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Exzentrisches Eremitentum


William Beckford, Erbe eines riesigen Vermögens und in jungen Jahren Autor schauriger, orientalischer Märchengeschichten, durfte sich im England des ausgehenden 18. Jahrhunderts durchaus berechtigte Hoffnungen auf eine glänzende gesellschaftliche Karriere machen, bis ihm das homoerotische Verhältnis zu einem jungen Mann zum Verhängnis wurde. Vor dem Hass der Gesellschaft flüchtete sich Beckford in eine Traumwelt und wurde zum Bauherrn eines der seltsamsten und rätselhaftesten Wohnhäuser der englischen Architekturgeschichte. 

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Gäbe es nicht die unzähligen Stiche und zeitgenössischen Baubeschreibungen, die glaubhaft von ihrer Existenz zeugten, könnte man Fonthill Abbey für eine reine Erfindung der Geschichte halten. Bild aus: Delineations of Fonthill and its abbey by John Rutter, 1823

Hier muss es sein! Die flache, kaum hüfthohe Mauer, die uns schon seit einigen Kilometern begleitet, bricht plötzlich ab, und von der schmalen Waldstraße zweigt unvermittelt eine lange, schnurgerade Allee ab. Es ist die Great Western Avenue. Einen Kilometer führt sie, immer geradeaus, mitten in den Wald hinein. Es ist das letzte Stück unserer Reise, die vor zwei Stunden in London begann. Knapp 100 Meilen, 160 Kilometer, Fahrt durch die sanft gewellte, südenglische Landschaft liegen hinter uns. Wir sind in der Grafschaft Wiltshire im Südwesten der Insel. Stonehenge liegt eine halbe Autostunde entfernt, genauso wie die Stadt Salisbury mit ihrer berühmten gotischen Kathedrale, deren Erbauern Ken Follett mit seinem Roman „Die Säulen der Erde“ vor dreißig Jahren ein fulminantes Denkmal setzte. Auch wir sind auf einer literarischen Spurensuche, haben Salisbury und Follett jedoch links beziehungsweise südlich liegen gelassen. Stattdessen führte unser Weg in das Dorf Fonthill Gifford – ein paar Häuser, eine Kirche, knapp 100 Einwohner –, in dem 1760 der Schriftsteller William Beckford das Licht der Welt erblickte. Er war der Erbe eines für die damalige Zeit schier unermesslichen Vermögens, das seine Familie durch die Ausbeutung riesiger Zuckerrohrplantagen in den britischen Überseekolonien und zum Teil durch den Handel mit Sklaven erwirtschaftet hatte. Umfassend gebildet, gelang Beckford bereits in jungen Jahren der Durchbruch als Schriftsteller. Als sein Hauptwerk gilt der Roman „Vathek“, geschrieben mit 21 Jahren, der Legende nach in nur drei Tagen, wie im Rausch, halb Schauermärchen, halb faustische Tragödie, angesiedelt im Orient und in seiner ganzen Stimmung verwandt mit den magischen Erzählungen aus „Tausendundeiner Nacht“, die damals überall in Europa in Mode waren. Lord Byron, Edgar Allen Poe und noch Jorge Luis Borges ließen sich später von Beckfords Erzählung inspirieren. Die Literaturwissenschaften sprechen heute von einem Frühwerk der Schwarzen Romantik, einer klassischen Gothic Novel. Doch zurück auf die Great Western Avenue, den letzten Teil unserer Reise, die nun nach einem Kilometer mitten im Wald abrupt in einer weiten Lichtung endet. Hier muss er gestanden haben: Beckfords legendärer Palast, seine Kathedrale, sein persönlicher Turmbau zu Babel.

