Unter Kranken: die Bestrafung und Rettung des Architekturschreibers. Hier folgt eine sommerliche Krankengeschichte, in der das scharfe Auge des Kritikers auf Räume, Geräte, Details – und das Personal sowie Mit-Leidende fällt.
Ein Krankenhaus zu planen ist eine größere Herausforderung als ein Einfamilienhaus, eine Kindertagesstätte oder einen Dachgarten zu entwerfen. Die Aufgabe ist komplex, interdisziplinär und langwierig, versichern die wenigen großen Planungsbüros, die sich darauf spezialisiert haben.
Als ebenso schwierig gilt diese Baugattung für uns Architekturschreiber. Wie soll man solche anspruchsvollen „Krankenanstalten“ veröffentlichen? Was dazu kommentieren, ohne lediglich die Worte der Architekten und Fachplaner zu paraphrasieren und ein paar gallige Bemerkungen über Fassadenmaterial, Fensterteilung und Kantinenmöblierung als journalistisches Pflichtpensum und vermeintliche Lesehilfe beizusteuern? Der gesunde Kritiker besucht ein Krankenhaus bei der Eröffnung und reist nach dem Presserundgang wieder schmerzlos, ab. Er versucht, das Gebaute zu verstehen, so wie ein Agnostiker dem Geheimnis einer Kirche auf den Grund gehen möchte. Was durchaus zu sehr lesenswerten Texten führen kann. Ich erinnere an Wolfgang Pehnt.
Ernstfall
Aber nun hat es mich in die Notaufnahme eines Krankenhauses befördert. Nach Mitternacht und mit Blaulicht wegen unverschämter Bauchschmerzen.
Ich komme, in einem Krankenrollstuhl geschoben, in einem undefinierbaren Verlies an, wohl zugleich Lager, Labor und Büro. Alles um mich herum ist grau, Boden, Fliesen, Einrichtung, das passt zur frostigen Raumtemperatur, vor allem wenn man nur in seinem Nachtgewand steckt. Trübsal gesellt sich zu den Bauchschmerzen. Ich würde gerne entrümpeln, das Mobiliar, die Stellagen, Borde, Tische und Schränke geraderücken, in Höhe und Tiefe abstimmen, Schubladen reparieren, einheitliche Griffe montieren. Aber erst mal die Untersuchung, die Anamnese durch Internistin und Chirurgin. Auf jeden Fall werde ich dableiben müssen. Weil ich wahrheitsgemäß meinen zweimaligen Durchfall am Nachmittag erwähnt habe, befürchtet man eine Noro-Virus-Infektion und isoliert mich in einem Einzelzimmer.
Dort gibt es viel Platz, ein stattliches Bad, eine eigene Loggia, von der ein Steg in den parkartigen Garten führt. Fühlt sich an wie Urlaub. Letzte Gelegenheit für ein wenig Gymnastik im Freien. Über dem Bett hängt ein Kärtchen mit dem Aufdruck „Nüchtern“. Heißt: Zwieback, Wasser und dann nichts mehr.
Die folgenden Untersuchungsergebnisse gebieten offenbar Eile. Dass der Schmerz aufgehört hat, sei kein gutes Zeichen. Die Mediziner erklären mit ernster Miene, was sie vorhaben. Minimalinvasiv, heißt heute das Zauberwort, vier Schnitte. In eine Öffnung kommt eine Kamera, daneben Luft, und durch die anderen Schlitze soll alles Entzündete entfernt werden. Klingt nach Routine.
Haben Sie noch Fragen?
Das ist meine Bikinizone, sage ich, wird das denn hübsch mit dem vielen Rumgesäbel? Jetzt schauen gleich alle freundlicher, lächeln. Man soll die Ärzte immer aufheitern, bevor sie einem den Bauch aufschneiden. Aber ich muss noch vier engbedruckte Seiten lesen und unterschreiben, dass ich die möglichen Risiken der Anästhesie verstanden habe.
