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Alt ist das neue Neu

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Gewinner des diesjährigen Schinkel-Preises in der Sparte Städtebau: Jan Tondera, Daniel Klaus, Chris Philipp (Hochschule für Technik, Stuttgart). Gesucht waren Ideen für das Areal der ehemaligen Futterphosphatfabrik in Rüdersdorf. Weitere Inforamtion zum Preis >>>

Neue Großprojekte (IV) | Wenig kommentiert und beachtet: Der Bericht des Weltklimarats, der Ende Februar vorgestellt wurde, zeichnet ein düsteres Zukunftsbild. Für das Bauen heißt das: Neubau muss die Ausnahme werden. Denn noch werden im Bauen in Deutschland je Person und Jahr 2,5 Tonnen Bauschutt produziert. Der Bestand ist die immer noch missachtete Ressource – auch eine kulturelle, die wir mit Gewinn nutzen können.

Manchmal scheint es, als habe sich Torschlusspanik breit gemacht. Schnell noch abreißen, bevor sich diejenigen durchsetzen, die fordern, vor jeden Abriss höhere Hürden zu setzen – und solange man noch davon profitiert, dass Förderpolitik nach wie vor immer noch den Bestand gegenüber dem Neubau benachteiligt und im Neubau das gefördert wird, was ohnehin Stand der Technik ist. Zukünftig solle aber Abriss immer genehmigt werden müssen, fordern etwa die Architects for Future. Denn: »Abriss ist bis dato in den meisten Fällen genehmigungsfrei. Es findet keine Prüfung statt, ob wertvolle – sanierungsfähige – Bausubstanz abgerissen wird. Unter Betrachtung des Energieaufwands und der Emissionen über den gesamten Lebenszyklus eines Gebäudes (Herstellung, Betrieb, Rückbau) sind Sanierungen im Vergleich zu Abriss und Neubau fast ausnahmslos zu bevorzugen.« (1) Statt dessen sind wir fast täglich mit Meldungen konfrontiert, die den tatsächlichen, drohenden oder diskutierten Abriss von wertvollen Bauten zum Inhalt haben. Das Studentenheim an der Billwiese in Hamburg, Baujahr 1965, unter Denkmalschutz, von Heinz Graaf und Peter P. Schweger. Die Stadthalle Braunschweig, 1965, unter Denkmalschutz, von Heido Stumpf und Peter Voigtländer. In Köln will sein Eigentümer das Karstadt-Gebäude an der Breite Straße abreißen. In Berlin soll das Cantian-Stadtion nun doch abgerissen werden (mehr dazu demnächst). Dem gegenüber stehen die ermutigenden Erfolgsmeldungen – wie etwa der, dass das Potsdamer Rechenzentrum nun doch erhalten bleibt. Aber gerade dass dies als Erfolgsmeldung empfunden wird, zeigt, dass der Erhalt nicht selbstverständlich ist. Wie in Potsdam ist ein solcher Erfolg das Verdienst einer Reihe von Menschen, die viel Energie darauf verwenden müssen, um einen Abriss zu verhindern. Oftmals ohne dafür honoriert zu werden. Ehrenamtlich. Verkehrte Welt.

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Bild: Christian Holl

Kreislaufwirtschaft heißt: Stehen lassen

Und dabei ist noch nicht darüber gesprochen, was sonst so abgerissen wird: jenseits von Denkmalschutz, jenseits des Verteidigens von Raum für Nutzungen, die nicht die maximalen Gewinne und Renditen versprechen. In den Jahren 2015 bis 19 wurden, so ermittelten es die Architects for Future, »im Jahr durchschnittlich rund 1,9 Mio. Quadratmeter Wohnfläche und 7,5 Mio Quadratmeter Nutzfläche abgerissen – ohne Prüfung, ob das Vorhandene als Gebäude insgesamt oder zumindest einzelne seiner Bauteile weiter genutzt werden können. Vorhandene Potenziale für ein Weiterbauen und Weiternutzen werden nicht ausgeschöpft.« (2)

Es ist noch viel zu tun. Auch das neue Ideal Kreislaufwirtschaft kann erst dann eine Hilfe werden, wenn zwischen Recycling und Downceycling deutlich unterschieden wird. Die hohen Receyclinquoten, die die EU anstrebt, sind deswegen vorerst mit Vorsicht zu betrachten. Angesprochen darauf etwa, dass 2027 Nichtwohngebäude ab 2000 Quadratmetern eine Receylingquote von 70 Prozent erfüllen müssten, meinte Annette Hillebrandt, die an der Universität Wuppertal unterrichtet und deren Forschungsschwerpunkte Urban Mining und Stoffkreisläufe in der Architektur sind: Solange nicht zwischen Re- und Downceycling unterschieden werde, »kriegen wir die 70 Prozent locker hin.« (3)