Die überspannte Illusion einer einsamen gotischen Abtei

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Was von Fonthill Abbey übrig geblieben ist, sind die äußersten Räume des Nordflügels. (Am linken Rand des oben abgebildeten Stiches) Bild: © Rictor Norton & David Allen

Kaum vorstellbar ist es heute, dass hier, in the middle of nowhere, einst ein gigantischer Baukomplex mit seiner höchsten Spitze 90 Meter in den Himmel hoch ragte. Gäbe es nicht die Gemälde von William Turner, die unzähligen Stichwerke und zeitgenössischen Baubeschreibungen, die glaubhaft von ihrer Existenz zeugten – wir hielten Fonthill Abbey, wie Beckford sein groteskes Zuhause nannte, für eine reine Erfindung der Geschichte. Am Ort selbst jedenfalls finden sich kaum noch Spuren davon: ein kleiner, quadratischer Turm, daran angesetzt ein kurzes Stück Langhaus mit einem sechseckigen Chorabschluss, daneben der Rest eines Kreuzgangs. Alles macht den Anschein, als könnte es sich um eine verlassene, alte Dorfkirche handeln, die hier seit dem Mittelalter steht. Vergleicht man den Bau jedoch mit den Zeichnungen, die uns von Fonthill Abbey überliefert sind, entpuppt sich das romantische Gemäuer, das einsam am Rande der weiten Lichtung steht, als ein letztes erhalten gebliebenes Teilstück von Beckfords bizarrem Landsitz. Niemand Geringerer als James Wyatt, der Star-Architekt seiner Zeit, war für den ursprünglichen Bau verantwortlich. Im Auftrag von Beckford errichtete er über einem Kreuzgrundriss mit vier annähernd gleichlangen Armen die überspannte Illusion einer einsamen gotischen Abtei im Wald. Wo die vier Kreuzarme aufeinander trafen, ragte ein achteckiger Turm 300 Fuß (etwa 91,50 Meter) zum Himmel hinauf. Das untere Drittel seines Schaftes barg mit dem so genannten Oktagon die eindrucksvollste Raumschöpfung des Architekten. Von mächtigen Pfeilern umstanden, reichte der Raum fast 24 Meter beziehungsweise sechs Geschosse in die Höhe und bildete das Zentrum der gesamten Anlage. Nach Osten lagen die Sammlungsräume. Hier beherbergte Beckford eine der stattlichsten privaten Kunstsammlungen, die das englische Königreich jemals besaß. Dazu kamen kostbare Bücher und zahllose Antiquitäten. Südlich des Oktagons erstreckte sich wiederum eine von einem zarten Fächergewölbe überspannte Galerie, die dem Heiligen Michael gewidmet war, während sich nach Norden die von einer goldenen Kassettendecke überfangene Galerie zu Ehren König Edwards öffnete. Sie führte einst in die als Sanctuary und Oratory bezeichneten, äußersten Räume des Nordflügels, die zusammen mit dem sich seitlich anschließenden Treppenhausturm das oben beschriebene, noch heute erhaltene Relikt von Fonthill Abbey bilden. Der vierte, nach Westen gerichtete Kreuzarm wiederum diente allein der Inszenierung des Ankommens. Nachdem der Besucher ein mehr als zehn Meter hohes Portal durchschritten hatte, öffnete sich vor ihm ein einziger hoher und weiter Kathedralraum, die Great Western Hall, an deren Ende eine breite Treppe in das zentrale Oktagon hinauf führte. Um den Eindruck gewaltiger Größe und Höhe noch zu steigern, beschäftigte Beckford einen zwergwüchsigen Diener, zu dessen Aufgaben es gehörte, Besucher an der schweren Eichenholztür des Westflügels zu empfangen.


Den missgünstigen Blicken der Welt entzogen

Aber nicht nur das Gebäude selbst ließ Beckford nach seinen Vorstellungen von märchenhafter Größe und Prachtentfaltung gestalten, sondern auch die umgebende Landschaft hatte sich dem ebenso fantastischen wie fanatischen Gestaltungswillen des Literaten unterzuordnen. So ließ er etwa einen künstlichen See anlegen und beschäftigte ein Heer von Gärtnern, die sich um die Ansiedlung und Pflege zahlloser exotischer Gewächse zu kümmern hatten. Zu guter Letzt umgab der Bauherr sein artifizielles Paradies mit einer Mauer – dreieinhalb Meter hoch und insgesamt elf Kilometer lang –, deren Überreste man noch heute entlang der Zufahrtsstraße findet. Früher schirmte sie Beckfords Abtei hermetisch gegen die Außenwelt ab. Nur wenigen Menschen war der Zutritt gestattet. Vor allem Künstlern wie Turner und Constable öffnete Beckford seine Welt, der britische Thronfolger hingegen, der Fonthill Abbey dringend zu sehen wünschte, wurde abgewiesen. Überhaupt hielt Beckford Abstand zu den gesellschaftlichen Eliten seiner Zeit.

