Mit Dietmar Steiner verliert die Welt einen nimmermüden, starken Kämpfer für eine ökologisch und sozial gerechtfertigte Architektur. Als Autor, Juror, Vortragender und auch als Leiter des Architekturzentrums in Wien wird er als derjenige in Erinnerung bleiben, der Architektur- und Stadtentwicklung tatsächlich zu beeinflussen wusste – mit klarer Haltung, deutlichen Worten und nicht nachlassenden Zivilcourage.
Es bedrückt und hinterlässt Beklemmung, wenn einen Weggefährten verlassen. Jetzt also Dietmar Steiner. Ich lernte ihn kennen, als ich Anfang der 1980er Jahre bei der Bauwelt an der Ausgabe „Wiener Klima“ arbeitete.1) Dietmar Steiner – wir siezten uns zunächst ordentlich – hatte mir zur Vorbereitung ein Paket seiner in der Wiener Presse und in der Zeitschrift archithese erschienenen Artikel geschickt. Das erleichterte die Arbeit. Allerdings lag damit die Latte ziemlich hoch, denn der Autor begleitete seine Gaben mit dem Hinweis: „Mit einem schnellen Heft ist Wien noch lange nicht erledigt… Das preußische Zündnadelgewehr wird uns kein zweites Königgrätz bescheren…“ Es war die Warnung eines Ortskundigen, dessen Liebe zu seiner Stadt sich in kritischer Kenntnisnahme äußerte und der erwartete, dass ein aus Berlin anreisender Redakteur erst einmal den Wiener Diskurs aus „Zwischentönen und Andeutungen“ begreift.
Dann trafen wir uns das erste Mal. Dietmar Steiner mit Dreitagebart und Hut steckte in einer Art Anzug, darunter ein knittriges Hemd mit Krawatte. Wie alt mochte der Kollege sein? Diese Frage konnte man auch später nicht schlüssig beantworten, denn der schmächtige Mann kam nie in Jeans und Lederjacke, sondern bevorzugte ein altmodisches Habit, wie es Spätheimkehrer nach dem Krieg trugen.
Damals arbeitete er hauptsächlich journalistisch (bisweilen unter Pseudonym), kümmerte sich um Friedrich Achleitners Archiv „Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert“, lehrte bis 1989 an der Hochschule für angewandte Kunst und diente der Österreichischen Gesellschaft für Architektur als Generalsekretär. Auch beim Nobelmagazin domus sammelte er seine Meriten, hatte jedoch allmählich begriffen, dass er damit einen „Verwertungsmechanismus“ unterstützte. Architekturkritik, fand er, war zu einem Beitrag für die „massenmediale Kulturindustrie“ verkommen. Mit ihren bildlastigen „Architekturpornos“ trug sie zur Popularität der Stars bei, selbst ein Verriss schadete nicht. Und Steiner resignierte: „Das sogenannte Urteil des Kritikers ist unerheblich. […] Deshalb möge der Kritiker der Architektur das Feld des konkreten Kommentars des konkreten Ereignisses verlassen und sich im Hintergrund kraft seiner Reputation vornehmlich damit beschäftigen, dass heutzutage Architektur überhaupt noch stattfinden darf.“2) Im selben Jahr durfte er seine Empfehlung beispielhaft umsetzen: als Gründungsdirektor des Architekturzentrum Wien AZW, das er bis 2016 geleitet hat.
Von hier aus stand ihm die Architekturwelt offen, in seiner Umgebung konnte man die Spitzen der Regierung treffen, zum Beispiel Erhard Busek. Er half uns Schreibern mit Hintergrundinformationen, machte mit den richtigen Leuten bekannt und besorgte auch mal eine Schlafgelegenheit, wenn das Redaktionsbudget erschöpft war. Dietmar Steiner war vernetzt, als man Internet und Handy noch als futuristische Gags betrachtete. Und vor allem war er vor Ort, wobei er ausgetretene Pfade mied und sich besonders für die Architektur Osteuropas interessierte. Richtig, sagte der Piefke, in Wien beginnt der Balkan. Aber für solche Großkritiker hatte Dietmar Steiner den Merksatz parat: „Wie brauchen die Deutschen, aber wir lieben sie nicht.“
Neben seiner Arbeit im AZW übernahm er Funktionen im internationalen Maßstab: als Kommissar der Architekturbiennale in Venedig, beim Mies van der Rohe Award, als Präsident des Weltverbandes der Architekturmuseen ICAM oder im Qualitätsbeirat für Sozialen Wohnbau in Wien. Wie er das alles schaffte? Er genoss eine strapaziöse Lebensbewältigung. Man traf ihn in einem Beisl, er rauchte und trank und diskutierte, ließ spätnachts die derangierten Freunde zurück, ging nach Hause und schrieb einen Vortrag, den er gleich am nächsten Tag halten sollte. Natürlich kam er rechtzeitig los, fuhr mit seinem alten Honda nach Salzburg oder Bozen und war am nächsten Abend pünktlich zurück, um den verkaterten Kollegen Bericht zu erstatten. Architektur war sein Lebensmittel.
1981 schrieb er hellsichtig in einem Essay für Lotus: „Ich bin überzeugt, dass die Tendenz der nächsten Jahre vom Verschleiß der vordergründigen Überraschung und der historischen Frivolität geprägt sein wird.“ Mittlerweile suchte er die „stille Architektur“, die gesellschaftliche Bedeutung des Bauens, sozialverträgliche, ressourcenschonend entwickelte Stadträume mit Häusern ohne technologischen Modernismus. Ihm war jeder Glamour fremd. Er verkörperte diese Haltung auch äußerlich, wenn man ihm begegnete, hätte man nicht sagen können, welches Jahrzehnt man gerade schreibt. Als er sich 2014 im Otto-Wagner-Spital im Steinhof (und später im Lungen-Sanatorium Hochegg) auskurierte, wirkte er zerbrechlich, füllte aber Facebook in ungebrochener Lebenslust mit seinen Gedanken. Er pflegte ein eindeutiges Urteil über prominente Zeitgenossen und äußerte es ungeniert. Nach seiner Genesung erhielt er nur eine Zugabe von wenigen Jahren. Bereits erneut erkrankt und in der Klinik rezensierte er für die Bauwelt noch mein Buch, das sich unseres Metiers angenommen hatte.3) Das wird sich beim nächsten nicht mehr wiederholen können. Dietmar Steiner starb am 15. Mai nach einer Herz-Operation.
1) Dietmar Steiner: Wiener Klima. In: Bauwelt 6/7-1985
2) ders.: The Beauty and the Beast. In: Baumeister, 2/1993
3) https://www.bauwelt.de/rubriken/buecher/Alles-Geier-Eine-Farce-ueber-Architektur-eine-Zeitschrift-und-einen-Verlag-3399104.html
Ein einstündiges Gespräch mit Dietmar Steiner 2016: https://www.youtube.com/watch?v=dyTGHO3Io-k