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Hand, Lineal und Cursor

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Klaus Jan Philipp: Architektur – gezeichnet. Vom Mittelalter bis heute. +++ Seiten, zahlreiche Abbildungen, Format 33 mal 24 cm. Birkhäuser, Basel 2020, 79,95 Euro. ISBN 978-3-03821-563-9

Klaus Jan Philipp: Architektur – gezeichnet. Vom Mittelalter bis heute.
256 Seiten, zahlreiche Abbildungen, Format 33 mal 24 cm. Birkhäuser, Basel 2020, 79,95 Euro.
ISBN 978-3-03821-563-9

Architekten und ihre mehr oder weniger schönen Bilderwelten gehören zusammen wie Pech und Schwefel. Es scheint an der Zeit gewesen zu sein, das in vieler Hinsicht erforschte Genre der Architekturzeichnung noch mal als Ganzes ins Visier zu nehmen – ein Verdienst dieses Buches vor allem für Jene, die als Architekten nicht mehr im Zeichnen unterrichtet worden sind. Grundriss, Aufriss, Schnitt, Perspektive: So einfach ist das.

oben: Ein Fest! Jean-François Blondel stellt anlässlich einer königlichen Hochzeit 1739 das Rathaus von Paris im Schnitt dar.

Friedrich Gilly: Perspektivisches Studienblatt mit landschaftlicher Szenerie, 1798. Feder, aquarelliert, zwei verschiedenartige Papiere, 23 x 30,5 cm.

Friedrich Gilly: Perspektivisches Studienblatt mit landschaftlicher Szenerie, 1798. Feder, aquarelliert, zwei verschiedenartige Papiere, 23 x 30,5 cm.

Opus pesante

Ein großformatiges, schweres Buch zur Architekturzeichnung wirkt in Zeiten, in denen die omnipräsente Digitalisierung alle und alles umklammert und durchdringt, geradezu anachronistisch. Aber klar, schöne Bilder – und das sind Architekturzeichnungen in der Regel, wenn sie das Licht der Öffentlichkeit erreichen – erfreuen die Leserschaft, und der Autor benennt offen, dass der ästhetische Reiz ein Kriterium der Zeichnungsauswahl gewesen sei. In einer Bildunterschrift zu einem Studienblatt von Friedrich Gilly heißt es nun: „Obwohl es sich um eine wissenschaftliche Zeichnung zur Vermittlung der Perspektive und von Schattenwirkungen handelt, hat das Blatt einen hohen ästhetischen Reiz.“1) Hier stellt sich die Frage, was mit der konzessiven Satzverbindung „obwohl“ gemeint ist. Wieso sollte Wissenschaft etwa nicht schön sein können? So wird ein Gegensatz formuliert, der nicht einsichtig ist und sich im ganzen Buch subkutan als methodisches Problem erweist.

Unbekannter Zeichner / Karl Friedrich Schinkel: Revisions- und Ausführungsplan zur Pfahlgründung des Alten Museums am Lustgarten, Berlin. Wohl 1823/1829, Feder in verschiedenen Farben, Grafitstift, handgeschöpftes Papier (Vergé-Schöpfsieb), 66,5 mal 70,1 cm groß. (Bild: aus dem besprochenen Band)

Kann man verflixt schön finden: Revisions- und Ausführungsplan zur Pfahlgründung des Alten Museums am Lustgarten, Berlin. Wohl 1823/1829, von unbekanntem Zeichner/ Karl Friedrich Schinkel. Feder in verschiedenen Farben, Grafitstift, handgeschöpftes Papier (Vergé-Schöpfsieb), 66,5 mal 70,1 cm groß. (Bild: aus dem besprochenen Band)

Prima vista

Eine „Zusammenschau der ganzen Entwicklungsgeschichte [der Architekturzeichnung, Anm. d. A.] von der Antike bis heute fehlt jedoch“.2) Weder will, noch könnte das vorliegende Buch dies leisten, Klaus Jan Philipp lenkt jedoch ein Mal mehr die Aufmerksamkeit auf die Zeichnung als bis heute gängige Erkenntnis-, Ausdrucks-, Vermittlungs- und Darstellungsform von Architekten. Genauer sollte man sagen: die Darstellungsweisen von Architekten, denn mitnichten ist das, was opulent im Buch versammelt ist, immer eine „Zeichnung“, so wird die Frage der Autorenschaft auch nur gestreift.

Piero Portaluppi: Fantasieentwürfe für ein Geschäftshaus am Corso Sempione, Mailand. Feder, Aquarell, Papier, 101 x 65 cm. Man beachte den Herrn mit Hund und Koffer an den unteren Bildrändern links, "besonnen, erstaunt, auf der Flucht". (Doppelseite aus dem besprochenen Band)

Piero Portaluppi: Fantasieentwürfe für ein Geschäftshaus am Corso Sempione, Mailand. Feder, Aquarell, Papier, 101 x 65 cm. Man beachte den Herrn mit Hund und Koffer an den unteren Bildrändern links, „besonnen, erstaunt, auf der Flucht“. (Doppelseite aus dem besprochenen Band)

Das große Format ist gerechtfertigt, manche Seiten gönnen den Bildwerken einen großzügigen Weißraum, an anderer Stelle sind die Abbildungen aber starr in einen Satzspiegel gezwängt, was sich bereits im Titel zeigt: Ohne Rücksicht auf ihr originäres Format und Darstellungsspektrum sind die Architekturdarstellungungen fürs Layout-Raster gestutzt – etwa rechts oben der Bewehrungsplan für das Fundament des Stuttgarter Fernsehturmes von Fritz Leonhardt. Bestens sind hingegen Zeichnungserläuterung neben die Zeichnungen und die Anmerkungen neben die Texte gesetzt. Leider ist nicht durchgängig die Originalgröße notiert, denn dass beispielsweise Laurenz Spennings mehrere Ebenen zusammenführender Horizontalschnitt vom Nordturm von Sankt Stephan in Wien stattliche 82 x 83 cm misst, ist gut zu wissen.

