Profane Wohnforschung gibt es regelmäßig. Die fünf Energiesparhäuser am Lützowufer unter der Federführung der IBA Berlin 1984/87 gehören dazu, natürlich die im Selbstversuch genutzten Solarhäuser von Rolf Disch und Werner Sobek oder das Bürogebäude 2226 von Baumschlager Eberle. Nun auch diese drei Geschossbauten in Bad Aibling, die Florian Nagler zusammen mit einem multidisziplinären Arbeitsteam an der TU München und Transsolar Energietechnik entwickelt hat.
Errichtet wurden die Gebäude von der B & O Gruppe auf einem ehemaligen Militärgelände, das nun als Forschungsquartier „für ein zukunftweisendes und ökologisches Lebenskonzept“ bewohnt und wissenschaftlich begleitet wird. Das Unternehmen hat sich der „Bauwende“ verschrieben und möchte die Herstellung von Wohnraum „ökologischer, schneller und dabei wirtschaftlicher und sozialer“ realisieren. Kurz nach Fertigstellung erschien 2021 bereits Einfach Bauen I, ein begleitender Leitfaden zur Strategie, die monolithischen Forschungshäuser aus Massivholz, Leichtbeton und Mauerwerk zu errichten. Drei Jahre später will dieser zweite Band nicht nur messbar daran erinnern, sondern auch mit Bewohnerstimmen „Erkenntnisse“ festhalten. Die weiteren im Bau befindlichen Häuser sollen die Resultate bereits berücksichtigen. Das Credo der Initiatoren heißt: die Komplexität im Hochbau zu verringern, sortenreine Baustoffe aus nachwachsenden Rostoffen zu verwenden, gewerktreu zu montieren und die energiesparende Umweltfreundlichkeit des Gebauten über seinen gesamten Lebenszyklus zu erhalten. Ganz einfach!
Das dokumentiert der vorliegende Band mit Texten, akkuraten Zeichnungen und vielen Fotos der bewohnten Häuser. Schon beim ersten Blättern ist nicht zu übersehen: Es handelt sich um Laborversuche, was zur ketzerischen Frage führt, wie man die Bewohner wohl honoriert, dass sie sich dafür zur Verfügung stellen. Positiv betrachtet stand die leidenschaftslose wissenschaftliche Auswertung durch Messungen und Befragungen im Vordergrund. Neben vielen Tabellen und Diagrammen zu Kosten, Energieverbrauch, Umweltwirkung und Komfort machen die Fassadenschnitte mit einem neuen Klimawandel-Parameter bekannt. Es geht um die Umweltbelastung bei der Errichtung und Entsorgung der verwendeten Bauteile, ausgedrückt als Graue Emission in kgCO2 Äq/m². Hier müssen Architekten künftig dazulernen, aber ob diese Leistungsphase in der HOAI berücksichtigt wird, also ohne den Forschungsapparat einer Hochschule, wäre eine weitere Überlegung wert. Die Architektur allein nach dieser Buchveröffentlichung zu bewerten, verbietet sich selbstverständlich. Doch man darf den Eindruck wiedergeben, den diese publizistische Nachsorge auslöst. Die ungeschönten Bilder der Innenräume haben etwas von Sozialreportage, es sind keine Aufnahmen, die eine Wohnzeitschrift präsentieren würde.
Architekturbeflissene können sich dennoch gut vorstellen, in so einem 3,10 m hohen Raum, der allseits mit Sichtbeton, Kalkzementputz oder Brettschalung umfängt, zu wohnen. Auch Aufputzleitungen akzeptieren wir seit der High-tech-Euphorie in den späten 70er Jahren. Man würde die Räume ordentlich möblieren und die Architektur mit der passenden Einrichtung fortsetzen: mit einem Lounge-Chair von Eames, Stühlen von Jacobsen und den Regalmodulen von Fritz Haller. Dazwischen vielleicht einen alten Bauernschrank aus dem Vinschgau rücken. Aber so wohnt hier niemand. Es sieht aus, als hätten sich die Bewohner notgedrungen mit einer fremden Umgebung arrangieren müssen oder fürs erste nur ihr Fluchtgepäck abgestellt. Dies macht nicht neugierig auf das Einfache Bauen.
Wer Streit sucht, könnte sagen, die Architektur denunziert den Geschmack der Bewohner. Dabei ist es zweitrangig, was die Befragungen ergeben haben, es handelt sich ja um keine tiefenpsychologischen Anamnesen, um die Befindlichkeit der Wohnungsmieter zu eruieren. Es können auch abwegige Motive dahinterstecken, warum sich jemand mit seiner Behausung zufrieden oder unzufrieden fühlt. Im Nachwort verschweigt Florian Nagler nicht, dass Passanten die Häuser als „greislich“ beschreiben. Nachvollziehbar: Die Ansichten können schon depressiv machen, selbst wenn man Sichtbeton und serielle Fenster als Beitrag zur Baukunst sehr zu schätzen weiß. „Bonjour Tristesse“ hatten anonyme Graffiti-Sprayer auf Sizas Berliner IBA-Wohnhaus am Schlesischen Tor gesprüht. Es würde auch hier passen.
Die Versuchsanordnung, schlichte Häuser unterschiedlicher Konstruktion zu untersuchen, ist dennoch löblich, wirkt allerdings in dieser gedruckten Beweisaufnahme trübselig. Man könnte sich gut vorstellen, dass die DDR-Baukombinate (wären sie umweltsensibel gewesen) so ein Forschungsprojekt verfolgt hätten: die materielle (um nicht zu sagen materialistische) Bewertung verschiedener Bausysteme, um für das WBS70 Alternativen zu finden. Denn etwas fehlt an dieser Aiblinger Forschungsinitiative. Die Architekten meiner Generation setzten sich immer wieder mit Gestaltungsfragen auseinander, wie Räume auf ihre Nutzer wirken, ihnen dienen und gefallen, Gebäude außerdem zum Embellissement, zur Stadtverschönerung, beitragen. In anthroposophischer Umgebung werden dazu esoterisch anmutende Erkenntnisse bemüht, soweit braucht man nicht zu gehen. Aber ich hänge der altmodischen Auffassung an, Architektur sei „ein Produktionsversuch menschlicher Heimat, – vom gesetzten Wohnzweck bis zur Erscheinung einer schöneren Welt in Proportion und Ornament“, wie es uns Bloch für alle Zeiten gültig definiert hat.
Man darf also nach dem abgeschlossenen Monitoring gespannt sein, mit welchem gesicherten Basiswissen Architekten künftig Häuser entwerfen werden. Nach oben ist gestalterisch noch reichlich Luft. Ein Blick nach Vorarlberg lohnt.
Siehe auch Bauwelt 4/21: An der Basis lernen ff.
Und Bauwelt 9/23: Einfach Bauen 3 ff.