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Es ist wieder so weit. Die Bürger fahren in Urlaub, die Autobahnen sind verstopft, die Züge bleiben wegen Überlastung stehen – weite Teile der Gesellschaft sind mobil und sehen ihr Jahresglück offenbar im Reisen. Man schlendert zu Fuß durch autofreie alte Städte wie Bologna, wandert durch abgelegene Bergregionen im Tessin, relaxt am autofreien Strand von Ibiza. Es ist so: Als Fußgänger ist man im Alltag ungern unterwegs, im Urlaub schon eher. Was läuft da schief?

oben: Wohnstraße am Rande eines deutschen Waldes; zu Fuß muss man auf die Straße ausweichen. (Bild: Ursula Baus)

Platz wird knapp

2022 wurden so viele Autos zugelassen wie noch nie in der Geschichte des Landes. Die Autos werden außerdem groß und größer – dass sie, genauer gesagt: die Autofahrerinnen immer mehr Platz brauchen, ist offensichtlich. Hinzu kommen die Fahrräder, die auch nicht rund um die Uhr in Bewegung sind, sondern abgestellt werden müssen und Fahrradfahrer also dafür genauso Platz beanspruchen wie mit eigenen Fahrradwegen. Dann irren da noch die E-Roller umher, die auch mal einfach wie Abfall abgestellt werden, auf jeden Fall aber auch ihren Platz brauchen. Damit der ÖPNV attraktiver und zuverlässiger werden kann, müssen im öffentlichen Wegenetz natürlich Busspuren angelegt werden – auch sie benötigen: Platz.

Die Städte sollen zudem aus klimarelevanten Gründen grüner werden, und das geht auch nicht, ohne Bäume und anderes Grünzeug zu pflanzen. Auch für die Pflanzorte muss Platz freigeräumt werden, und wer schon mal den Zirkus erlebt hat, wenn ein einziger Parkplatz für einen Baum zu opfern ist: Der weiß, dass nicht nur eine schwerfällige Bürokratie, sondern auch eine weit verbreitete egozentrische Unvernunft der Zivilgesellschaft ihren Teil dazu beiträgt, wenn sich nichts in der Republik zugunsten des Notwendigen eines ökologisch sinnvoll gestalteten Zusammenlebens ändern lässt.

Parke nicht auf unseren Wegen

Nun beobachte ich als verkehrsteilnehmende Fußgängerin, dass all die platzraubenden Mobilitätsflächen und -räume zulasten der Fläche geschaffen werden, die ureigens dem zu Fuß gehenden Menschen zugestanden sein sollte. Wenn Autos auf den Bürgersteigen abgestellt werden, wird das in aller Regel nicht geahndet. Mit artigen kleinen Aufklebern darf man die verkehrsordnungswidrig Handelnden auf ihr Fehlverhalten hinweisen – und wird von denen dann auch noch wüst beschimpft oder wegen Sachbeschädigung verklagt. Ich weiß, wovon ich schreibe. Nicht oft genug weise ich darauf hin, dass nicht das Auto an sich die Katastrophen bewirkt, sondern es sind Diejenigen, die – natürlich von der Autolobby gestärkt – fahren und parken, als sei die Stadt für sie – und nur für sie – gemacht. Die autogerechte Stadt hinterlässt als praktizierter Irrsinn Spuren im Verhalten ihrer Bewohnerschaft. Neudeutsch: Es gehört zur „Identität“ der Deutschen, als Autofahrer und Fahrradfahrerin ein „Platz da, jetzt komm‘ ich!“ im Kopf zu haben.

