Die Architekturgalerie am Weißenhof in Stuttgart zeigt im Herbst die Ausstellung „Und jetzt – Akute Positionen junger Büros zu Architektur und Planung“. In einer Interview-Serie werden hier die Protagonisten der Ausstellung vorgestellt. Teil 3: forty five degrees
Wie verändern Krisen die Praxis der Architektur? forty five degrees aus Berlin suchen nach Antworten jenseits der konventionellen Vorstellung von Architektur, indem sie alltägliche Praktiken durch performative und räumliche Elemente in Verbindung mit globalen Erzählungen bringen. Nicht zuletzt wegen ihrer eigenen Erfahrungen halten sie einen Wandel in der Architekturdisziplin für eine gerechtere und nachhaltigere Zukunft für dringend geboten.
Ein Gespräch mit Alkistis Thomidou und Berta Gutiérrez Casaos über die ausgrenzende Kraft des etablierten Systems, reduktive Dichotomien, sowie darüber, was radikales Design heute und zukünftig bedeuten kann.
Warum nennt ihr euch forty five degrees?
Alkistis Thomidou: Der Name forty five degrees hat eine große Bedeutung für uns. Er spiegelt die Vielfalt unseres Teams wider, zu dem Menschen aus Griechenland, Italien, Frankreich und Spanien gehören – also aus Ländern im südlichen Teil Europas. Einige von uns haben in Nordeuropa studiert oder leben und arbeiten dort. Eines unserer laufenden Forschungsprojekte befasst sich mit der Idee des 45. nördlichen Breitengrads, einer imaginären Linie, die quer durch Mitteleuropa vom Atlantik zum Schwarzen Meer verläuft. Diese Linie symbolisiert den Schnittpunkt verschiedener Dichotomien innerhalb Europas – sozial, wirtschaftlich und klimatisch – und hilft uns, die Komplexität und Identitäten innerhalb des Kontinents zu ergründen. Indem wir uns auf diesen zentralen und doch übersehenen Raum konzentrieren, wollen wir die Unterschiede, die Europa kennzeichnen, verstehen (und in Frage stellen). Vor allem aber wollen wir die Gemeinsamkeiten hervorheben und aufzeigen, wie die Unterschiede als Stärke und nicht als Last verstanden werden können.
Berta Gutiérrez Casaos: 2020, dem Jahr, in dem wir forty five degrees gründeten, wurde in Europa ein neuer Temperaturrekord gemessen, nämlich 45ºC. Ein weiterer Grund, warum wir diesen Namen gewählt haben, ist, dass wir eine vielseitige Perspektive wollen, die ökologisches, klimatisches, geografisches und geometrisches Denken miteinander verbindet. In unserer Arbeit suchen wir Inspiration aus verschiedenen Quellen und Disziplinen, um unsere Praxis zu bereichern. Letztendlich entstand unsere Zusammenarbeit aus dem tiefgreifenden gemeinsamen Interesse an einer anderen räumlichen Praxis und dem Potenzial der Architektur, ungleiche und ausschließende Strukturen, soziale, materielle und geografische, in Frage zu stellen und neu zu gestalten, um zugänglichere und gerechtere Räume für das Zusammenleben zu schaffen.
Aktuelle Krisen und der Niedergang des Stararchitekten
Ihr beschreibt diese Ereignisse auch als etwas, das einen sehr persönlichen Einfluss auf euer Leben und eure Werdegang gehabt hat.
Alkistis Thomidou: Wir gehören zu einer Generation, die von der Krise im Jahr 2008 stark betroffen war, die sich vor allem in Südeuropa durch die sogenannte Sparpolitik auswirkte. Für diejenigen von uns, die damals in ganz Europa Architektur studiert haben, war dies ein bedeutender Wendepunkt. Uns wurde beigebracht zu glauben, dass Architekt:innen Retter sind, die kommen, grandiose Formen und Gebäude entwerfen und die Welt neu erfinden. Seit 2008 ist diese Vorstellung obsolet geworden, doch wir müssen herausfinden, was die zeitgenössische Bedeutung der Architektur und die Rolle der Architekten ist.
Berta Gutiérrez Casaos: Um ein konkretes Beispiel aus Spanien zu nennen: Peter Eiseman entwarf die Kulturstadt von Galicien am Stadtrand von Santiago de Compostela, doch während der Entwicklung des Projekts erwiesen sich die vorzuhaltenden Unterhaltskosten als so hoch, dass die öffentliche Verwaltung Schwierigkeiten hatte, die für die Fertigstellung erforderlichen Mittel aufzubringen. Im Laufe der Jahre hat das Gebäude die Erwartungen der Besucher nicht erfüllt und ist nicht zu dem erhofften kulturellen Meilenstein geworden. Interessanterweise entwickelte Andrés Jaque während des Baus ein kritisches Projekt mit dem Titel »12 Aktionen, um die Cidade da Cultura transparent zu machen«, in dem er versuchte, den Konflikt, den dieses Projekt auf regionaler Ebene auslöste, aufzudecken und zugänglich zu machen. Inzwischen erleben wir den dramatischen Niedergang des Stararchitekten des Dekonstruktivismus– ein in den letzten Jahren übermäßig aufgeblasenes Wesen, das eine zentralisierte kulturelle Perspektive verkörpert und eine groteske Abkopplung von der Realität symbolisiert. Ich bin der Meinung, dass die Architekten Derrida gründlich missverstanden haben.
