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Klassiker des 20. Jahrhunderts | Leopold Wiel und Bruno Flierl


Leopold Wiel ist über 100 Jahre alt, Bruno Flierl wurde gerade 90. Zwei neue Bücher würdigen die Autoren von Klassikern der Baukonstruktion und der Architekturtheorie beziehungsweise -kritik im Kontext (ost-)deutscher Architekturgeschichte.


Leopold Wiel – in Dresden

Wieder eine dieser typisch deutsch-deutschen Geschichten: Während im Westen mit dem Namen so gut wie niemand etwas anzufangen weiß, hatte im Osten ab 1967 buchstäblich jeder Architekt mit dessen Hauptwerk irgendwann zu tun: Die Rede ist von Leopold Wiel und dessen Lehrbuch „Baukonstruktionen des Wohnungsbaues“. Hatte zwölf Auflagen bis 1990 und lag neben jedem DDR-Reißbrett griffbereit. „Der Wiel“ eben.

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„Der Wiel“ in seinen Ausgaben 1971, 1975 und 1981 erinnert an den „Neufert“.

Leopold Wiel (Jahrgang 1916) stammt aus Elberfeld, hatte zu Schulze-Naumburgs Zeiten in Weimar studiert, war nach dem Krieg dorthin zurückgekehrt und von Hermann Henselmann bald in den Hochschulbetrieb aufgenommen worden. 1951 folgte er einem Ruf an die damalige TH Dresden, wo er seine wesentlichen Berufsjahre als Professor wirkte und – Achtung, jetzt kommt‘s! – wo er bis heute lebt. Ja, Leopold Wiel konnte im vergangenen Mai seinen 100. Geburtstag feiern, weshalb zahlreiche (nicht nur sächsische) Kollegen und einstige Schüler sich Ende November mit ihm zum Festkolloquium versammelten. Da lag dann auch das eigentliche Geschenk für den Jubilar vor: „Das Buch zum ‚Wiel‘“.


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Susann Buttolo für Stiftung Sächsischer Architekten (Hrsg.): Das Buch zum »Wiel«. Leopold Wiel zum Hundertsten. Sandstein-Verlag Dresden 2017. 192 Seiten, 233 Abb. ISBN 978-3-95498-234-9. 28 Euro

Im Auftrag der Stiftung Sächsischer Architekten hat die Bauhistorikerin Susann Buttolo die Lebenslinien des einflussreichen Hochschullehrers nachgezeichnet. Mit Zeichnungsblättern reich illustriert, wird besonders sein Engagement in der erst gesamt-, dann konträrdeutschen Normungsdebatte gewürdigt. Als in der DDR die DIN-Normen durch TGL-Vorschriften abgelöst waren, verfasste Wiel seinen „Klassiker“, das Handbuch der Baukonstruktionen. Es folgten Experimente mit variablen Montagebausystemen, leider war deren strukturelle Vielfalt gegen die Monotonie der WBS70-Typenserien am Ende nicht durchzusetzen. Dafür dann aber: Wiel und Weimar! Als es dort ab Mitte der 1960er Jahre um Planungen für den zerstörten Marktplatz ging, focht er vehement für die Rekonstruktion einiger Schlüsselbauten – was dem bekennenden Modernisten sicher einige Selbstüberwindung abverlangte, für die Stadt aber schließlich klar zum Gewinn wurde.
Den meisten Raum (und fühlbar die heftigste Emphase) nehmen im Buch natürlich Dresdner Angelegenheiten ein, denen der renommierte Herr Professor nie aus dem Wege ging. Während er sich im Kampf gegen den Abriss der Sophienkirche oder bei seiner Kritik am urbanistischen Konzept der Prager Straße vergeblich verausgabte, hat er in einem Fall doch schließlich Baugeschichte geschrieben. Gemeint ist der jahrlange Streit um die Stadtkrone Dresdens, zweifellos eine der spannendsten, bildkräftigsten und folgenreichsten Geschichten der ostdeutschen Nachkriegsarchitektur. Nach heute kaum noch vorstellbaren Diskursquerelen und mehreren Wettbewerben war es Leopold Wiels mutiger Flachkuppelentwurf, der 1959 am Altmarkt die Weichen zur „politisch-ästhetische Wende“ stellte: Anstelle des bis dahin geforderten Hochhauses war der Weg plötzlich frei für den breit ausladenden Kulturpalast, den Wolfgang Hänsch dann als Dresdens unbestrittenen Vorzeigebau der Spätmoderne realisierte (und dessen ausgeklügelter Mehrzwecksaal soeben durch Umbau zum reinen Konzerthaus zerstört worden ist).
Gemessen an der einleuchtenden Gliederung, der reichen Materialauswahl und dem gut tarierten Zusammenspiel von Bild und Text setzt diese Biographie Maßstäbe. Sie ist eben keine jener in Leinen gebundenen Dissertationen, sondern eine Festschrift im besten Sinn: Die dabei gewesen sind, werden in Erinnerungen schwelgen. Alle übrigen erfahren immer noch jede Menge handfeste Neuigkeiten aus dem nach wie vor „unbekannten Land“.