In der Tiefe des Raumes
Danach besteht Gelegenheit, das Gebäude auf dem Rücken liegend kennenzulernen. Leider spürt meine strapazierte Bandscheibe auf dem ungefedert rollenden Krankenbett alle Fugen, Schwellen, Trennschienen, unterbrochen von einem Riffelblechtremolo im Aufzug. Interessant sind die Decken, die wie ein Film über meinem Bett entlangziehen. Alles, was in den letzten fünfzig Jahren an Lampen erfunden wurde, leistet seine Dienste. Wie in vielen öffentlichen Gebäuden fehlt vor allem bei den Leuchtstofflampen die sorgfältige Zuwendung. Gerade weil es sie in unterschiedlichen Lichtfarben gibt und die Röhren nie alle auf einmal kaputtgehen. Die abgehängte Decke ist mit Gipskarton verkleidet, auch mit Blechkassetten, manchmal perforiert. Zahllose Fingerabdrücke zeigen, dass man immer wieder an die verborgenen Installationen heranmuss. Dann Weichfaserplatten, auf Gehrung gestoßen deuten sie einen Abzweig an. Das Bett fährt wirklich nach rechts, kommt in einem engen Technikraum zum Halten, steht eingeklemmt wie im Bauch eines U-Boots. Ein Wunder, dass es nicht nach Schiffsdiesel riecht. Wozu die ganzen Kabel? Wenn man den Kopf wendet, sieht man auf einem Monitor farbige Zackenlinien wandern. Ist das gut oder schlecht? Ein Lautsprecher schickt knallende Laute durch das Dickicht, könnte mein Herzschlag sein, aber warum fehlt immer wieder ein Ton? Ob das was zu bedeuten hat? Die Deckenleuchte möchte man verschieben, das Glas ersetzen. Aber da strömen Schmerz- und Betäubungsmittel durch die Armkanüle, eine Maske senkt sich auf das Gesicht.
Den Aufwachraum nehme ich gar nicht wahr. Allerdings ohne Noro-Virus werde ich umgehend auf Economy umgebucht. Nun liege ich abwechselnd mit einem oder zwei anderen in einem Zimmer im fünften Stock. Ein elendlanger Flur endet zu beiden Seiten an einem loggienartigen Balkon. Nach Westen, direkt neben meinem Zimmer, bietet sich eine großartige Aussicht bis zum Waldrand entlang der Weinstraße, links das Hambacher Schloss, rechts das Haardter Schlösschen. Dafür ist jetzt der Gang zum Park umständlich. Hinter seinen Gartenhecken schließt direkt der Friedhof an. Sensible Patienten werden bei dieser Entdeckung ängstlich das Naheliegende erwägen: die kurzen Wege. Erwähnenswert ist das zur Seite gerückte martialische Grabmal des SS-Gauleiters Josef Bürckel, das aus historischem Interesse erhalten bleibt.
Jetzt lässt sich das Krankenhaus auch von außen besichtigen. Das Gebäude war 1880 als Kinderverwahranstalt errichtet, dann umgenutzt und jahrzehntelang aufgestockt, angebaut, erweitert worden. Die Fassaden sind mit curryfarbenen Spaltklinkern verkleidet, wie man sie als Bodenbelag aus Schwimmbädern, Schlachthöfen und Werkstätten kennt. An der Westfassade hat man die vom Frost angenagten Plättchen mit einer Blechverkleidung gesichert, an anderen Stellen sind kräftige Fangnetze gespannt. Auch innen hat die Zeit ihre Spuren hinterlassen. Wenn etwas ersetzt werden musste, hat man nach etwas ähnlichem gesucht, also gibt es jetzt eine Palette an grauen PVC-Bodenbelägen, Schaltern und Armaturen, wobei das Neue nicht das Bessere sein muss. Designer-Mischbatterien, die man ohne Brille und mit nassen Händen nicht bedienen kann, mag man gerade in einem Krankenhaus nicht.
Die Flure sind armiert von doppelreihigen Rammschienen, vulgo Handläufen, die auf jedem Geschoss von anderen Farbstreifen markiert werden. Die Installation erinnert an Autoscooter. Die Endoskopieabteilung ist am ehesten in der Gegenwart angekommen: dunkelblaue Profile und rahmenlos geklebte Scheiben, ergänzt mit schlanken Edelstahlstäben.
