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Mit Scheuklappen auf Durchzug


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Süddeutsche Zeitung, 2. November 2020

Stilkritik (95) | Die Lüftungsbranche hat alle Hände voll zu tun, besorgte Kommunen, Eltern und die große Politik zu beruhigen, dass von mechanischen Lüftungsanlagen auch zu Coronazeiten keine Gefahr ausgeht – im Gegenteil: Mit ihnen können die virenverseuchten Aerosole am effektivsten aus den Räumen verbannt werden. Nun beklagt Gerhard Matzig in der Süddeutschen Zeitung (2.11.2020) die verlorene Lufthoheit der Bewohnerinnen und Bewohner, weil sich die Fenster nicht mehr öffnen lassen. In seinem launig geschriebenen Artikel rechnet er dabei mit allerlei energieeffizienten Errungenschaften ab und stellt die ausgeklügelte Lüftungstechnik aufs Abstellgleis. Was bleibt von der Polemik nach dem Fakten-Check?


Derzeit weiß man ja gar nicht, welchen Artikel man zuerst lesen soll, beim alltäglichen Informationsritual! Sei es frühmorgens mit wuscheligem Kopf und der Tasse Kaffee in der Hand beim Zeitunglesen, später dann im Zug oder Bus zur Arbeit pendelnd und übers Smartphone wischend, oder schließlich abends, die schwere Entscheidung sehenden Auges zwischen Maischberger, Lanz oder Plaßberg. Hier Corona und Lockdown, dort der US-Wahlkrimi, Machtspiele in Belarus … Drosten, Lauterbach, Trump, Biden, Lukaschenko. Es brummt einem der Schädel … Schlagzeilen, Fallzahlen, Hochrechnungen – erklärt von Experten und kommentiert von Journalisten. Man sehnt sich ob der inflationären Mediendröhnung fast nach der dünnen Zeitung mit den großen Buchstaben und einfachen Wahrheiten … Nein! Es gibt schon genug Überforderte mit Hang zum Querdenken, man bleibe doch bitte beim gepflegten Nachdenken. Und so vertiefte ich mich auch am Montag, den 2. November, mit müden Augen in meine Süddeutsche, kämpfte mich von der Titelseite über die Seite 3 und den sich daran anschließenden wohlmeinenden Kommentaren durch bis zum Panorama. Und stutzte: Verlorene Lufthoheit? Es wütet Corona? Das Fenster geht nicht mehr auf? Wie jetzt?

Der Kampf um die Lufthoheit: Illüftinati

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Dass sich das Fenster zum Lüften öffnen lässt, war, ist und bleibt fester Bestandteil seiner Funktion für ein gesundes Raumklima. So ist das auch beim Passivhaus, auch bei automatisierter Lüftung. (Bild: Sebastian Schels für Florian Nagler Architekten, Forschungsbauten in Bad Aibling)

Nach dem dritten Absatz war der Kaffeepott vergessen, Gerhard Matzigs These über die verlorene Lufthoheit hatte mich in ihren Bann gezogen. Er wiederum zog für seine Befürchtung auf dem halbseitigen Artikel alle Register – weil das Glas der Fenster und Türen immer dicker werde, die Frischluftzufuhr immer automatisierter, ob in Bussen und Bahnen, in Wohnungen und Büros, verlören wir, bedroht von toxischen Aerosolen, die Lufthoheit über das Lüften. Die Fenster, sie gingen einfach nicht mehr auf, würden immer schwerer, windows seien manchmal schon fast walls – undurchdringlich. Man muss nicht unbedingt ein Architekturstudium hinter sich gebracht haben, um zu merken: Hier polemisiert ein Journalist (oder Architekturkritiker?), es erklärt kein Experte. Und so jagt Herr Matzig mit seiner wilden These durch den Artikel, watscht mal schnell die Energieeinsparverordnung (EnEV) und das Gebäudeenergiegesetz (GEG) ab, beklagt das Abtauchen der deutschen Lüftungskultur in die Server der Smarthomes beziehungsweise in die Automatik der Lüftungsanlagen.

So luftig und hell lebt es sich im befensterten Passivhaus – öffenbar, wohlgemerkt! Haus Spiegel in Fridingen; Architekt: Till Schaller, Allensbach. (Bild: Schaller Sternagel)

Blüchergleich erledigt er die Passivhäuser mit ihren „Festglasvarianten“ gleich mit, erinnert deren „Endarchitektur“ doch betrüblicherweise an Schießscharten oder Kanalabdeckungen. Und dann macht er sich noch Dan Brown zum Kampfgesellen, in dessen Thriller „Illuminati“ der Harvard-Professor Robert Langdon in einem riesigen gläsernen Büchertresor den Erstickungstod vor Augen hat, weil jemand die Frischluftzufuhr abgeschaltet und die Tür verrammelt hat. Wer den Film kennt, weiß, dass er sich nur retten konnte, indem er die stählernen Bücherregale gegen die Glaswand donnerte, die „wie von einer Kanonenkugel getroffen, explodierte (…)“. Matzig folgert als subtile Botschaft: Die Feder ist mächtiger als das Schwert. Im Kampf um die Lufthoheit. Mann oh Mann.


