Von Anfang prägte die Begegnung von Menschen das Engagement von Kristin Feireiss und der leider früh aus dem Leben gerissenen Helga Retzer – und inzwischen dem vielseitig tätigen Hans-Jürgen Commerell. Doch der Blick in die Zukunft ermutigt: Was bei Aedes gezeigt, durchdacht, beredet und in die Öffentlichkeit getragen wird, bereichert die Architekturdebatten seit vier Jahrzehnten in einzigartiger Intensität.
Ausgerechnet im Jubiläumsjahr von Aedes wird die direkte Begegnung von Menschen durch das Corona-Virus quälend schwer gemacht. Kristin Feireiss, die von Anfang an und über Jahrzehnte die prägende Kraft für Aedes ist, lebt von und mit Begegnungen, in denen an der Schnittstelle zwischen Architekturentwicklungen und betroffener Öffentlichkeit Themen erkannt und ausgelotet werden. 1)
Das Studium der Kunstgeschichte in Kombination mit Philosophie ließe sich als ideales Rüstzeug für diese Arbeit deuten: Akribisches Sehenlernen (in der Kunstgeschichte) und Hinterfragen des Wahrgenommenen (in der Philosophie) bieten die Erklärung dafür, dass die anschließend im Journalismus tätige Kristin Feireiss wusste: Architekturthemen gehören in die Öffentlichkeit. Nicht als ästhetisch autonomes Phänomen, sondern als Ergebnis komplexer, gesellschaftsrelevanter Prozesse.
Aller Anfang ist leicht
Nach journalistischer Arbeit bei einer Frankfurter Tageszeitung und in Berlin beim Springer-Inlanddienst hatte sie ebenda gekündigt und arbeitete im Anschluss unter anderem bei einer Abendzeitung und beim Rundfunk. 1980 gründete sie mit ihrer Freundin Helga Retzer in der Berliner Grolmannstraße eine kleine Architekturgalerie: eine Art Freizeit-Experiment, das aber von unumstößlicher Überzeugung getragen war – und bis heute ist. Sie war die erste.
Zwei Jahre später wurden in München eine Architekturgalerie 2) und in Stuttgart die Weißenhofgalerie gegründet,3) 1984 konnte dann das von Ungers gebaute und von Heinrich Klotz konzipierte und geleitete Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt eröffnet werden.4) 1989 hatte Winfried Nerdinger im Hinblick auf neue Museumsräume die Architektursammlung der TUM mit Anspruch auf öffentliche Aufmerksamkeit in „Architekturmuseum der TUM“ umbenannt.5) Früher als die Vertreter des Berufstandes erkannten diese Gründungspioniere der 1980er Jahre die Rolle der Architekturvermittlung – weit entfernt allerdings von der Architekturkritik, um die es weder da noch dort ging.
Postmoderne IBA-Zeiten
Die 1980er Jahre: Die Postmoderne war – propagiert von Heinrich Klotz, dem Gründungsdirektor des DAM in Frankfurt – von den USA nach Deutschland geschwappt, und sie fand in Berlin mit der IBA (1978-87) einen kleinen Hafen. Ihren Direktoren Josef Paul Kleihues und Hardt-Waltherr Hämer gelang es, Architektur zu ungewohnter öffentlicher Aufmerksamkeit zu verhelfen – aus sehr unterschiedlichen Intentionen heraus: bei Kleihues formalistische, bei Hämer sozioökonomische und politische.
Bei Aedes wurde avant la lettre derweil viel Neues ausgestellt, wobei die Architekturzeichnung nie als Kunstgattung, sondern als prozessbegleitende Notation gezeigt wurde. Was in New York zu dieser Zeit vom Galeristen Max Protech im Hinblick auf den Verkaufserfolg einer Architekturgalerie fröhliche Urständ feierte, kam bei Aedes nicht infrage.6) Statt wie Protech Preislisten auszulegen und Architekturzeichnungen als Kunstwerke zu verkaufen, wurden die ersten Aedes-Kataloge gedruckt und verkauft. Bis heute sind fast 500 davon erschienen.
Vermittlung und Kritik
Kristin Feireiss ist keine Architekturkritikerin, sondern begeistert sich mit bemerkenswerter Neugier dafür, was in den vielen Bereichen von Architektur- und Stadtentwicklung alles gedacht und gemacht wird – und werden könnte. Gelegentlich ist dann auch zu sehen, welche Alternativen es zu realen Entwicklungen gegeben hat. Zum Entwurf gehört er nun mal: der Gegenentwurf. Es gehört dazu, sich die Welt anders vorzustellen als sie ist oder als sie geplant wird.