Es mag Hoffnung geben, dass inzwischen die ersten Neubauten unter der Flagge des kreislauffähigen Bauens segeln. Allerdings sind sie bestenfalls einen kleiner Teil einer möglichen Lösung, weil sie die Frage unberücksichtigt lassen, wie mit dem Bestand umzugehen ist: 85 Prozent der Gebäude von heute werden 2050 noch stehen. (4) Der Glanz neuer kreislauffähiger Bauten stärkt den Glauben, es könnte genügen, irgendwann anfangen, anders zu bauen, aber neu – in diesem Fall eben zur Abwechslung kreislauffähig. Das ist ein wichtiger Fortschritt, man sollte ihn aber präzise einordnen. Die Wirkung solcher Bauten bleibt in der Menge der Neubauten vorerst mehr Appell. Und noch ist mit ihnen nur ein Potenzial eröffnet, ein Versprechen gemacht, das dann andere erst werden einlösen müssen.

Wenn wir Kreislaufwirtschaft aber wirklich ernst nehmen, heißt das nicht in erster Linie, neue Häuser so zu bauen, dass deren Bauteile irgendwann einmal wieder verwendet werden können, es heißt auch nicht zu suggerieren, es gelte, den Bestand und das Baumaterial auf das hin zu untersuchen, wie man daraus am besten etwas Neues entwickeln könnte. Wirklich im Sinne der Kreislaufwirtschaft zu denken, hieße nicht, aus dem Abriss eine Tetris-Aufgabe zu machen, die zeigt, wie möglichst viel aus einem Abriss in neuen Bauten wiederverwendet werden kann, sondern schlicht und ergreifend einfach erst einmal so viel wie möglich stehen zu lassen. Denn viele der im Bau verwendeten Materialien und Produkte, allen voran Beton, lassen sich eigentlich nur dann auf der gleichen Qualitätsstufe erhalten, also ohne erneute Zufuhr von Wasser, Energie und weiteres Material wie Bindemittel, wenn das Gebäude, für das sie verwendet wurden, erhalten bleibt. Mit anderen Worten: Das neue Ideal der Kreislaufwirtschaft erlaubt es uns gerade nicht, unserem ständigen, künstlich angeheizten Bedarf nach Neuem weiter nachzugeben. Es entbindet uns im Bauen gerade nicht davon, dem Bestand eine sehr viel höhere Aufmerksamkeit zu schenken, als das derzeit der Fall ist. Andersherum wird ein Schuh draus: Erst im Bauen im Bestand wird sich das Denken in Kreisläufen, durch Ergänzungen, Umbauten, Anpassungen bewähren müssen und können – und dort ist es Teil der großem Herausforderung, vor der wir stehen.

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Bild: Christian Holl

Kreativität ist gefragt

Wir sind aufgefordert, zumindest gemessen an der Praxis der letzten Jahrzehnte, tatsächlich Neues zu leisten: nämlich das Neue als eine stetige Aneignung und Anverwandlung der bestehenden Bausubstanz zu verstehen. Und das gilt vor allem für die Bauten, die der Hochachtung nicht würdig erscheinen: den Alltagsbauten vom Einfamilienhaus bis zum Parkhaus, vom Supermarkt bis zum Shoppingcenter, von der einfachen Lagerhalle bis zur Fabrik, vom Wohnungsbau der Nachkriegsmoderne einschließlich der Großwohnsiedlungen bis zu Kindergärten, Schulen, Gemeindehäusern.

Das kann nur gelingen, wenn die Bewahrung des Bestands nicht ausschließlich als eine technische verstanden wird. Wenn die Argumente für den Bestand nicht mehr das zähneknirschende Eingeständnis ist, dass ein Neubau das eigentlich wünschenswerte sei – wie oft ist die Begründung für den Abriss, die dass der Bestand »einfach nicht mehr zeitgemäß ist«, wie das im Fall des Studentenwohnheims Billwiese zu lesen war. Am Ende sind es Denkfaulheit und mangelnde Fantasie, die neben den Kosten den Abriss forcieren. Eine Umbauordnung, eine andere Förderpolitik, einfachere Abschreibemöglichkeiten für die Sanierung, deren großzügigere Förderung – es gilt dringend umzusteuern. Das ist das eine. (5)

