Sie brannte lichterloh. Aus Notre-Dame, der Königin der Kathedralen, schlugen am 15. April 2019 die Flammen, Rauch verfinsterte den Himmel. Und nun schreibt ein Fassadenkletterer und erfolgreicher Autor, der auf seine Weise Kathedralen „erfahren“ hat, wie das ist und was es bedeutet, wenn Verluste dieser Art zu verkraften sind.
Es ist mir ein wenig unangenehm, aber bis zu seinem gerade erschienenen Buch über Notre-Dame de Paris, war mir der französische Schriftsteller Sylvain Tesson unbekannt. Dabei gewann Tesson bereits 2009 den Prix Goncourt in der Kategorie Kurzgeschichte für Une vie à coucher dehors. Aber vielleicht ist es doch nicht so ungewöhnlich, dass ich seiner Arbeit bisher noch nicht begegnet bin. Französische Literatur findet in Deutschland nur eine begrenzte Resonanz. Gründe dafür mögen in ihrem besonderen Duktus und Stil, aber auch in der Themenwahl zu finden sein, die oft poetischer anmuten als in Deutschland. Diese These zu belegen wäre ein eigenes Thema. Doch hier soll es um Tessons Buch zu Notre-Dame de Paris gehen. Um die Kathedrale und das Erschrecken angesichts ihres drohenden Verlustes beim Brand 2019. In drei Texten befasst sich Tesson in dem kleinen, aber gehaltvollen Buch mit dem Bau. Erschienen ist es in der Friedenauer Presse, die Matthes und Seitz dankenswerterweise weiterleben lässt. Und das mit viel Liebe für das Detail, denn so schmal der Band mit seinen 64 Seiten ist, so liebevoll ist er gestaltet. Merci beaucoup!
Sylvain Tesson lerne ich bei der Lektüre als empfindsamen Reisenden und als begeisterten Fassadenkletterer in seiner Jugend kennen. Neben anderen Kathedralen und sonstigen Gebäuden hat er auch Notre-Dame erklommen. Davon handelt sein erster Text. Doch es ist keine triumphierende Beschreibung des wagemutigen Tuns. Es ist vielmehr eine liebevolle Aneignung dieser Architekturen: „Wenn wir stillschweigend kletterten, mitten in der Nacht und dunkel gekleidet, dann nicht, um die Ordnung herauszufordern. Es war sogar genau genommen aus Liebe zur Ordnung (der Erbauer). Wir hatten verstanden, dass Kathedralen Gleichungen waren. Wir bewunderten die Wissenschaft der Architektur, denn sie greift auf dieselben Gesetze zurück, die den Lauf der Planeten bestimmen. Und wir fühlten uns so wohl auf dem Gipfel, dass uns oft erst das Morgengrauen vertrieb.“ (Seite 21)
Tessons Text lesen heißt, die Poesie und Kraft der Architektur unmittelbar zu erfahren. Gute Literatur über Architektur ist mehr als eine bloße Beschreibung ihrer Fassade und Funktion. Der Raum der Kathedrale steht bei Tesson im Bezug zum Raum der Umgebung und den geistigen und geistlichen Räumen, die sie öffnet. Insofern eroberte sich Tesson als junger Fassadenkletterer nicht nur die Bauwerke selbst, sondern mit ihnen zugleich deren Kontexte. So erwächst eine ganzheitliche Sicht. Das klingt sehr schön, sehr einfühlsam und zugleich sehr persönlich: „Ich dachte an das Genie jener Architekten, die die Wendeltreppe erfunden hatten. Ob sie die Natur beobachtet hatten, um ihre Entdeckung umsetzen zu können? Ließen sie sich von den Samen der Linde inspirieren, die von den Zweigen herabwirbeln? Nahmen sie sich ein Vorbild am Gehäuse der Schnecke? Vielleicht verkörperten sie ein Symbol, denn der Spirale eignet eine metaphysische Dimension. Jede Meditation verläuft spiralförmig: Das Denken kreist um sich selbst, versenkt sich langsam in den seelischen Tiefen.“ (Seite 45)
Über Architektur zu sprechen, über sie zu schreiben bedeutet, über die Welt nachzudenken. Doch so hoch hinauf es geht, so steil kann es auch hinab gehen. Vor ein paar Jahren stürzte Tesson schwer und musste erneut lernen, zu den Gipfeln, den Türmen der Kathedralen emporzustreben. Ein harter Weg, körperlich wie mental schmerzhaft, den er ungeschönt im zweiten Text beschreibt. Auch hier hilft ihm die Kathedrale, deren Türme er nun Stufe um Stufe mühsam wieder zu erklimmen lernt. Und dann, am 15. April 2019, brannte die Kathedrale, ihr mittelalterlicher Dachstuhl, „der Wald“, wie er bezeichnet wird. Die Dachspitze, die Violett-le-Duc der alten Dame im 19. Jahrhundert aufgesetzt hatte, stürzte hinab. Für Tesson ist das in seinem dritten Text Bild und Sinnbild in einem: „Künftig leben wir mit dem klaffenden Loch. Wir sind nachdenklich geworden. Was ist das für eine Epoche, die den Menschen erweitern will, ohne seine Schreine zu bewahren? Was ist das für eine Ignoranz? Das kann die Moderne doch nicht ernst meinen! Warum sind wir keine besseren Bewahrer? Was bedeutet dieser Einsturz?“
Warum sind wir keinen besseren Bewahrer?
Ja, das ist die fundamentale Frage, die uns bewegen sollte. In der Architektur. Im Umgang mit der Natur. Im Leben. Tessons Nachdenklichkeit ist ein ebenso großes Geschenk wie seine Begeisterung. Ein Geschenk, wie diese ganze, kleine, großartige poetische Textsammlung, die Literatur und Architektur, Stadt und Selbst miteinander verwebt. Wenn nur ein Absatz von all dem bleiben dürfte, dann wäre es für mich jene Sentenz, mit der Tesson seinen zweiten Beitrag einleitet und die sich als eine Anleitung zum Leben wie zur Kultur des Bauens entpuppt: „Man entdeckt zu spät, was man vor Augen hat. Das Leben vergeht, das Offenkundige entgeht uns.“ Es ist hohe Zeit, dies schleunigst zu ändern.