Der Punkt ist, dass es eine große Kluft gibt zwischen dem, was uns gelehrt wurde, und dem, was es heute bedeutet, Architekt:in zu sein. Wir kommen aus Ländern, die schwere Haushaltskürzungen hinnehmen mussten, in denen Menschen aus ihren Häusern vertrieben und Straßen mit Polizeigewalt erobert wurden; es gab jahrelang große Unruhen. All diese Ereignisse können nicht auf taube Ohren stoßen. Wir sind eine Generation, die die Pflicht hat, darauf eine Antwort zu geben.
Wie wirken sich dies auf die Praxis, insbesondere auf Ihre Praxis, und Ihre Möglichkeiten, als Architekten zu arbeiten, aus?
Alkistis Thomidou: In den letzten fünfzehn bis zwanzig Jahren waren wir mit einer rasanten Entwicklung und einem ungebremsten Wachstum konfrontiert, das enorme Ressourcen in die Stabilisierung eines kontinuierlich sterbenden Systems gesteckt hat. Das gilt unmittelbar auch für die Architekturproduktion. Dieses System hat die Zugänge verschlossen, um sich selbst zu schützen, und das macht es für junge Leute schwierig – es gibt konkrete Barrieren, die sich durch wirtschaftliche Interessen oder die Beschränkung des Zugangs zu Aufträgen erklären lassen. Es gibt aber auch eine mentale Barriere, die darin besteht, dass das alte Bild von Architekten fest in den Köpfen verankert ist und prägt. Es äußert sich auch darin, wie die Architekturkammern dieses Bild definieren und wie der Zugang zu den Kammern gewährt wird. Viele haben nicht in Deutschland studiert, sie kommen aus der ganzen Welt, aber sie leben und arbeiten hier, aber es ist nicht selbstverständlich, dass sie hier als Architekt:innen anerkannt werden. Das ist zweifelsohne ein veraltetes Bild von der heutigen Arbeitsweise, und das ist ein Problem, dem wir uns stellen müssen.
Berta Gutiérrez Casaos: Letztendlich ist es eine Frage der Kultur. Wie verstehen wir die Kunst des Raumbildens, wie öffnen wir sie für die Menschen, die sie praktizieren? Kaum einer fragt, was es bedeutet, außerhalb des Systems zu arbeiten. Wenn man sich dieser Frage nicht stellt, lässt sich nicht ein breiteres Spektrum an Praktiken in das System einbringen und es damit verändern. Als junge Generationen sehen wir, wie alte Lebensformen zerbröckeln, und wir wollen sehen, was aus der Asche wachsen kann: was unerwartet ist und was vielfältiger ist als der jetzige Zustand, der auf einem sehr engen und strikten Verständnis dessen basiert, was Architektur ist. Es geht darum, einen Rahmen für die Architektur, für Architekten zu schaffen, der Raum für die Entstehung einer neuen Praxis bietet, einen Rahmen, der verschiedene Persönlichkeiten, Wege und Schicksale aufnehmen und integrieren kann, anstatt Architektur auf neun Bauphasen zu reduzieren.
Wie geht ihr mit der Tatsache um, dass es diese harten Grenzen gibt?
Alkistis Thomidou: Ich denke nicht, dass der Titelschutz der Kammern per se ein Problem ist, das Kammersystem ist eine gute Sache. Aber die Kammern müssen sich fragen, was ihr Zweck unter den heutigen Bedingungen ist. Wollen sie die Architekt:innen schützen, das Image des Berufsstandes verändern, oder geht es um den Schutz des Marktes, der bestehenden Ordnung?
Architekt:in heute
Welche Konsequenz hat das für eure Vorstellung von Gestaltung, von Entwerfen?
Berta Gutiérrez Casaos: Uns interessiert, was „radikales Design“ heute in einem Kontext tiefer Krisen und der Erschöpfung von Leben und Natur bedeuten könnte.
Was bedeutet „radikal“ für euch in diesem Zusammenhang? Läuft man mit dem Anspruch auf Radikalität nicht Gefahr, sich dem Kontext, den Zusammenhängen zu wenig zu widmen, weil man sich außerhalb von ihnen positioniert?