Fensterlüftung oder Lüftungsanlage – was ist effizienter?

Haus Spiegel in Fridingen; Architekt: Till Schaller, Allensbach

Auf geht’s. Und zwar so oft Bewohner und Bewohnerinnen wollen. Haus Spiegel, Architekt: Till Schaller. Bild: Schaller Sternagel

Schweißgebadet bringe ich die noch ausstehenden beiden Spalten hinter mich, in der er versöhnlich anerkennt, dass die Automatisierung des Lüftens ja eigentlich zu begrüßen wäre, sodenn man geeignete Filter verwendete. Es fehle ja an der Zeit zum Lüften, und die Häuser wären ja immer besser abgedichtet. Ja logisch, wir wollen schließlich die Energieeffizienz unserer Gebäude verbessern, denn wir haben ja auch noch den Klimawandel zu bewältigen. Vergisst man leicht, in Anbetracht der steigenden Infektionszahlen und Trumps unverschämten Unverschämtheiten. Aber: Das Aerosol, es verflüchtigt sich nun mal nicht, wenn wir nicht lüften. Deshalb, so konkludiert Gerhard Matzig in seiner Philippika, „wünscht man sich Fenster, die leicht zu öffnen sind. Wann immer man mag“. Und mahnt zuguterletzt: „Das ist aber eine Idee, die man in modernen Verkehrsmitteln und modernen Häusern bisweilen selten findet.“

Raus mit den Viren – automatisiert und sensorgesteuert

Sodenn – was nun? Schiebefenster rein in den ICE, Dreh-Kipp-Fenster in Bus und U-Bahn, Festverglasungsverbot im Gebäudeenergiegesetz, Einscheibenverglasungspflicht für die Schießscharten kanaldeckelgedeckter Passivhäuser? Ich habe mich gefragt: Was will mir dieser mit polemischer Feder erkämpfte Beitrag erklären? Welches illuminative Geheimnis verbirgt sich zwischen den Zeilen? Warum schlägt der Artikel zu Scherben, was in mühevoller Überzeugungsarbeit geleistet wurde? Ja, es stimmt. Die virenverseuchten Aerosole müssen raus aus den Wohn-, Büro- und Schulräumen, auch und gerade jetzt, in der kalten Jahreszeit. Also, schlagen wir die festverglasten Scheiben ein!? Nein, wir lüften, so gut es eben geht. Entweder durch das kompromissbedingte Öffnen der Fenster (ja, die gibt es, Herr Matzig, sogar im Passivhaus!), oder das Einschalten der Lüftungsanlage, effizienterweise vollautomatisch und am besten sensorgesteuert vom Server im Smarthome.

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Plusenergieschule in Schmuttertal, 2016. Florian Nagler Architekten, München. (Bild: Carolin Hirschfeld)

Wenn ich mir indes die Bilder der zipfelbemützten und bemäntelten Schulkinder in den Klassenräumen so ansehe, dann bin ich heilfroh, wenn die Kommune auf die Passivhausbauweise gesetzt und moderne Lüftungsanlagen installiert hat. Und noch etwas Geld übrig hat, um in diesen Zeiten vielleicht etwas häufiger als üblich die Filter zu wechseln. Denn die gibt es – serienmäßig, wohlgemerkt. Last but not least: Die Sensoren sind weitaus zuverlässiger als die in der Not aufgestellten Lüftungsampeln.

Letzte Lösung: Das rote Hämmerchen

Ungeachtet dessen (unter-)titelt die Süddeutsche: „Ausgeklügelte Lüftungssysteme in Wohnhäusern – das alles war mal modern.“ Ich würde stilkritisch behaupten: Ganz im Gegenteil! Die Technologie war noch nie so notwendig und hilfreich wie heute, im Auge des Pandemie-Tornados. Und wer möchte, kann ja trotzdem sein Fenster öffnen. Jederzeit. Sowohl im konventionellen EnEV-Häuschen als auch im energieeffizienten Passivhaus. Zugegeben, im ICE und im Flugzeug muss man dazu das rote Hämmerchen bemühen, aber dafür bekommen dann alle Mitreisenden mehr Frischluft um die Ohren, als ihnen lieb sein dürfte.