Aber unübersehbar bleibt im ganzen Haus der leidenschaftslose Charme der 1960er Jahre. Es soll nach einem Wettbewerb durch einen Neubau der Ludwigshafener Architekten ash Sander Hofrichter ersetzt werden.
Unter Leuten
Inzwischen darf ich wieder normal essen. Was auf den Teller kommt, hat den Segen von Karl Lauterbach: kein Salz, kein Zucker, kein Alkohol. Interessant die Rollcontainer, in denen die Essentabletts auf einer Seite heiß und auf der anderen kühl gehalten werden. Die beweglichen Patienten pflegen eine Art Wohngemeinschaft, sitzen zusammen an Tischen und versorgen sich gegenseitig mit Getränken. Da die Station nicht klimatisiert ist, stehen fast alle Zimmertüren offen, damit der Durchzug etwas Abkühlung bringt. Man kann die Mit-Leidtragenden vergleichen, macht Bekanntschaften, freundet sich mit der Gegenwart mancher Menschen an oder vermeidet ihre Nähe. Am anderen Ende des langen Gangs fährt ein älterer Mann ein kurzes Stück mit seinem Krankenfahrstuhl eifrig auf und ab. Wir kommen ins Gespräch. Er sei immer sportlich gewesen, auch jetzt noch mit 83. Ich biete ihm ein Rollstuhlrennen an, wenn alle im Bett liegen. Aber er traut sich nicht, er fürchtet die Nachtschwester. Er darf sich nicht von seinem Zimmer entfernen, morgen würden seine zwanzig Jahre alten künstlichen Gelenke im Oberschenkel ausgetauscht.
Ich frage, was er beruflich gemacht habe.
Er sei Lehrer gewesen. Erdkunde und Turnen.
Und nach einer Pause fügt er hinzu: Damit bist du der letzte Arsch. Die Kollegen glauben, diese Fächer könnten sie nebenher noch locker mitmachen. Mit Griechisch, Mathe und Chemie bist du fein raus gewesen, davon hat kein anderer die leiseste Ahnung.
Er dreht mit seinem Fahrstuhl eine Pirouette und winkt mir zum Abschied: Alles Gute!
In meinem Zimmer ist jetzt ein kahlköpfiger Russe angekommen. Die Verständigung ist ein wenig mühsam. Wegen meiner langen Haare hält er mich für einen Maler oder Musiker, sagt, dass er Künstler mag. Er vagabundiert in einer Art Gauchoanzug durchs Haus. Wenn er das Zimmer verlässt, macht er jedes Mal ordentlich sein Bett, es sieht immer nach Entlassung aus. Tatsächlich geht er nur zum Rauchen. Ich darf ihn nicht verraten. Als er von seiner Darmoperation zurückgebracht wird, befindet sich sein Bett in einer merkwürdigen schiefen Ebene. Es könnte zur Therapie gehören. Doch der Russe ist unzufrieden, hebelt an dem schweren Eisengestell herum, bis es sich zu einer Art konstruktivistischem Gebärstuhl gefaltet hat. Damit ist er aber auch nicht einverstanden und arbeitet weiter, bis sich eine steile Schräge, die einer Abschussrampe für die russische Sonderaktion ähnelt, eingestellt hat. Ich weiß auch nicht weiter, deshalb fordern wir Hilfe an. Es kommt eine Schwesternschülerin, die die Stellage zunächst in die Waagrechte bewegt und dann auf die gewünschte Liegeposition fährt.
Es gibt auch elektrisch verstellbare Betten. Der „Chef“ hat so ein Teil in seinem Einzelzimmer (dazu zwei Arne-Jacobsen-Stühle!). Der Chef ist ein kräftiger Hüne, dem der Magen verkleinert wurde. Er beherrscht die Station, schreitet sie ab mit seinem silbrigen Infusionsständer, den er wie einen Marschallstab hantiert. Er telefoniert laut, hat abwechselnd Besuch von Kunden oder Mitarbeitern. Es geht um Gas oder Strom und um irgendwelche Alu-Tafeln. Vielleicht ist er Bauleiter. Der Balkon ist für diese Besprechungen ideal, allerdings müssen alle jedes Wort mithören, weil die hartgefliesten Oberflächen es wie in einem Hallraum reflektieren.