Entwicklungsgeschichte mal anders

Zu den herausragenden Entwicklungsgeschichten der Architekturzeichnung gehört bis heute das Buch, das Winfried Nerdinger anlässlich einer Ausstellung im DAM 1985-86 verfasst hatte.3) Sein Fundus – die Architektursammlung der TU München – erlaubte eine fulminante Bilderpracht, wobei Nerdinger die Zeichnungsfunktion in den Vordergrund rückte und vom feinen Riss bis zur 6B-Skizze eine enorme Bandbreite aufzeigte. Klaus Jan Philipp hingegen dekliniert die altbekannten Architekturzeichnungstypen Grundriss, Aufriss und Schnitt (egal ob Plan oder Skizze, Konkurrenzentwurf oder Lehrbuch-Illustration), ihre Kombinationsvarianten, schließlich die Perspektive nacheinander in ihrer Entwicklung durch. Er stellt dabei auch fest: „Die Darstellungsweisen des Schnittes verändern sich in gleicher Weise wie im Kapitel über den Aufriss dargelegt“.4) So bewirkt der Blick auf eine Darstellungsart zwar einerseits genaues Hinsehen, geht aber andererseits zulasten der räumlichen Zusammenschau und des ganzheitlichen Raumverständnisses. Auch kommt hier und da die Funktion einer Architekturdarstellung zu kurz, gerade, wenn es um Vergleichbarkeit geht. So kann eine Schnittperspektive (wie die oben gezeigte) ein Fest vergegenwärtigen,5) ein anderes Mal die Tragwirkung einer Kassettendecke. Das benennt der Autor deutlich, um im abschließenden Kapitel die Relation von Architekturdarstellung und Architekturentwicklung anzusprechen: „Die Darstellungsmodi haben sich nicht verändert, sie reagieren offensichtlich nicht auf den stilistischen Wandel.“6) Dass die Postmoderne mit farbenfroher und formenreicher Architekturdarstellung einherging, darf daneben nicht wundern.

Jean-Pierre-Louis Houël (1735-1813): Szene vor dem Äskulap-Tempel in Agrigent / Auqatinta.Wie eine Picknick-Decke legt eine Reisegruppe den Tempelgrundriss aus. (Bild: aus dem besprochenen Band)

Jean-Pierre-Louis Houël (1735-1813): Szene vor dem Äskulap-Tempel in Agrigent / Auqatinta.Wie eine Picknick-Decke legt eine Reisegruppe den Tempelgrundriss aus. (Bild: aus dem besprochenen Band)

Wie weiter?

Im abschließenden Kapitel nimmt Klaus Jan Philipp dann doch wieder Winfried Nerdingers funktionales Entwicklungsinteresse auf und fächert dabei eine Vielfalt auf, die ihn den Thesen von David Ross Scheer widersprechen lassen – der den „Tod der Zeichnung“ proklamiert.7)
So bleibt noch die hervorragende Druckqualität des Buch zu erwähnen, die vor allem jungen LeserInnen die Faszination der Architekturdarstellung jenseits des Bildschirms erschließen mag. Zum Beispiel nach Neresheim zu fahren und nicht mit Handybildern, sondern handgezeichneten Analyse-Skizzen zu den Schnittfiguren der Gewölbekanten und der Projektion einer Kuppel über kreisförmigem Grundriss in ein Gewölbe über elliptischem Grundriss nachhause zu kommen, übt zumindest das Sehen. Ob allerdings das, was der Gegenwartsarchitektur abverlangt werden muss, effizient in der Zeichnung konzipiert und vorangetrieben werden kann, muss man bezweifeln dürfen.


1)  Im besprochenen Band, Seite 30

2)  ebda., Seite 7

3)  Winfried Nerdinger mit Florian Zimmermann (Hrsg.): Die Architekturzeichnung. Vom barocken Idealplan zur Axonometrie. München 1986; in den letzten Jahrzehnten sind zahlreiche Architekturgalerien auch in Deutschland entstanden, hervorzuheben ist beim Thema Architekturzeichnung die Tchoban Foundation – Museum für Architekturzeichnung in Berlin (http://www.tchoban-foundation.de/).
Zur Entwicklung des Interesses, das Kunst- und Architekturhistoriker der Architekturzeichnung entgegengebracht haben, siehe die Diss. der Rezensentin (https://elib.uni-stuttgart.de/handle/11682/23)

4)  siehe Anm. 1, Seite 99

5)  Zu sehen ist das Pariser Rathaus; es war für die Hochzeit von Louise-Elisabeth de France und Philipp, Infant von Spanien, mit einer temporären Holzkonstruktion über dem Hof des Pariser Rathauses überdacht und festlich dekoriert. Sehr gut dokumentiert und durchzublättern hier: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b530000006/f51.item

6)  siehe Anm. 1, Seite 240

7)  David Roos Scheer ist Dozent an der University of Utah; sein Blog thematisiert ein deutlich anderes Verständnis von Architektur-„Entwurf“: http://deathofdrawing.com/