Ein offensichtlich nicht Behinderter parkt auf gleich zwei Behindertenparkplätzen und fängt an zu schimpfen, wenn man ihn auf sein Fehlverhalten anspricht. Mit seinem militrätauglichen Auto manifestiert er die Herrschaftsverhältnisse im öffentlichen Raum. (Bild: Ursula Baus)

Ein offensichtlich nicht Behinderter parkt auf gleich zwei Behindertenparkplätzen und fängt an zu schimpfen, wenn man ihn auf sein Fehlverhalten anspricht. Mit seinem militärtauglichen Auto manifestiert er die Herrschaftsverhältnisse im öffentlichen Raum. (Bild: Ursula Baus)

Wen interessiert der Fußgänger?

Gewiss gibt es Interessenverbände der Fußgänger.1) Aber wer ist Fußgängerlobbyist? Welche Industrie verzeichnet Zuwächse, wenn Platz für Fußgängerinnen geschaffen wird? Fußgänger gehören – Achtung, politisch unkorrekt! – zu einer Minderheit, die mit Behinderten, Gehörlosen, Blinden, oder anderer Art eingeschränkten Menschen das Schicksal derer zu teilen scheinen, die um Aufmerksamkeit kämpfen müssen. Mehr und mehr, denn, siehe oben: Der Platz im öffentlichen Raum wird knapp und knapper. Fußgängerverbände haben deswegen häufig ein bemerkenswertes Hauptziel: Sicherheit für Fußgänger, als gehörten sie zu einer bedrohten Spezies. 2022 wurden in Deutschland 368 Fußgänger getötet.2) Zum Suchbegriff „Fußgänger“ weist die Website des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr 47 Beiträge3) aus, für Automobilindustrie 27 Artikel.4) Bei den Nachrichten zum Suchwort „Fußgänger“ taucht dabei natürlich auch die Meldung auf, dass Volker Wissing die Taten der „Letzten Generation“ für „unerträglich, nicht tolerierbar und für kriminell“ hält. Zum „Fußgänger“ sagt er: „Dort [im Verkehr] war die Infrastruktur bisher darauf ausgerichtet, dass der Fußgänger sich dem Auto unterordnet und das Radfahren die Ausnahme ist. Das hat sich komplett geändert.“5) Wie bitter für den FDP-Minister! Welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind, deutet der Verkehrsminister nicht an. Aber in Relation dazu werden vielfach technische Vorschriften zu Abbiege- und Notbremsassistenten zum Schutz „vulnerabler Nutzergruppen“ angeführt, zudem „KI-basierte Optimierung von Fußgängerüberquerungszeiten durch smarte Lichtsignalanlagen“. Optimiert die KI längere Fußüberquerungszeiten oder minimiert sie diese? Gehören Fußgänger nun generell zur „vulnerablen Nutzergruppe“?

Fußgängerzone in der Innenstadt von Hamburg (Bild: Ursula Baus)

Fußgängerzone in der Innenstadt von Hamburg (Bild: Ursula Baus)

