Junkspace, europäischer. (Bild: Christian Holl)
Stilkritik (140) | Am 16. November wurde Rem Koolhaas 80. Wir haben ihm viel zu verdanken. Unter anderem eine Art, kritisch zu denken, was auch einschließen darf, sie darauf anzuwenden, was er selbst sagt und wie wir auf ihn blicken. Verehrung ist seiner Lebensleistung vielleicht nicht gerade angemessen.
Nicht nur seiner Bauten wegen, auch seiner Art zu Denken und zu reflektieren wegen ist Rem Koolhaas zu einem der wichtigsten Architekten der letzten Dekaden geworden. Einer der einflussreichsten – das wäre noch zu fragen, denn es stellt die Frage danach, wie man Einfluss misst. Wenn es darum geht, zu verstehen, wie sehr Architekt:innen Teil einer Entwicklung sind, denen sie sich nicht mit autonomen Kunstwerken gegenüberstellen können und die sie in einer schonungslosen Radikalität auf das befragen müssen, was die Kräfte sind, die die Architektur lenken und was Architektur darin aufschlussreich macht, wenn man die Schichten der Ökonomie, der Begierden, der Macht einbezieht, dann ist der Einfluss von Koolhaas möglicherweise nicht so groß, wie man ihn sich wünschte. Geben sich doch immer noch Architekt:innen gerne der Illusion hin, dass die Autonomie des Werks sie davor immunisiert, Teil eines Spiels zu sein, dessen Regeln sie nicht selbst aufstellen, geschweige denn beherrschen. Statt dessen hoffen Architekt:innen oft, ihre Architektur könne die Regeln ändern. Und wer sarkastisch sein möchte, könnte sich fragen, ob sich auch Rem Koolhaas diese Mahnung zur Demut, die wir brauchen, um das kritische Potenzial von Architektur und dem Reden über sie freizusetzen, selbst immer berücksichtigt hat.
Selbstabsolution
Im Juni gab er der Zeit ein Interview, das zeigt, dass nicht nur der Meister durch den Erfolg zu einem Opfer dessen werden kann, was er kritisiert, sondern auch die, die ihn verehren. Er wird dort zum einflussreichsten Architekt gleich zweier Jahrhunderte gemacht (des 20. und 21.), kritische Fragen unterbleiben weitgehend. Etwa die nach dem Regime von Katar, für das das Büro von Koolhaas einen Masterplan erstellt. „Wir arbeiten dort mit einem Regime zusammen, das nachdenklich und umsichtig ist, religiös und zugleich offen für Ideen von außen“, erteilt sich Koolhas gleich auch selbst die Absolution zur Arbeit für diesen Staat. Er zitiert die Kritik an Europa, an dessen starker USA-Bindung, die er bei seiner Arbeit außerhalb von Europa zu hören bekommt, stilisiert sich zu einem „der letzten Diplomaten, der zu verstehen sucht. Das Gespräch sucht. Das ist seltsam.“
Das Interview ist dennoch lesenswert, weil es Zusammenhänge zwischen Wirtschafts- und politischen Ereignissen herstellt und die Diskussionen um Architektur einordnet, so gut das eben in einem Interview geht. Weil Koolhaas eingesteht, etwa auf die Frage nach der Wohnungskrise in Europa keine Antwort zu haben. Weil von der Preisgabe des Wohnungsmarkts an den freien Markt die Rede ist, genauso wie vom Irrglauben, High-tech und Smarte Technologien könne einen Ausweg aus der Krise bieten: „Fast alle Ideen von smarten Häusern, smarten Städten, smarten Telefonen sollen zu mehr Komfort und Sicherheit führen. Zu mehr von dem, was wir nicht brauchen.“ Was aber irritiert, ist der Gestus des Belehrenden, der mit Verallgemeinerungen arbeiten muss, um zu funktionieren. „Die Europäer“, „wir alle“ – etwa der merkwürdige Befund: „Wir müssen akzeptieren, dass bestimmte Religionen eher undemokratisch sind und nicht alle Nationen einen Drang verspüren, sich in eine Demokratie zu verwandeln. Es ist an der Zeit, dass wir in Europa einen frischen Blick auf die Welt werfen, wie ein Anthropologe, der sich neugierig umschaut.“ Hier werden Religionen, Regime, Wirtschafts- und Machtpolitik in einem großen Topf geschmissen und so miteinander vermischt, dass genau die analytische Schärfe verloren gehen muss, die man für einen frischen Blick auf die Welt braucht.