Kleine Eingriffe
Ich bekomme täglich eine Spritze gegen Thrombose in Bauch oder Bein. Das macht eine junge Schwester, sie trägt ihre blonden Haare hochgesteckt. Das gefällt mir. Wenn sie an mir herumstreichelt, kommt sie mir ganz nahe, ich könnte sie unterm Ohr auf den Hals küssen. Männer entwickeln zu einer hübschen Krankenschwester gerne ein scheues Begehren. Aber dann sticht sie wieder zu, es schmerzt. Ich nehme es als Strafe für meine unordentlichen Gedanken.
Nun liege ich zwei Nächte allein im Zimmer. Ohne das Schnarchen der anderen stört mich der auf einmal tropfende Wasserhahn. Ich gehe in die offene Nasszelle und drehe ihn energisch zu. Aber zurück im Zimmer tropft er erneut. Im Sekundentakt. Eventuell hilft ein über den Auslauf gestülpter Waschlappen. Komisch, in der Nische hört man gar kein Tropfen, erst wenn man zum Bett geht. Unheimlich. Da entdecke ich über der Tür die Uhr. Analog, elektrisch, mit springendem Sekundenzeiger. Sie hängt auf einer Gipskartonständerwand, die wie ein Resonanzkasten die Zeigerbewegung akustisch verstärkt. Ich lege mich wieder hin und versuche, meinen Pulsschlag mit dem moderaten Uhrentempo zu synchronisieren. Hätte dann ja sein Gutes.
Am Sonntag ist Großflugtag, viermal kommt ein Hubschrauber des ADAC und bringt oder holt jemanden. Wer kann, hastet auf einen der Balkone, um das knatternde Spektakel von nah zu sehen und etwas von den Abgasen einzuatmen. Beim Neubau wird der Landeplatz auf das Dach verlegt. Soweit eine Vorschrift.
Liebeserklärungen
Auf dem Balkon hat ein älteres Paar Platz genommen, es war mir schon die letzten Tage aufgefallen. Sie ist die Patientin, klein, fragil, mit zarten Knochen. Ihre grauen Strähnen bindet sie sich meistens zu niedlichen Zöpfen zusammen. Er läuft sportlich, kommt immer in einem rot-weißen T-Shirt, sehr guten Jeans und Leinenschuhen, auf seine dichten weißen Haare hat er sich ein schwarzes Basecap gesetzt. Er wirkt wie ein Skipper. Dort wo eben noch der Parkplatz war, liegt sicher seine Yacht, ich tippe auf eine fünfzig Jahre alte Gin Fizz, Ketsch, 85 m2 Segelfläche. Das Paar sitzt zusammen an einem Tisch, man kann sich ihr Gespräch vorstellen. Sie schaut ängstlich und fragt: Hast du auch genug zu essen? Kochst du dir was? Es ist noch Braten vom Sonntag da. Wärm dir die Nudeln dazu, die magst du doch.
Er hat seine schwielige, braune Hand auf ihren Arm gelegt und antwortet: Mach dir keinen Kopf, Marie. Ich krieg das schon hin. Es gibt ja auch noch Lokale. Du musst jetzt erst mal wieder auf die Beine kommen.
Sie lächelt dankbar. Was für einen guten Mann sie doch hat!
So ist es. Im Krankenhaus kann man es nur aushalten, wenn man von seiner Frau oder seinem Mann Besuch bekommt. So will es die Liebe. Meine Frau besucht mich zweimal am Tag, bringt mir ein paar Ergänzungen zum Essen mit, was zum Anziehen, die Süddeutsche. Und das neue Buch von Alex Capus. Wir spazieren im Park, sogar furchtlos in den Friedhof. Das gründerzeitliche Schwesternhaus hinter den Bäumen hat man irgendwann linkisch umgebaut – und verdorben. Hier wurden früher einmal Tuberkulosekranke isoliert. Der Kritiker möchte gerne etwas dazu schreiben, über diese missverstandene Denkmalpflege, diese Absenz von Architektur, diese kulturelle Vernachlässigung…
Da spürt er: Die Kräfte kehren zurück. Er muss auf dem Weg der Besserung sein.
Nächste Woche sollen die Fäden gezogen werden.