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Freie Fahrt für die Bahn

7_Kuestrin_20240728_7506_©wd_layManche geben die Deutsche Bahn schon verloren, wenn mit dem anstehenden Regierungswechsel das Bundesverkehrsministerium wieder in die Obhut der CSU gerät. In Deutschland gibt es 25.710 Eisenbahnbrücken. Und die Bahn gibt selbst an, dass sie bis 2029 etwa 2000 Brücken vollständig oder teilweise erneuern muss. Da wirkt es fasst wie ein Wunder, dass in Küstrin eine nicht nur neue, sondern auch bemerkenswert schöne Bahnbrücke eingeweiht worden ist.


Maidenhead, Brunel 1838 (Bild: Wilfried Dechau)

Maidenhead, Brunel 1838 (Bild: Wilfried Dechau)

Lässt man historische Eisenbahnbrücken Revue passieren und vergleicht sie mit modernen, meist eher langweiligen Standardbrücken, bekommt man den Eindruck, die Bahn sei als Bauherr schon mal mutiger gewesen. Ich nenne nur die Müngstener Brücke (Stahlbogenbrücke über die Wupper), die Griethausener Eisenbahnbrücke (Stahlfachwerk mit parallelen Gurten über den Altrhein), die Göltzschtalbrücke (Viadukt mit insgesamt 98 Ziegelbögen), das Biesenbachviadukt im Zuge der »Sauschwänzlebahn« (sieben nach unten gerichtete Stahl-Parabelträger auf Gerüstpfeilern) oder die 1838 von I.K. Brunel gebaute Maidenhead Railway Bridge, deren gemauerte Ziegelbögen jeweils 39 Meter überspannen.

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Der erste Zug fährt über die neue Brücke in Küstrin. (Bild: Wilfried Dechau)

Aber es geschehen noch Zeichen und Wunder. Mit dem Ersatzneubau der beachtenswerten, aber inzwischen in die Jahre gekommenen, eingleisigen Fachwerkträgerbrücke aus dem Jahr 1920 hat die Bahn bei Küstrin-Kietz jetzt ein mutiges Zeichen gesetzt. Langeweile war gestern.

Alte Bahnbrücke (Bild: Halaczek)

Alte Bahnbrücke von 1920 – eine sehr schöne, klug gebaute, aber leider im Krieg beschädigte und dann vernachlässigte Brücke. (Bild: Bart Halaczek)

Carbon heißt das Zauberwort, das auch bei Spannweiten von mehr als hundert Metern äußerst elegante Konstruktionen ermöglicht. Man könnte meinen, die Bahn wolle damit ihr arg lädiertes Image etwas glätten und aufpolieren.

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Schnitt; im Hauptfeld werden 130 Meter überspannt, in den weiteren 46,40 Meter beziehungsweise 43,50 Meter (Copyright: Knight Architects)

Dumm ist nur, dass man den grazilen Netzwerkbogen vom Auto aus am besten sehen kann – wenn man die Oder auf einer parallel zur neuen Bahnbrücke vorbeiführenden, im deutschen Teil eher klapprigen Behelfsbrücke überquert. Verkehrte Welt? Schließlich ist das nicht irgendeine Straße, sondern die B1, eine Bundesstraße, deren Verlauf einer uralten Handelsroute vom belgischen Brügge bis ins russische Nowgorod folgt.

Angepasst an die Landschaft (Bild: Wilfried Dechau)

Angepasst an die Landschaft und als Hommage an die alte Brücke lesbar: die neue Netzwerkbogenbrücke ersetzt den alten Fachwerkbau. (Bild: Wilfried Dechau)

Das Gestaltungskonzept für die neue Brücke ging aus einem zweistufigen Realisierungswettbewerb hervor, den Schüßler-Plan und Knight Architects mit ihrem Siegerentwurf für sich entscheiden konnten, mit einer 266 Meter langen Hauptbrücke mit 130 Meter langem Netzwerkbogen über die Oder. Eine filigrane Netzwerkbogenbrücke, die den Grenzfluss als gestalterische Einheit überspannt und sich durch ausgeformte Querschnittsübergänge an den Bogenfußpunkten in den Brückenzug einfügt. Auf der polnischen Seite schließt sich durchlaufend eine dreifeldrige Vorlandbrücke an. Zum Projekt gehört auch der Ersatzneubau der 176 Meter langen Brücke über die Odervorflut und die Erneuerung der Gleisanlage auf dem Streckenabschnitt mit einer Länge von 1250 Metern.

Die Generalplanungsleistungen für das komplexe Projekt wurden durch Schüßler-Plan erbracht, während das gestalterische Konzept bis zur Genehmigungsplanung von Knight Architects weiterentwickelt wurde. Das Tragwerk der Strombrücke wurde von sbp geplant und orientiert sich eng am Gestaltungskonzept des Wettbewerbsgewinners. Statt der ursprünglich vorgesehenen Flachstahlhänger wurden jedoch Carbonseile mit einem Durchmesser von gerade mal 50 Millimeter eingebaut. Dadurch konnten das Gewicht der Konstruktion deutlich reduziert und Stahl und Beton im Deck eingespart werden. Das Bauwerk gilt als weltweit erste und bislang einzige Eisenbahnbrücke, bei der für maßgebliche Tragelemente der Hochleistungswerkstoff Carbon verwendet wurde. Die innovative Lösung wurde nach eingehender technischer Prüfung im Rahmen eines Gutachterverfahrens mit Zustimmung im Einzelfall realisiert.
Die Bahn hat damit neue Maßstäbe gesetzt. Die Messlatte liegt jetzt (wieder) höher.

Die Stahlseile lassen den Blick nach draußen frei. (Bild: Wilfried Dechau)

Die Carbonhänger lassen den Blick nach draußen fast völlig frei. (Bild: Wilfried Dechau)


Gesamtlänge Überbau Oderbrücke: 266 m
Spannweite Bogen: 130 m
Gesamtlänge Überbau Odervorflutbrücke: 176 m
Breite Überbau: 13 m
Bogenstich: 16 m
Projektbeteiligte
Bauherr: DB Infra Go, Bestandsnetzt Berlin,
Wettbewerbsentwurf: Schüßler-Plan (Objekt- und Tragwerksplanung), Knight Architects (Architektur)
Gestalterische Begleitung: Knight Architects
Generalplanung (u. a. Ingenieurbauwerke, Verkehrsanlagen, technische Ausrüstung, Umweltplanung): Schüßler-Plan
Ausführung Überbau, Bauüberwachung und Carbonhänger: schlaich bergermann partner
Prüfingenieur:  Karsten Geißler, Berlin
Materialversuchsanstalt: EMPA Dübendorf, CH
Gutachter für die Zustimmung im Einzelfall:  Gerhard Hanswille, Bochum
Geotechnik: GuD Geotechnik und Dynamik Consult GmbH, Berlin
Prüfung Geotechnik:  Lutz Vogt, Baugrund Dresden
Bauunternehmen: Sächsische Bau GmbH
Hersteller Carbonhänger: Carbo-Link AG

Wettbewerb für den Ersatzneubau der Eisenbahnbrücke Küstrin-Kietz: 2015
Baufertigstellung: 31. Juli 2024