Frischer Blick aufs Hier
Vielleicht sollten wir uns erst einmal davon verabschieden, die ganze Welt verstehen zu wollen, wenn wir zu einem frischen Blick finden wollen. Vielleicht erfahren wir dann, dass man für einen frischen Blick auf die Welt nicht auf ihr herumfliegen muss, sondern sich Neugierde auch dann befriedigen lässt, wenn man dort genauer hinschaut, wo man die Möglichkeiten dazu hat. Dann ließe sich feststellen, dass sich eine Übereinstimmung zwischen kritischen Reflexion, neuen Ideen, alternativen Praktiken einerseits und Territorium andererseits so einfach schon lange nicht mehr ziehen lässt – wir in Europa und die im Rest der Welt. Wir könnten uns einlassen auf die kritischen Fragen nach der merkwürdigen Diskrepanz von Demokratien, Rechte um den Preis zu ermöglichen, sie anderen vorzuenthalten. Sheyla Benhabib hält die entsprechende Grenzziehung für eine notwendige Voraussetzung dafür, dass Demokratien funktionieren, die aber immer wieder neu verhandelt werden muss, so dass die Frage, wer zu denen gehören darf, die die Rechte eines Staates genießen, „Ergebnis einer fortlaufenden Selbstkonstituierung im Gefolge mehr oder weniger bewusster Auseinandersetzungen und Debatten um Zugehörigkeit bzw. Ausschließung“ (1) sein soll, in dem die Rolle des klar begrenzten Territoriums nur noch bedingt eine tragfähige Voraussetzung für diese Auseinandersetzungen sind.
Man könnte sich die Frage stellen, die unseren Freiheitsbegriff betreffen, der sich an Ideen von Besitz und einer unendlich steigerbaren Ausbeutung der Erde knüpft und den wir deswegen dringend neu bestimmen müssen. (2) Man könnten den Pfaden folgen, auf denen Maggie Nelson der Frage nach dem folgt, was Freiheit bedeuten kann. Man könnten dabei entdecken, wie wichtig es ist, denen zu misstrauen, die behaupten, ein Problem zu lösen, das sie selbst hervorgebracht haben, dass es wichtig ist, sich dagegen zu wehren, die Komplexitäten der Verflechtungen, die den Gegensatz zwischen Globalem und Lokalen längst weitgehend aufgehoben haben, zu leugnen. „Komplexität führt zu Schwierigkeiten. Diese Schwierigkeiten sind leichter zu ertragen, wenn wir erkennen, dass unser Wunsch, sie ein für alle mal zu lösen, auch dem Wunsch gleichkommen kann, mit ihnen nichts mehr zu tun zu haben.“ (3) Wir könnten die Frage stellen, ob die vermeintliche Einheit von Europa nicht eine Chimäre ist, ob nicht innerhalb von Europa die Machtausübung zur Machtsicherung nicht schon lange Trennungen und Schieflagen innerhalb Europas prodiziert hat. Bei uns sind die Architekt:innen zu finden, die es uns erlauben, einen anderen Blick auf die Welt jenseits von Europa werfen – Anapamu Kundoo, Anna Heringer, Francis Kéré etwa.
Wir brauchen eine Neuerfindung, so lässt Rem Koolhaas uns am Ende des Interviews wissen. Ihn selbst zitierend („meine Reisen haben mich gelehrt, dass sehr viele Menschen an sehr vielen Orten auf der Welt mit aller Kraft versuchen, Lösungen für die jeweiligen Gegebenheiten zu finden“) könnten wir widersprechen: Wir brauchen viele Neuerfindungen, weswegen wir uns bemühen sollten, auf die zu schauen, die sie schon gemacht haben. Das könnte uns helfen, nicht mehr das zu reproduzieren, was so gerne, eben auch von Koolhaas beklagt wird: Von sich zu reden und damit meinen, für andere sprechen zu können. Es wäre dem würdig, was Koolhaas so faszinierend macht.
(1) Sheyla Benhabib: Die Rechte der Anderen. Ausländer, Migranten, Bürder. Berlin 2017, S. 209 (Original 2004, dt. Erstausgabe 2008)
(2) Eva von Redecker: Bleibefreiheit. Frankfurt am Main 2023
(3) Maggie Nelson: Freiheit. Vier Variationen über Zuwendung und Zwang. Berlin 2022, S. 288 (Original 2021)