Alkistis Thomidou: Ja, „radikal“ läuft wie viele andere Wörter Gefahr, zu einem Modewort zu werden, das überstrapaziert wird, so wie es bei der Nachhaltigkeit oder der so genannten grünen Architektur geschehen ist: business as usual, aber mit integrierten Solarzellen und vertikalen Gärten.
Berta Gutiérrez Casaos: Wir verwenden den Begriff „radikal“ auf eine ganz bestimmte Art und Weise, nämlich ausgehend von unserer laufenden Untersuchung „Radikale Rituale“. Radikal funktioniert hier in Beziehung zu „Ritualen“ als gebundenes Binom. Es gibt eine Kraft, die von der gesellschaftlichen Ebene ausgeht und das die Macht hat, den Raum zu verändern.
Alkistis Thomidou: Im Rahmen dieses Projekts untersuchen wir Fallstudien in ganz Europa entlang des 45. Breitengrades. Durch Exkursionen und Interaktion mit lokalen Akteuren untersuchen wir verschiedene Praktiken des gemeinsamen Handelns, die globale Herausforderungen mit dem Fokus der Gemeinschaft und des Territoriums angehen. Diese Praktiken können insofern als Rituale verstanden werden, als sie es diesen Gemeinschaften ermöglichen, zu wachsen und sich zu etablieren und somit ihren Mitgliedern die Möglichkeit geben, auf die Zumutungen des Alltags zu reagieren. Wir nennen diese Rituale radikal, weil sie auf mögliche Veränderungen und einen potenziellen neuen Zustand der Dinge hinweisen könnten.
Berta Gutiérrez Casaos: So entsteht eine Kraft, die von der gesellschaftlichen Ebene ausgeht und den Raum verändern kann.
Könnt ihr etwas veranschaulichen, was das für den räumlichen Kontext bedeutet, in dem ihr arbeitet?
Berta Gutiérrez Casaos: In diesem Zusammenhang sprechen wir nicht von Stadtplanung oder Architektur, sondern von räumlichen Praktiken und von den vielen Akteur:innen, die den Raum gestalten und formen. Wir interessieren uns für diese Beziehungen zwischen Menschen, einschließlich nicht-menschlicher Akteure und anthropogener Effekte, und wir betrachten sie maßstabsübergreifend. Diese ganzheitliche Betrachtungsweise des Raums ist für uns wichtig, damit wir uns andere Wege, Formen, Plattformen und andere Gemeinschaften vorstellen können. Wir befinden uns in einem schwierigen politischen und sozialen Kontext, in dem der Raum immer exklusiver und privatisierter wird und in dem die Kontrolle über Körper und Gesellschaften erheblich zugenommen hat. Wir setzen uns dafür ein, dass es in diesem bedrohlichen Kontext viele Möglichkeiten gibt, sich dieser Kontrolle zu entziehen; vielleicht wäre es heute radikal, die extrem überhöhten Mieten in unseren Städten nicht mehr zu zahlen, damit die Menschen gerechtere Lebensbedingungen aushandeln und die Regeln des Marktes überwinden können.
Alkistis Thomidou: Letztlich geht es uns immer darum, welche Bedingungen in den Sätdten notwendig sind, um Möglichkeiten der Selbstorganisation und eine Art von alltäglichem Erfindungsreichtum zu schaffen, der sich von gegebenen Bedingungen befreit. Wie schaffen Menschen durch spontane Aneignung räumliche Konfigurationen, erfinden Werkzeuge zur Entwicklung hybrider räumlicher und organisatorischer Typologien, die räumliche Handlungsfähigkeit veranschaulichen und vor allem ausüben. Und was können wir von ihnen lernen?
Kontexte schaffen
Berta Gutiérrez Casaos: Wir haben schnell erkannt, dass Lösungen nicht allein durch Gestaltung entstehen. Es geht nicht darum, Orte zu entwerfen oder sie zu reparieren oder Lösungen zu finden, was immer mit einer Sicht von außen voraussetzt, dass es an diesem Ort ein Problem gibt. Stattdessen wollten wir von den Lebensformen lernen, die im Alltag verwurzelt sind, die teilweise schon seit Jahrhunderten existieren oder die sich als zutiefst transformative Paradigmen herausbilden. Wir haben auch persönliche Erfahrungen mit den Kämpfen, die in diesen Räume stattfinden, wo sich Konflikte schnell auf die Politik des Raums auswirken. Durch diese Überschneidung von Raum und Politik wird das theoretische Feld rasch erweitert.
Gibt es Vorbilder oder Referenzen, auf die sich Ihre Arbeit stützt?