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Block von der Great Western Hall in die Landschaft. Bild aus: Graphical and literary illustrations of Fonthill abbey by John Britton, 1823

Das war nicht immer so: Der jungen Beckford konnte sich aufgrund seiner Herkunft, seiner ausgezeichneten Bildung und letztlich seines immensen Vermögens durchaus berechtigte Hoffnungen auf eine glänzende gesellschaftliche, politische und literarische Karriere machen und war einer entsprechenden Entwicklung auch nicht abgeneigt. Im Jahr 1784 wurde ihm jedoch eine homoerotische Beziehung mit dem um acht Jahre jüngeren William Courtenay zum Verhängnis. Als diese durch Zufall entdeckt wird, beginnt eine beispiellose Hetzkampagne. Die Presse berichtet, Freunde nehmen Abstand, und Beckford wird von der Gesellschaft verstoßen. Er verlässt England und lässt sich für die nächsten zehn Jahre am Genfer See in der Schweiz nieder. Als er Mitte der 1790er-Jahre auf die Insel zurückkehrt, mag der Skandal vergessen sein. Aber Beckford hat nicht vergessen, wie er behandelt wurde. Im Exil hat er einen Plan geschmiedet. Er wird sein Vaterhaus abreißen lassen und sich im Wald seine eigene, abgeschlossene Welt bauen. Niemand wird ihn hier stören. Eine Mauer wird ungebetene Besucher abhalten und sein Tun den missgünstigen Blicken der Welt entziehen. Zuletzt wird ein Turm ihn über seine verhassten Mitmenschen erheben: Der Bau von Fonthill Abbey beginnt!

Die artifizielle Traumwelt eines modernen Ästheten
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Es ist ein exzentrisches, dekadentes Eremitentum, das William Beckford in Fonthill Abbey zelebriert. Bild aus: Graphical and literary illustrations of Fonthill abbey by John Britton, 1823

1812 sind die Arbeiten abgeschlossen. Mehr als 500 Handwerker waren oft gleichzeitig mit dem Bau beschäftigt. Und auch nach der Fertigstellung mussten viele Angestellte das Gebäude und die umgebenden Gärten unterhalten. Zudem hält sich Beckford einen kleinen Hofstaat, der vornehmlich aus jungen, attraktiven Männern der Mittelschicht besteht. In Briefen nennt er sie andeutungsvoll seinen Bijou, seinen Ambrose, seinen Poupee oder – ganz unmissverständlich – seine Miss Butterfly. Es ist ein exzentrisches, dekadentes Eremitentum, das Beckford in Fonthill lebt, prunkvoll eingerichtet, umgeben von Kunstwerken und exquisiten Sammlungen und begleitet von einer verwöhnten Entourage junger, hübscher Günstlinge. Beckford lebt das Leben eines modernen Ästheten und liefert damit noch hundert Jahre später eine Blaupause für die homophilen Charakterzeichnungen der Décadence – etwa für Oscar Wildes „Dorian Gray“ oder die Figur des Jean des Esseintes aus Joris-Karl Huysmans Roman „Gegen den Strich“. Ein anderer Verwandter im Geiste wie im Schicksal war der legendäre Bayernkönig Ludwig II. Auch er geriet – mehr an den Stallburschen als an den Damen seines Hofes interessiert – im Laufe seiner Regentschaft immer stärker in Konflikt mit den moralischen Vorstellungen seiner Zeit und seiner Gesellschaft.