Die Aufgabe, die sich stellt, ist aber auch eine nicht zu unterschätzende kulturelle Herausforderung. Das vermeintlich Belanglose wertschätzen lernen: Ein Großprojekt, das nicht in erster Linie als technisches, als technokratisches verstanden werden darf. Ein Großprojekt, das gerade nicht als eines der schematischen Musterlösungen verstanden werden darf, die mit standardisierten Modellen über das hinweggeht, was den Bestand und dessen sozialen Wert ausmacht. Das erforderte, wie es Niloufar Tajeri beschrieben hatte, »präzise entwickelte Entwurfstaktiken, die mit den konstruktiven Eigenheiten des Bestands arbeiten und dessen Anpassungsfähigkeiten offenbaren – keine schematische Durchführung, sondern die Analyse des Objekts und der finanziellen Anforderungen der Bewohner im Einklang mit deren Wohnbedürfnissen.« (6) Nur so kann  Sanierung mit sozial verantwortlicher Vermietungspraxis und energetische Ertüchtigung mit bezahlbarem Wohnraum in Einklang gebracht werden.

Es geht nicht mehr darum zu fragen, was man haben will, sondern darum, was man mit dem machen kann, was es gibt.

Das kulturelle Großprojekt besteht dabei darin, eine Sicht auf den Bestand und ein Verhältnis zu ihm zu gewinnen, das nicht länger mit dem Gegenüber des Alten und des Neuen arbeitet, das eine an dem anderen misst, oder auch, wie es Boris Groys dargestellt hatte, das Neue dadurch ermöglicht, dass das Alte konserviert wird. (7) Den Bestand als ein zu bewahrendes Zeugnis zu bewerten – das sollte weiterhin nur die wichtige Ausnahme bleiben. Wenn daran aber der gesamte Bestand gemessen wird, wird er nur abgewertet: zu leicht lässt er sich als eben nicht notwendigerweise zu bewahrendes Zeugnis einstufen. Vielmehr gilt es, die Architektur der übergroßen Menge des Bestands nicht als eine fixierte Aussage zu verstehen, die nicht verändert werden darf, und die nur dann einen Wert für die Gegenwart hat, weil sie uns etwas über die Geschichte und den Weg erzählt, auf dem wir in das Heute gelangt sind. Dies blockiert den Umgang mit dem Bestand mehr als dass es ihn kreativ befeuert. Architektur muss vielmehr als bislang als ein offenes System mit einem Sortiment immer wieder neu arrangierbarer Elemente verstanden werden, denn als eine zu einem unveränderlichen Werk komponierte Einheit, deren nachträgliche Veränderung prinzipiell des Qualitätsverlusts verdächtig ist. Es geht nicht mehr darum zu fragen, was man haben will, sondern darum, was man mit dem machen kann, was es gibt. Mit kleinen Eingriffen. Mit präzisen Interventionen. Mit originellen Ideen. Gefragt ist echte Kreativität.

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Bild: Christian Holl

Es gibt viel zu gewinnen

Das ist eine Herausforderung für das Selbstbild der Architekt:innen und kann genausowenig wie die Modernisierungspraxis im Wohnungsbau mit schematischen Modellen bewältigt werden. Wenn Architekt:innen nicht mehr vermeintlich »zeitlose« Werke meinen schaffen zu müssen, die keiner Veränderung bedürfen, ist das eine ungeheure Chance. Sie erlaubt es, die Fülle des Bestehenden als Ausdrucksmittel zu nutzen, daraus Ornamente zu entwickeln, neue Kombinationen zu wagen, die sich die Entwerfenden wegen des Zwangs, zeitlos sein zu müssen, versagen, weil sie zu modisch sein könnten – wenn ich auf den Bestand zurückgreife, erübrigt sich dies. Es »braucht den Architekten vom Typus des Konventionen perforierenden Bastlers.« (8) Mit dem Schwerpunkt auf dem Bestand könnte die Architektur lebendiger werden, an Ausdrucksmöglichkeiten gewinnen und Architekt:innen müsste die Veränderungen durch Nutzer:innen nicht als Beschädigung verstehen, sondern als das Fortführen des Potenzials, das ihnen die Architektur eröffnet.

Es »braucht den Architekten vom Typus des Konventionen perforierenden Bastlers.« Gerrit Confurius