Alkistis Thomidou: Nun, wie wir bereits erklärt haben, ist die Welt, wie sie ist, mit ihren vielen Akteur:innen und Orten unser Leitbild. Aber ansonsten greifen wir oft auf Arbeiten aus den 1970er und 80er-Jahren in verschiedenen Disziplinen zurück. Die radikale Architekturbewegung in Italien zum Beispiel hat Fragen aufgeworfen, die auch heute noch relevant sind, obwohl diese Fragen oft übersehen werden. Für uns ist es von entscheidender Bedeutung, zu dieser Zeit vor der Hyperentwicklung des Neoliberalismus zurückzukehren, da sie Spuren fantasievoller Thesen enthält, die in verschiedenen Formen zum Ausdruck kommen.
Berta Gutiérrez Casaos: Wir lassen uns von einem breiten Spektrum kreativer praktizierender Menschen inspirieren, nicht nur im Bereich der Architektur, sondern auch in der Kunst, Wissenschaft, Philosophie und Politikwissenschaft. Besonders inspiriert sind wir von Künstlern, die an der Schnittstelle zwischen Kunst und Architektur arbeiten und die konventionellen Ansichten über die architektonische Praxis in Frage stellen. Persönlichkeiten wie Isa Genzken, Michel Asher und Judy Chicago, um nur einige zu nennen. Aber auch zeitgenössische Denker wie Marina Otero Vreizer oder Tim Ingold.
Wie würden Sie Ihre Arbeitsweise beschreiben?
Alkistis Thomidou: Durch interdisziplinäre Zusammenarbeit und einen mehrstufigen Ansatz über verschiedene räumliche Maßstäbe hinweg versuchen wir, Rahmen und Kontexte zu schaffen und nicht nur fest gebaute Räume. Unsere Arbeit geht über den architektonischen Maßstab oder den Maßstab von Objekten hinaus und bezieht Überlegungen zu physischen, sozialen und wirtschaftlichen Dimensionen mit ein. Als Team arbeiten wir sowohl innerhalb als auch außerhalb von forty five degrees zusammen und bringen so unterschiedliche Erfahrungen und Fachkenntnisse auf komplementäre Weise zusammen. Darüber hinaus arbeiten wir mit anderen Experten zusammen, um uns an den Umfang des jeweiligen Projekts anzupassen. Zurzeit arbeiten wir beispielsweise mit einem Akustik-Ingenieurbüro an der Realisierung von Musikstudios für eine Berliner Kreativagentur zusammen.
Berta Gutiérrez Casaos: Für uns ist es immer wichtig darüber nachzudenken, wie wir Verbindungen herstellen können. Ein Beispiel dafür sind die Installationen, die wir für das 30-jährige Jubiläum der KW Institute for Contemporary Art entwickelt haben. Trotz des knappen Budgets war es das Ziel unseres Projekts, mobile Infrastrukturen und andere Elemente zu entwickeln, die den Raum nicht dauerhaft umgestalten, sondern die Nutzung im Freien ermöglichen. Diese flexiblen Installationen sollten zur Interaktion und zum Spielen einladen. In Anbetracht des begrenzten Lagerraums der Einrichtung planten wir die Installation so, dass sie auch über das lange Festwochenende hinaus genutzt werden kann. Sie sollte multifunktional sein, für verschiedene Zwecke genutzt werden können und offen für unterschiedliche Interpretationen sein.
Alkistis Thomidou: Letztlich werden wir in Forschung, Pädagogik und Praxis – sei es szenografisch, architektonisch oder konzeptionell – von der Frage angetrieben, was Architektur heute ist und welche Rolle die Gestaltung dabei spielen kann, und wie sie dazu beitragen kann, Projekte für den gesellschaftlichen Wandel zu forcieren. Diese Fragestellung hat uns zusammengebracht, uns eint der Glauben an den Raum als Ermöglicher des Lebens über verschiedene Medien und Kontexte hinweg.
forty five degrees ist ein internationales kollaboratives Büro für Forschung und Design. Es wurde 2019 von Alkistis Thomidou, Berta Gutiérrez Casaos und Giulia Domeniconi gegründet. Das Büro hinterfragt aktuelle räumliche Praktiken und sucht dafür nach neuen Methoden, Ressourcen und Mitteln. Durch Forschung, Design und künstlerische Experimente analysieren forty five degrees physische, soziale und wirtschaftliche Verflechtungen und Abhängigkeiten. Die Mitglieder von forty five degrees sind fasziniert vom Erfindungsreichtum des Alltags, denken über alternative Modelle des Wohnens in der Welt nach, engagieren sich in Gemeinschaften und Netzwerken und verschieben die Grenzen räumlicher Disziplinen. Sie streben danach, durch sorgfältige Arbeit mit Maßstab, Materialien und Gestaltung integrative und zugängliche Räume zu schaffen.
https://www.forty-five-degrees.com/
Das Interview haben Lena Engelfried, Hanna Noller und Christian Holl am 3. Mai 2024 auf englisch geführt.
Die englische Version des Interviews ist hier zu finden >>>