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Neuschwanstein – ebenfalls eine übersteigerte Traumwelt. Bild: historische Postkarte, © Library of Congress, Prints and Photographs Division

Und auch er flüchtete sich davor in sein eigenes, einsames Exil: Schloss Neuschwanstein, das er auf einem unwegsamen Felsen im bayrischen Voralpenland errichten ließ und das, wie schon Beckfords Abtei, im Grunde zwar einem asketischen, mittelalterlichen Modell – dem der Burg – folgte, letztlich aber genauso wie Fonthill Abbey als hoch artifizielle, vollkommen übersteigerte Traumwelt Realität gewann. Und wie schon Beckford ein halbes Jahrhundert vor ihm übernahm sich auch König Ludwig II. mit den Bau- und Unterhaltskosten seines Märchenschlosses. Die horrenden Summen, die er in Neuschwanstein steckte, kosteten den Monarchen am Ende sein Amt. Auch Beckford war mit der Finanzierung seines gigantomanen eskapistischen Unterfangens gescheitert, im Untergang bewies er allerdings weitaus mehr Geschick und Witz als der Bayernkönig.

Das letzte Spektakel von Fonthill Abbey

Napoleons Kontinentalsperre, die zwischen 1806 und 1811 britische Erzeugnisse vom europäischen Markt abschnitt, sowie das 1807 von Großbritannien erlassene Gesetz zum Verbot des Sklavenhandels versetzten den Geschäften von Beckfords Familie nach 1800 schwere Schläge. Dazu kam die Erfindung moderner Industrieverfahren zur Zuckergewinnung aus heimischen Rüben, was die jährliche Apanage aus dem Zuckerhandel noch einmal dramatisch sinken ließ. Damit wurde es für Beckford immer schwieriger, den kostspieligen Unterhalt von Fonthill Abbey zu finanzieren. 1822 entschied er sich deshalb für einen Verkauf des Anwesens. Zudem ließ er Teile seiner Kunstsammlungen versteigern. Dass er sich und seinen Besitz jahrelang vor der Öffentlichkeit verborgen hatte, konnte Beckford nun für einen letzten großen Coup nutzen. Denn schon die Ankündigung der Versteigerung verbreitete sich wie ein Lauffeuer im ganzen Land. Immer wieder hatte es Berichte über Beckfords ominöse Bautätigkeit und sein geheimes Leben im Wald von Fonthill Gifford gegeben. Nun wollten alle – Feinde wie Freunde – sehen, wie der „Foul of Fonthill“ lebte. Beckford hatte mit diesem Interesse gerechnet und ließ vorab einen Katalog seiner zu versteigernden Sammlungen produzieren. Mehr als 70.000 Exemplare wurden davon binnen weniger Wochen verkauft. Zudem öffnete er nun erstmals die Tore zu Fonthill Abbey und nahm von jedem Interessierten ein ordentliches Eintrittsgeld. Er selbst allerdings verließ noch vor der Versteigerung seinen Besitz in einer Kutsche in Richtung Bath, seiner neuen Heimat, und überließ alles weitere dem Auktionshaus Christie’s. Allein das Gebäude und seine Umgebung gingen für die spektakuläre Summe von 330.000 Pfund in den Besitz des Schießpulver-Fabrikanten John Farquhar über. Dieser Erfolg erlaubte Beckford bis zu seinem Tod im Jahr 1844 einen nicht weniger aufwendigen Lebensstil, als er ihn von Fonthill Abbey gewohnt war.

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Der Preis der Eile: 1825 stürzte der Turm der Abtei in sich zusammen. Bild: Ruins of the Fonthill Abbey by John Buckler, © Trustees of the British Museum

Für Farquhar allerdings sollte sich das Geschäft schon bald als große Fehlinvestition erweisen: Denn schon drei Jahre nach dem Kauf stürzte am 21. Dezember 1825 der Turm der Abtei in sich zusammen und begrub weite Teile des Gebäudes unter sich. So rächte sich schließlich die Eile, mit der Beckford den Bau betrieben hatte und mit der er seinen Architekten immer wieder zu noch gewagteren Konstruktionen drängte. Als Beckford von dem Einsturz hörte, bedauerte er – ganz englischer Exzentriker, der er war! – weniger die Vernichtung seines Lebenswerkes, als vielmehr den Umstand, dieses letzte und vielleicht größte Spektakel von Fonthill Abbey verpasst zu haben.


Veranstaltung zum Thema
Orte der Begegnung – Orte des Widerstands
Geschichte homosexueller, trans*geschlechtlicher und queerer Räume
1. Dezember – 3. Dezember, Akademie Waldschlösschen, Gleichen-Reinhausen bei Göttingen
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