Letztlich hieße das aber nichts anderes, als dass man die enge und Verknüpfung von Form und Qualität aufgeben müsste, die die Diskussionen von Architektur und Städtebau schon seit Langem so quälend und ermüdend macht. Die Entweder-Oder-Diskussionen, in denen bestimmten Architekturformen prinzipiell Wertschätzung verweigert und sie anderen ebenso vorurteilsvoll zugestanden wird, geht an der Herausforderung des Bestands kilometerweit vorbei. In welchem Stil und mit welcher formalen Präferenz ein Gebäude errichtet wurde, welcher Stadtvorstellung ein Quartier folgt, kann keine Basis für die Frage sein, wie man seine Qualität beurteilt. Eine vorurteilslose Akzeptanz alles Gebauten, die eine neugierige und erfindungsreiche Reise anstößt, wie bestehende Qualitäten gesichert und neue mit möglichst wenig Materialeinsatz gewonnen werden können, ist die Basis dafür, den Bestand in all seinen Facetten zur Leitlinie auch zukünftiger Gestaltung zu machen. Es ist nicht länger der Sache dienlich, ein Modell der Vergangenheit als anderen überlegen zu bezeichnen. Wer heute noch daran festhält, die europäische Stadt auf einen eng umzirkelten Bereich der Gesamtstadt mit starren formalen Vorgaben zu reduzieren, hat die Aufgabe, die der Bestand in Gänze stellt, nicht verstanden: nicht nur, weil das den Zugang zum Umgang mit dem Bestand jenseits eigener Präferenzen einschränkt und blockiert. Sondern auch, weil sich eine Person mit dieser Haltung beständig weigert, die Logik und die Prozesse verstehen zu wollen, die zu anderen Formen und Organisation von Stadt geführt haben. So schränkt man nur die Möglichkeiten ein, mit ihnen einen produktiven und kreativen Umgang zu finden. So rechtfertigt man nur weiteren Abriss. Und letztlich werden die Menschen mit der Umgebung und den Häusern, in denen sie wohnen und heimisch sind, gleich ebenso pauschal mit abgewertet.

Die Chance besteht hingegen darin, neue Qualitäten zu entdecken. Aus dem Bestehenden etwas zu entwickeln, bedarf einer Zusammenarbeit vieler, es wird das handwerkliche Geschick fordern. Das Resultat ergibt sich in einem Prozess und aus dem, was verfügbar ist. Den Bestand zu erhalten, heißt auch zu akzeptieren, wie er im Laufe der Jahre angeeignet wurde. Auch Anbauten und Erweiterungen sind Bestand. Es wird unmöglich werden, die saubere Einheitlichkeit von Bauten herzustellen, die so oft als das Wünschenswerte dargestellt wird – und so oft so langweilig ist.

Mit Neubauten ist die Kontrolle dessen, was in ihnen und um sie herum passiert, vermeintlich einfacher: Es sind Bauten und Areale, die auf eine Nutzung optimiert sind, die in ihnen zunächst auch stattfindet. Sie ordnet den Menschen einer durch die Architektur strukturierten Handlungs- und Bewegungsvorstellung unter (die von den Nutzern:innen zu Beginn in den meisten Fällen auch so gewollt ist) – bis die Bauten Patina ansetzen, sich die Rahmenbedingungen, die Prämissen ändern, unter denen die Häuser gebaut worden ist und sich – und genau das ist die Qualität des Bestands – über die ursprüngliche Nutzung und Bauabsicht eine neue Nutzung oder eine neue Funktion legt, die jene produktiven Leerräume erzeugt, die die Planenden nicht vorsehen konnte. Dies als Qualität zu verstehen und darauf zu reagieren, ist nicht zuletzt eine Chance für Architekt:innen: Sie könnten sich mehr als es ihnen bei funktions- und nutzungsoptimierten Neubauten gestattet wird, darauf konzentrieren, den Raum als eine eigene Qualität zu entwickeln, die Sensibilität für ihn zu fördern. Wenn das kein Gewinn ist.


Neue Großprojekte (I): Aufgeplatzte Nähte >>>
Neue Großprojekte (II): Berliner Ideologieen >>>
Neue Großprojekte (III): Ortsranderweiterung >>>


(1) Architects for Futurem e.V. (Hg.): Klimaneutrales bzw. klimapositives Bauen: Vorschläge für eine Muster(um)bauordnung, Bremen 2021. Zum Download >>>
(2) ebd.
(3) BDA Denklabor #23: Die Kreislaufwirtschaft zum Laufen bringen. 24. Februar 2022, >>> (ab 13:47)
(4) EU Gebäuderichtlinie >>>. Es wäre zu wünschen, dass deutlich mehr als 85 Prozent der Gebäude von heute 2050 noch stehen.
(5) siehe hierzu auch: BDA Bayern, »Die Abreißerei muss ein Ende haben«, Pressekonferenz am 7. März 2022, nachzuhören unter >>>
(6) Niloufar Tajeri: Fast unsichtbar. In: Christian Holl, Felix Nowak, Peter Schmal, Kai Vöckler (Hg.): Living the Region, Tübingen 2018, S. 204-215, hier S. 206
(7) Boris Groys: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie. München 1992
(8) Gerrit Confurius: Architektur und Baugeschichte. Der intellektuelle Ort der europäischen Baukunst. Bielefeld 2017, S. 102