Der Flaneur

Als Kulturträger und Protagonist urbanen Lebens hat der Flaneur in der Literatur zwar seinen Platz gefunden, faktisch gibt es ihn nicht mehr. Es kann ihn nicht mehr geben, denn was ihn kennzeichnet, ist nicht mehr erlaubt – zumindest nicht gewünscht. Im Schillerschen Sinne interesselos umhergehen? Macht verdächtig! Oder ist zumindest rufschädigend, offenbar hat man nichts Besseres zu tun und lungert rum. Wer zu Fuß unterwegs ist, muss sich stattdessen geradezu rechtfertigen. Er bekommt Platz, um sich körperlich zu ertüchtigen und fit für die Arbeit zu sein – und wird dafür in den Park verbannt; um gärtnern zu können, was nicht allein auf Dächern und Balkonen erledigt werden kann, schickt man ihn in die Schrebergärten. Im Sinne der „15-Minuten-Stadt“-Idee 6) könne man ja alles Nötige erledigen. Wobei dann einzuschränken ist: Die 15 Minuten beziehen sich auf Fahrradfahren, ÖPNV Nutzen oder zu Fuß Gehen. Sie stärkt die Fußgängerschaft nicht dezidiert.
Die moderne „Fußgängerzone“ bietet in der Regel keine Sitzmöglichkeiten, denn sie ist nichts anderes als eine Einkaufszone, die im Gebäudetyp Shopping-Mall eingehaust ist.7) So wie Kinderspielplätze ja nicht etwa den Kindern zugute kommen, die analog zum Flanieren mal rumstromern möchten. Vielmehr zäunen sie die Kinder ein, damit sie den Autofahrern nicht die „freie Fahrt“ auf innerstädtischen Straßen als gesetzlich geregeltes Bürgerrecht streitig machen. 2022 verunglückten 25.800 Kinder bei Verkehrsunfällen auf deutschen Straßen.8) Konsequent wird für Kinder „Verkehrserziehung“ gefordert – statt erwachsene Autofahrer dazu zu verpflichten, innerstädtisch und in allen Wohngebieten dezidiert auf die Schwächsten zu achten. Dann würde ohnehin kaum jemand schneller als Schritttempo fahren, wogegen nichts spricht. Denn zum Erliegen kommt Verkehr dadurch keinesfalls, wie ein Experiment vor dem Schwetzinger Schloss zeigt.

Ähnlich kommt es mir übrigens mit den Fahrradwegen vor: Könnten Fahrradfahrer die innerstädtischen Straßen, auf denen Autofahrerinnen 1,50 Meter Abstand zu ihnen halten müssen, samt und sonders nutzen, hätte sich die erbärmliche Diskussion um Tempo 30 längst erledigt. Die Fahrradfahrerin fährt nicht schneller als 30 und ist bei grundgesetzlich festgeschriebenen 50 km/h ein Verkehrshindernis. Die gesetzlichen 50 km/h loswerden? Damit sind wir bei der Politik. „Freie Fahrt für freie Bürger“ – so die FDP, die den aus meiner Sicht unfähigsten Verkehrsminister seit Jahrzehnten stellt.

Broschüre zur Umplanung am Münchner Ring: Im Verteilungskampf zieht der Fußgänger den Kürzeren; rechts hat er keinen Platz mehr, und links passen Herrchen und Hündchen hin. Eine Straßenquerung ist nicht im Blickfeld.

Simulation: Im Verteilungskampf zieht der Fußgänger den Kürzeren; rechts hat er keinen Platz mehr, und links passen Frauchen und zwei Hündchen hin, da möge kein Entgegenkommender Angst vor Hunden haben. Eine Straßenquerung ist nicht im Blickfeld. (Bild: Beilage SZ zur Umplanung Blumenstraße)

Verteilungskämpfe und absurde Subventionen

Winfried Kretschmann, als er noch ein waschechter Grüner war, meinte 2011, dass „weniger Autos natürlich besser (seien) als mehr.“9) Sagt er heute nicht mehr, denn die baden-württembergische Automobilindustrie fordert Tribute.
Es ist evident, dass eine Verkehrswende scheitert, wenn der Platz im öffentlichen Raum nicht anders verteilt wird als in der autogerechten Stadt. Wenn genauso viel fahrendes und vor allem stehendes Blech den öffentlichen Raum belastet oder künftig sogar noch mehr, weil Elektromobilität ja „sauber“ ist. Wenn also die Anzahl und die Größe der Autos auf Straßen und Bürgersteigen massiv gesteigert statt reduziert zu werden, ist für die Städte, die Wohngebiete, die Landschaften so gut wie nichts gewonnen, was wir schon zigfach thematisierten und ohnehin bekannt ist. 15 Millionen E-Autos will der – aus meiner Sicht unfähigste Verkehrsminister seit Jahrzehnten – auf die Straße bringen; man denke an die Steuergelder, die Tesla in Brandenburg dafür einheimste. Hat der Verkehrsminister davon geredet, dass Hybridmodelle und Benziner weg von der Straße genommen werden? An Subventionen erhält der Verkehr lt. UBA etwa 47% des jährlichen Subventionsvolumens. 2019 betrug das Subventionvolumen für Diesel im Autoverkehr knapp 8,2 Mrd, infolge der Entfernungspauschale und des Dienstwagenprivilegs je etwa 5 Mrd.