Was Aedes zeigt, ist einer subjektiven Auswahl von ihr, Hans Jürgen Commerell und anderen Aedes-MitarbeiterInnen zuzuschreiben. Und immer sind es Entdeckungen, die den Weg in die Galerie lohnen, die von der Grolmannstraße in einen S-Bahn-Bogen am Savigny-Platz zog, in den Hackeschen Höfen und am Pfefferberg präsent ist – dort neben einem Ort, an dem Sergei Tchoban sein Museum für Architekturzeichnung gebaut hat und mit herausragenden Ausstellungen die Architekturzeichnung nahe am Kunstwerk positioniert. Derzeit läuft dort eine Ausstellung mit skulpturalen Zeichnungen von Thom Mayne – auch er war mit seinen Architekturvorstellungen bei Aedes zu sehen gewesen.
Längst wird die Aufmerksamkeit weit über die Grenzen, viel auch in Richtung Fernost und nach Skandinavien gelenkt. Orientierung im globalen Architekturzirkus ist kaum anders zu bewältigen als im klaren Bekenntnis zur subjektiven Auswahl, die sich auch in einer Städte-Präsentationsreihe manifestert.
Wovon leben?
Von dem gut bezahlten Interimsjob der fünfjährigen Leitung des NAI in Rotterdam abgesehen, gab es für Feireiss und Aedes kein gesichertes, regelmäßiges Einkommen. Start-up mit Buisiness-Plan kannte man in den 1980er Jahren nicht – mehr noch: Beim Gedanken an den schnöden Mammon rümpfte man die Nase. Zwar ist Kristin Feireiss Sprössling der wohlhabenden Neckermann-Familie, Josef war ihr Onkel und hatte sie nach dem Tod der Eltern aufgenommen, ihr aber nichts vermacht. Warme Worte findet sie nur für ihre Großmutter, das alles lässt sich in ihrer 2012 erschienenen Familiengeschichte nachlesen.7)
Jahrzehnte im Vermittlungsmetier, ist Kristin Feireiss inzwischen auch in bezahlten Jurys und Preiskuratorien tätig, unter anderem im Gremium des Pritzker-Preises. Und irgendwie funktionierte die Querfinanzierung von Aedes sowieso immer.
Corona …
Sicher, Corona zeitigt jetzt wie für alle Einrichtungen, die auf die Begegnung von Menschen angewiesen sind, einen Schock. Aber dass digitale Vermittlungsmöglichkeiten zu nutzen sind, ist nicht die Frage, sondern nur: wie? Mit Filmpräsentationen, geänderten Öffnungszeiten, Führungen und vielem mehr ging das alles, aber trotzdem wird gerade Aedes nicht nur das Stand-, sondern auch das Spielbein verletzt. Man kann wie überall sonst nur hoffen, dass die Corona-bedingten Abstandszeiten bald vorbei sind.
Persönliche Rückschläge sind zu erwähnen: Kristin Feireiss verlor mit fünf Jahren ihre Eltern und einen Bruder, die bei einem Autounfall ums Leben kamen. Und auch Helga Retzer wurde nur vier Jahre, nachdem beide den riskanten Schritt in die Architekturvermittlung gewagt hatten, aus dem Leben gerissen. Aber Kristin Feireiss ist den Mitmenschen zugewandt und hat mit dieser Eigen- und Leidenschaft immer wieder Menschen im Interesse der Baukultur zusammengebracht. Davon zeugt ein Jubiläumsbuch, das wie ein Fotoalbum alle im Gedächtnis hält, die beteiligt waren, mitgemacht haben, sich begeistern ließen und begeistert haben.8) Beim Blättern wird ein halbes Jahrhundert vorwiegend deutsche Architekturgeschichte ins Gedächtnis gerufen – Aedes hat an dieser Geschichte mitgeschrieben. Alle Fotografien dieses Beitrags sind diesem Buch entnommen, das zum Jubiläum unter dem Titel „Faces & Spaces“ erschienen ist. Herzlichen Glückwunsch, Aedes, und: weiter begeistern.
1) Aktuelles Programm und Präsentationen online unter www.aedes-arc.de
5) Winfried Nerdinger: Die Architekturzeichnung. Vom barocken Idealplan zur Axonometrie. München 1986 (zu einer Ausstellung im DAM Frankfurt)
6) Ursula Baus: Zwischen Kunstwerk und Nutzwert. Die Architekturzeichnung, gesehen von Kunst- und Architekturhistorikern seit 1850. Diss, Stuttgart 1999, online: https://elib.uni-stuttgart.de/handle/11682/23
7) Kristin Feireiss: Wie ein Haus aus Karten. Die Neckermanns. Meine Familiengeschichte. Berlin, 2012
8) Faces & Spaces. 40 Years Aedes Architecture Forum. Zürich 2020