative und unzulängliche Kunstwissenschaftsmethodik, die fast ausschließlich bildästhetisch argumentiert. Es mag sein, dass in der Google-Bildsuche ein eigenständiger Erkenntniswert nach alter Kunsthistoriker-Manier steckt. Wie sie unter anderem Kari Jormakka fast anarchisch mit neuen Medien praktizierte. Aber wie, mit welchen Algorithmen kommt dieser Erkenntniswert zustande? Das Wissen analoger Art und das Wissen Beteiligter muss gegen die bildfixierte Google-Suche behauptet bleiben. Nicht digitalisierte Wissensquellen versiegen – und damit drohen wissenschaftliche Durststrecken.
Wissenschaft und Bauen
Ein Fazit: Es ist gut zu wissen, dass die Wissenschaftsdisziplin „Kunstgeschichte“, die auch Nachkriegsarchitekturgeschichte kanonisiert, wieder mal den Anknüpfungspunkt an die Architekturpraxis findet. An jene Disziplin also, die ein verflixt konkretes Problem mit der Nachkriegsarchitektur im baupraktischen Alltag hat. Die Lösung dieser Aufgabe darf nicht den Lobbyisten der Wärmedämmindustrie, der Energiekonzernlobby, der Immobilienwirtschaft und Abriss- und Neubaulogistiker überlassen werden. In neuen Allianzen muss die jüngere Generation von Kunsthistorikern und Architekten zu Gegenstrategien finden. Zusammenarbeit scheuen sie gewiss nicht, um zu retten, was zu retten ist. Jetzt geht es darum: Wie?
1) Wolf Jobst Siedler, Elisabeth Niggemeyer: Die gemordete Stadt. 1: 1964
2) Alexander Mitscherlich: Die Unwirtlichkeit unserer Städte. 1: 1965
3) Ingeborg Flagge, Romana Schneider: Revision der Postmoderne. Frankfurt/ Hamburg, 2004