Flössen diese Milliarden in den Ausbau des ÖPNV, in die Bahn, in die Pflege des öffentlichen Fußgängerverkehrs, in fußläufigkeitsorientierte Stadt- und Quartiersentwicklung, wäre ökologisch und sozialkommunikativ immens viel zu gewinnen.

Stuttgart, Innenstadt (Bild: Ursula Baus)

Stuttgart, Innenstadt (Bild: Ursula Baus)

Im Verteilungskampf um Platz im öffentlichen Raum gehen diese Milliarden aber zulasten des Fußgängers. Und nicht nur die. Das Verkehrsministerium hat die ihm politisch gesetzten klimatischen Ziele – „Jahresemissionshöchstmengen“ – glatt verfehlt. Aber nun verteilte die Bundesregierung ja die klimatisch relevanten Verpflichtungen auf alle Ministerien, um sie dann durch alle zu teilen. Damit ist der aus meiner Sicht unfähigste Verkehrsminister seit Jahrzehnten aus dem Schneider und kann immer mehr Autos auf die Straße (be-)fördern.

Es ist Sommer. Liebe Mitbürgerinnen, geht zu Fuß durch euer Wohngebiet, durch euer Dorf, durch eure Stadt. Schaut euch genau um, lungert nutzlos rum und überlegt, warum die übelsten Orte und Strecken so übel sind und das Leben ohne Auto in Deutschland so beschwerlich ist. Fußgänger haben keine Wirtschaftslobby, müssen sich daher anders um ihre Interessen kümmern. Das kann vor allem auf kommunaler Ebene gelingen. Nur Mut!


1) https://www.fuss-ev.de/ | https://www.fussgaengerbund.de |

2) https://de.statista.com/statistik/daten/studie/459038/umfrage/anzahl-der-fussgaengerunfaelle-deutschland/

3) https://bmdv.bund.de/SiteGlobals/Forms/Suche/DE/Expertensuche_Formular.html?pageLocale=de&templateQueryStringSearch=fu%C3%9Fg%C3%A4nger&submit=Suchen (abgerufen am 18.7.2023)

4) https://bmdv.bund.de/SiteGlobals/Forms/Suche/DE/Expertensuche_Formular.html?resourceId=12880&input_=12872&pageLocale=de&templateQueryStringSearch=automobilindustrie&cl2Categories_Themen=&cl2Categories_Themen.GROUP=1&documentType_=&documentType_.GROUP=1&lastChangeAfter=&lastChangeBefore=&selectSort=commonSortDate_dt+desc&selectSort.GROUP=1 (abgerufen am 18.7.2023)

5) https://bmdv.bund.de/SharedDocs/DE/RedenUndInterviews/2023/wissing-t-online-13-06-2023.html

6) https://15-minuten-stadt.de: Gesundheit, Freizeit, Nahversorgung, Bildung, Naherholung, Mobilität

7) Bemerkenswert die eine im §3 der Satzung beschriebene Gemeinnützigkeit des Fußgängerverbund e. V.: „§ 3 Gemeinnützigkeit: Der Verein verfolgt ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige Zwecke im Sinne des Abschnitts „Steuerbegünstigte Zwecke“ der Abgabenordnung. Der Verein ist selbstlos tätig, er verfolgt nicht in erster Linie eigenwirtschaftliche Zwecke.“ Die Gemeinnützig definiert sich aus der Abgrenzung zu wirtschaftlichen Interessen.

8) https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1634/umfrage/verkehrsunfaelle-mit-kindern/

9) in einem Gespräch im April 2011 mit BILD am Sonntag