Bruno Flierl – in Berlin

In Erinnerungen kräftig geschwelgt wurde am vergangenen Sonntag (5. Februar 2017) auch in Berlin. Dort hatte die Akademie der Künste zu einer festlichen Matinee in ihre gläsernen Partyetage unterm Dach geladen, um ebenfalls einen „Altmeister“ zu feiern. Bruno Flierl ist 90 geworden! Man sieht dem agilen, oft verschmitzten und stets druckreif redenden Grandseigneur der ostdeutschen Architekturtheorie und -kritik die Jahrzehnte nicht an. Was er aber, buchstäblich ein Jahrhundertzeuge („Leben in drei Gesellschaften“ heißt seine Autobiografie), alles hat wegstecken müssen, wissen nur enge Wegbegleiter. Weit über hundert waren nun gekommen, eine Wiedersehensparty von Freunden, Kollegen und bekennenden Schülern, von denen manchem auch als Ostler im Nachwendeland die eine oder andere Karriere gelungen ist. Und irgendwie fiel das Gratulationsfest doch aus üblichen Routinen – wo erlebt man schließlich sonst, dass von einer langen Rednerliste (sieben Institute, Hochschulen, Verbände und die Akademie fungierten als Veranstalter!) nahezu alle Laudatoren den zu Ehrenden freundlich-vertraulich mit Du anreden, zwei amtierende Senatoren der Landesregierung inklusive.


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Bruno Flierl: Architekturtheorie und Architekturkritik. Texte aus sechs Jahrzehnten DOM publishers Berlin 2017. 224 Seiten, 60 Abb., ISBN 978-3-86922-585-2. 28 Euro

Als schöne Überraschung hatte Philipp Meuser von DOM publishers pünktlich zum Termin druckfrische Exemplare der neuesten Flierl-Edition mitgebracht, „Texte aus sechs Jahrzehnten“ vom Autor selbst zusammengestellt, um nachkommenden Lesergenerationen einen Eindruck von den höchst unterschiedlichen Denkansätzen zu Architektur, Stadtentwicklung und Gesellschaft unter realsozialistischen wie realkapitalistischen Vorzeichen zu vermitteln. Da zeigen sich ältere Texte – der früheste ist von 1968 – aus heutiger Sicht sprachlich manchmal etwas sperrig, was wohl der nötigen Umsicht beim Schreiben unter Zensurdrohung geschuldet ist. Die Diskrepanz zwischen hinreißend freier Rede und kanzleifesten Wendungen beim gedruckten Wort hat Flierls öffentliches Wirken ein Leben lang begleitet, die Resonanz seiner Ideen, Thesen und Interventionen allerdings nie geschmälert.
Im heutigen Anhang eines großen Aufsatzes von 1993 über „Planer und Architekten im Staatssozialismus der DDR“ benennt er eine besondere Erfahrung auch all jener Kollegen, die hier in Berlin versammelt waren: Sie hätten, schreibt er, in der DDR „die Illusion vom Glück des Plans und zugleich die Hoffnung auf kreative Kollektivität“ verloren. Heute nun kämen ihnen „die Illusion vom Glück der Marktes und die Hoffnung auf kreative Individualität“ abhanden. Typisch, wie er darob nicht in Trübsal verfällt: „Durch eigene Erfahrung kritischer geworden, sind sie – womöglich eher als ihre Kollegen aus der alten Bundesrepublik – dazu prädestiniert, Ähnlichkeiten und Unterschiede beider Gesellschaften zu erkennen und die Frage nach dem Anderswerden von Städtebau und Architektur auch als Frage nach dem Anderswerden der Gesellschaft zu stellen.“ So viel dialektische Unerschrockenheit muss wahrscheinlich sein, damit einer neunzig werden kann.


Außerdem zum Thema Nachkriegsmoderne in der ehemaligen DDR:


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Mark Escherich (Hrsg.): Denkmal Ost-Moderne II. Denkmalpflegerische Praxis der Nachkriegsmoderne. 288 Seiten, Jovis Verlag, Berlin 2016. ISBN 978-3-86859-143-9, 34,80 Euro

Diese Tagungsdokumentation versammelt Forschungsergebnisse zu Inventarisierung und Schutz, Erhalt und Sanierungspraxis und Erkenntnisse zu einzelnen, konkreten Zwischenbilanzen aus Rostock, Leipzig, Chemnitz und Dresden.